Frankfurter Allgemeine Zeitung - 10.03.2020

(Marcin) #1

FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG Feuilleton DIENSTAG, 10.MÄRZ 2020·NR.59·SEITE 11


Es wurde ausdrücklichein Fachmann
verlangt.Vor hundertJahren, am



  1. März1920, übersandte der Preußi-
    scheStaatskommissar für dieÜber-
    wachung der öffentlichen Ordnung
    demReichskanzler einen Bericht zum
    „Stand derRechtsbewegung“. Diese
    sei gedanklich gewappnetfür denFall
    des RücktrittsvonReichsfinanzminis-
    terErzberger: Ihre„Führer“ träten
    „mit der Ansicht hervor, dassesnot-
    wendig ist, dassdie Regierung, ohne
    Rücksicht auf die parteipolitische
    Lage, Männer zurRegierungsarbeit
    heranzieht, die ingenügenderverwal-
    tungsgemäßer und sonstiger prakti-
    scher Erfahrung die Gewähr für positi-
    ve Leistung bieten“. Die Pressekolpor-
    tierte, dasstatsächlicheine Kabinetts-
    umbildung unter Heranziehungvon
    „Fachleuten“ erwogenwerde.
    Die gleichgerichteteAnsicht, aller-
    dings mit ausdrücklicher Rücksicht
    auf die parteipolitische Lage, äußerte
    der thüringische AfD-Vorsitzende
    Björn Höcke fünf Tage nachder Land-
    tagswahlvom27. Oktober 2019 in
    einemSchreiben an seinen FDP-Kolle-
    genThomasKemmerich. Höcke bot
    CDU und FDP,„einevonunserenPar-
    teien gemeinsamgetragene Experten-
    regierung“ an. Große öffentlicheAuf-
    merksamkeit erhielt der Brief erst
    drei Monatespäter,nachdem sein
    Empfänger zum Ministerpräsidenten
    gewählt worden war. Nunfand ihn
    auchCaspar Hirschi, Professor für Ge-
    schichte an derUniversitätSt.Gallen,
    in seinem elektronischen Postfach
    vor, der wegenseines bei Matthes &
    SeitzverlegtenBuche s„Skandalexper-
    ten–Expertenskandale“ (F.A.Z.vom

  2. Oktober 2018) denStatus eines Ex-
    pertenfür Expertengenießt.Hirschi
    stelltediese Episode jetzt an den An-
    fang desVortrags, den er in Halle bei
    der Leopoldina, der deutschenNatio-
    nalen Akademie derWissenschaften,
    über den „politischen Antagonismus“
    von„Experten undPopulisten“ hielt.
    Soll man sichdarüberwundern,
    dassder ErzpopulistHöcke eineÜber-
    tragung der Macht im Land an Exper-
    tenins Spiel brachte, also an fachkun-
    digeSpezialisten, vondenen sichsei-
    ne Partei dochpartout nichts sagen
    lassen möchte,wenn esetwa ums
    Klima geht? Hirschi klassifizierte
    HöckesVorschlag als „Finte“.Wenn
    er damit ein MomentvonUnehrlich-
    keit benannte, sowollteernicht die
    Hypothese aufstellen, der Agitator
    und Gefühlspolitikerglaubegarnicht
    an wissenschaftlichen Sachverstand
    als Qualifikation für dieRegierungsge-
    schäfte.Die aus dem Obrigkeitsstaat
    überkommene Bereitschaft, Sachlich-
    keit und Parteizugehörigkeit in einen
    Gegensatzzubringen, istinDeutsch-
    land immer nochsostark,dassder
    RufnacheinerRegierung derFach-
    leutenicht in jedermanns Ohren un-
    seriös klingt.Das bewiesen einzelne
    älter eHerren aus dem Publikumin
    Halle mit kritischenNachfragen zu
    HirschisKommentierung derPolitik
    im Nachbarland Sachsen-Anhalt.
    Mit dem Begriff der Fintebezeich-
    nete Hirschi den Operationsmodusei-
    ner spielerischenPolitik,inder Taktik
    und Strategie zusammenfallen. Höcke
    durftebei Absendung des Briefsan
    Kemmerichkalkulieren, dassfür ihn
    die Sache nur gut ausgehenkonnte.
    Im wahrscheinlichenFall derAbleh-
    nung des Angebotskonnteerseinen
    GegnernVerratam„bürgerlichen“
    Primat des Sachverstandsvorwerfen.
    Im sehr unwahrscheinlichenFall der
    tatsächlichen Bildung einer Regie-
    rung ausParteilosen hätten diePartei-
    en ihreUnfähigkeit zurRegierungs-
    bildung und damit einen Hauptpunkt
    der Propaganda der AfD selbstratifi-
    ziert. Mit Kemmerichs Annahme der
    Wahl er gabsichfür Höcke der Glücks-
    fall, dassbeide Szenarien zusammen-
    trafen. In den 23Stundenvorder An-
    kündigung seines Rücktritts spielte
    Kemmerichöffentlich mit dem Ge-
    danken an die Berufungvonüberpar-
    teilichen Ministernals Ausweg.
    Vonder Finteist oftsynonym mit
    dem Bluffdie Rede, der auffliegen
    muss. Hirschi äußerte dieVermutung,
    dasssichinThüringen nichtgenug Ex-
    pertenvon HöckesGnadengefunden
    hätten. Er meinteWissenschaftler:In
    seinem Buchzeigt er,wie sichdas Rol-
    lenbild des Experten auf den öffent-
    lichsichtbaren prominentenWissen-
    schaftlerverengt hat.Vor hundertJah-
    rendürftedie Rechtsbewegung mit
    denFachleuten nochinerster Linie
    Beamtegemeint haben.Auch dieser
    Typus vonalternativemRegierungs-
    personal istinPerson vonHans-
    GeorgMaaßen indes wieder aktiv.
    Laut Hirschi darfman nicht darauf
    vertrauen, dass sichdie AfD mit un-
    sachlicher Kritik an derWissenschaft
    unglaubwürdiggemacht hat.Von der
    Wissenschaftwirddie Bereitstellung
    vonExpertise erwartet:Politikbera-
    tung isteine Aufgabe der Leopoldina.
    So warHirschis Lehreauchanden
    Gastgeber adressiert: Die Wissen-
    schaftmussetwas dafür tun, dassman
    sie nicht mit einem Sprachrohr derPo-
    litik verwechselt.Eine Expertenregie-
    rung sollteschon deshalb unverlo-
    ckend sein,weil Expertensichnorma-
    lerweise streiten. PATRICKBAHNERS


Ein unsportliches, schüchternes Kind
mitschlechten Schulnoten soll Chuck
Norris gewesensein.Als Erwachsener
tritt,hau tund schießt er dannalleszu-
sammen,was man ihm in denWegwirft.
Zwischendurchzeigterein seltsamge-
winnendes Lächeln. SeinImageüber-
wuchernWitze („ChuckNorriskann
gleichzeitig einenSchneemann ausRe-
genbauen,Coronaviren erwürgenund
die CDU zurechtbiegen“),die anstelle
diesesLächelns eherein Siegergrinsen
erwarten lassen.
Mit öligerÜberlegenheit aberwäre er
in seinerFernsehserie „Walker,Texas
Ranger“ (1993bis 2001) als Titelsuper-
polizistnicht weit gekommen.DennShe-
reeJ.Wilson, die in dieser Showdie Ver-
nunft verkör pert,hätt eihn sofort diszipli-
niert,warsie dochseit ihrerZeit als
AprilStevens in „Dallas“ dafür bekannt,
dass sie zu Männern nichtverschüchtert
emporblickt, sondernbei ihnenfür Ma-
nieren sorgt.In„Walker “wirktNorris,
alswären die kleinenWortwechsel mit
ihr,bei denen er sein Lächeln zeigen
kann,für ihn wieLuftholenwährendder
Akkordarbeit. SeineStimme wirddann
weich; allerdings brüllt er auch inFilmen
selten,die vonSchauspielernverlangen,
vorGewaltausbrüchen dümmstesZeug
zu äußernwie „Let’srock’n’ roll!“. Mit-
tenimGemetzelscheint er ofteherin
sich gekehrtund guckt, alswollte er sa-
gen: „Das istschon allessehr bedauerlich
hier.“
In derdenkmalschutzwürdigenGroß-
geschmacklosigkeit „The DeltaForce“
(1986) zum Beispiel, dievoneinerFlug-
zeugentführung durch arabische Tier-
menschenerzählt, wirkt derwortkarge
Mann,wenn er die Befehle seinesVor-
gesetzten Lee Marvin perFunk entgegen-
nimmt,nicht wieein eifrigerSchlächter,
sondernwie ein besorgterSteuerprüfer,
der sachdienlichstatt rachsüchtig aufdie
Fehler anderer blickt:Hier scheinteine
Unregelmäßigkeitvorzuliegen,wie bü-
geln wirdas aus?
Mit diesem Gestus macht er sogarda
eine gute Figur,wosein Totschläger-

nimbus nicht als Selbstverständlichkeit
strahlt,sondern der Sinnsuche aus-
gesetztwird, wiein „Sidekicks“(1992),
einerKampfsportkomödie, in der sich Jo-
nathan Brandis als asthmatischer Sech-
zehnjähriger aus seinem trüben Leben in
Tagträumeüber seinen bestenFreund
„ChuckNorris“ flücht et.Der echteNor-
risseilt sich,damit das Publikum diese
Träumeteilenkann,aus Hubschraubern
ins Klassenzimmer ab, überwältigt an
der Seitedes Knaben imweißenNinja-

kostüm feindliche Hundertschaften oder
tauchtschießend ausFlusswasser auf.
Stallone oder Schwarzeneggerhätten da-
bei wie weichgekochteNudeln ausgese-
hen;Norris machtFigur,erwachsen und
züchtig.
Diese eigenartigeGravi taszeichnet
scho nseinenallerersten seriösenFilm-
auftritt aus,der ih nnachflüchtigem Gast-
spielinder Dean-Martin-Klamotte „The
WreckingCrew“(1968)gleichmit einem
derGrößten derActionfilmgeschichte

konfrontiert, demunsterblichen Bruce
Lee. In „The Wayofthe Dragon“
(deutsch: „DieTodeskralle schlägtwie-
derzu“, 1972) spieltNorris den Amerika-
nerColt, der imAuftragder Mafia den
BeschützereinerDame inRombeseiti-
gensoll, eben BruceLee. AlsNorris aus
dem Flugzeug steigt, glattrasiert, mit
prächtigenKotelett en,inSonnenbrille
und herbstlichgetöntem Hemd, ge-
schiehtdas unterPaukenschlägen; dann
marschiertergeradewegs aufdie Kame-
ra zu und wirdsogroßdabei,dassnicht
sein Gesicht, sondernsein Hosenladen
schließlichdas Bild füllt.Wenndas keine
Filmkunstist,gibt’s keine Filmkunst.
Der Kampf, auf den derFilm hinausläuft,
geht in dieVollen :Der Amerikaner hat
Haa re auf demRücken wie auf derBrust,
Bruce Leegreifthinein,rupftsie ihm
vomLeib und pustetsie ausder Faust. Es
istnicht zufassen.
Erstmals begegnetwaren die beiden
einander fünf Jahre zuvor bei den„All
American Karate Championships“; Lee
wohnteals Zuschauer dem knappen Sieg
des Mittelgewichtlers Norris über den
Schwergewichtler Joe Lewisbei. Danach
stellteman Lee undNorris einandervor,
im Hotelbesprachen sie, wiesich Norris
erinnert,stundenlang dasWesentliche–
die Begegnung hat das Actionkinover-
ändert; damalswurde mitentschieden,
wie es heutebei James Bond und „Mis-
sion Impossible“ zugeht.
SindLeute wie Norris oder Lee aber
überhaupt Schauspieler odernich teher
Sportler, derenPosen undBewegungen
Kameras einzufangen gelern thaben?
Die Unterscheidung zwischen Sportund
Kunstist für die darstellendenKünste,
vorallem das Schauspiel undden Ge-
sang, der, beispielsweise imPopdiven-
fach,Stimmbänderals reine Muskeln
falschverstehenkann, etwasÄhnliches
wie beim Schreiben dieDifferenz zwi-
schen Dichtung undJournalismus. Ein
klugerMann ließ sicheinmal erzählen,
eineSchriftstellerin habe eineWeile auf
einem Bauernhofgelebtund das,wasihr
dortbegegnetsei, zu einemRomanver-
arbeitet,worauf dergescheite Hörer

fand: „Daskann kein Romanwerden,
wenn sieauf einem einzelnen Bauernhof
mitschreibt. Sie muss zehn Bauernhöfe
besuchen und sich dann imKopf einen
Romanbauernhofzusammenträumen,
sonstist es bloßeine Reportage.“Kunst,
soll das heißen, abstrahiertetwas, das
existie rt,zueinerIdee,auchwenn’s et-
wasKörperliches istwie im Sport.Chuck
Norris wartatsächlich zunächstAthlet–
bisihn in einemTurnier ein baumlanger
Kerl vermöbelte, der seineTrittekom-
mensah. Norris er kannte:SeineSpeziali-
täte nmachtenihn zu berechenbar;er
hatt esozusagen nur auf einemeinzigen
Bauernhofdas Treten gelernt.Nachder
Demütigunglegteersichein breiteres
Bewegungsspektrum zu,studierte beiFu-
mio DemuroKombinationenaus Bein-
undHandarbeit, ließ sichvon Tutamu
Oshima an Belastungsgrenzen treiben,
lerntebei JunChung,wie manLeutezu
Boden wirft,und beimKollegen AlTho-
mas neue Griffe,studierte Ringen, Bo-
xenund werweiß wasnoch, bis seine
Leiblichkeit einenfließendenCharakter
annahm, der die Sorte Selbstgestaltung
und Selbstinszenierung gestattete, die
man Schauspielerei nennt.
Norris, kein subtiler Denker und poli-
tisc hsogar einrechterSteinzeitmensch,
weiß, weil er aufdem beschriebenen
WegzuseinemFachgelangte,etwas, das
selbstGrößen wieMeryl S treepoder
JohnMalkovich nicht wissen unddas sie
auch nicht interessiert –sie glänzen mit
Fertigkeiten ausdem Repertoiredes Na-
turalismus; sie zeigen,wasMenschen so
allessind,vomNiedrigen bis zum Ho-
hen. Der SchauspieltypusNorris hinge-
genführtvor,was Menschen seinwollen,
aber nie seinwerden,unbesiegbarzum
Beispiel oder unbeeindruckbar.Realis-
mus und Naturalismus schenken der
Filmkunst Farben und Melodien,Körper-
können aber (nicht nur imActionkino,
auch in derKomik, vonChaplin über
Louis deFunès bisJim Carrey) versorgt
sie mit Rhythmen. ChuckNorrisist
Schlagzeuger. Ohneseinesgleichenkönn-
tenFilmenichttanzen.Heute wirder
achtzigJahrealt. DIETMARDATH

A


ls de rrussischeRegisseurKirill
Serebrenni kowvor drei Jahren
beschloss,das „Decamerone“
am Deutschen Theater auf die
Bühnezubringen, hätteman Boccaccios
Novellensammlung aus derZeit derPestepi-
demievon1348 wohl als Metapher für ein
KunstrefugiuminwidrigemUmfeld ver-
standen. Dann wurde Serebrennikow der
UnterschlagungstaatlicherFördermittelan-
geklagtund stand für anderthalb Jahreun-
terHausarrest ,sodassdas Projektverscho-
ben werden musste. Inzwischen wurde der
Hausarrest aufgehoben,nicht aber dasRei-
severbot,dochumnicht länger zuwarten,
probten die Schauspieler des Deutschen
Theaterskurzerhand mit Serebrennikow in
Moskau und brachten die deutsch-russi-
scheKoproduktionjustzum Ausbruchder
Corona-Epidemie in Berlin heraus. In Mos-
kau, wo die aus Deutschland heimkehren-
den russischenSchauspieler sichauf eine
zweiwöchigeQuarantänegefasstmachen
müssen, scherz eman über Serebrennikows
Sehergabe,verrät seine engsteMitarbeite-
rinAnna Schalaschowa, die selbstnicht
weiß,was nun aus den Gastspielverpflich-
tungen und demRepertoirebetrieb ihres
Gogol-Centerswird.
Das Stücküber das,wasdie Natur und
vorallem dieLiebe mitunsanstellt, istvon
bezaubernderKomik,aber auchtieftraurig,
poetischund bekenntnishaft.Serebrenni-
kow, der auchdas Bühnenbildgestaltet hat,
verlegt das Geschehen in einFitnessstudio
für alle Altersgruppen. Die Idee magihm
währen dseines Hausarrestsgekommen
sein, als er immerhin täglic hdas nahe sei-
ner Wohnunggelegene Schwimmbad besu-
chen durfte. Es istein Bild dafür,dassdie
Übungen in Selbstkasteiung undGebet, die
bei Boccaccio nochals Schlüssel zurUn-
sterblichkeitgalten ,inzwischenabgelöst
wurdenvoneiner Religion derFitness, die
auf ihreWeiseverspricht, mittels physi-
scherPlagendas Leben länger undbesser
zu machen.
Ausden hundertNovellenhat Serebren-
nikow zehn ausgewählt,kondensiertund
sie alsJahreszeitenzyklusangeordnet, der
auchein Lebenszyklus ist. Dassfünf deut-
sche Schauspielerdeutschsprechen und
fünfrussischerussisch–übersetzt durch
Übertitel und Leuchtschrift–,vergegenwär-
tigt nebenher diekulturell oder klassen-
bedingtenkommunikativenAbgründe zwi-
schenLiebespartnern. So wirdaus dem
StallknechtvonKönigAgilulf ausder zwei-
tenNovelle desdrittenTagesinder Ver-
körperung durch den phänomenalwandel-
barenFilippAvdeyevein sl awischer Ge-
flüchteter im Anorak,der mit seiner über-
bordendenGlut diemondän sichhinter
einerSonnenbrille verbergendeKönigin
(als hintergründige Gesellschaftslöwin:Re-
gine Zimmermann)inEkstase versetzt.
Der erste,mit Frühling und Sommer
überschriebeneTeil zelebriertdie Komödie
der Erotik. DieRolle der Geistlichen,von
denen man sichbei Boccaccio führen und
verführen lässt,wirdbei Serebrennikow
vonTrainern undPfleger nübernommen.
Dabeimussdie gereifte Almut Zilcher,die
eingangsfünfalteDamen schongymnas-
tis ch animiert,erleben, wieder Schönling
JeremyMockridge, dersichstrahlendauf
dem Gummiball produziert, die Lebens-
kräf te derSeniorinnen imNu auf Trab
bringt. Zilcher gibt danndieunbefriedigte
Gattin eines „Heiligen“ der sportlichen

Selbstüberforderung. MarcelKohler spielt
ihn als entsinnlichten Selbstoptimierer, der
sich, in Analogie zu seinemUrbild in der
viertenNovelle desdritten Tages, anTurn-
seilen in Kruzifixposition aufhängen lässt.
Dassder appetitliche Mockridgeals ihn an-
feuernder Guruihm dadurch ähnliche Freu-
den beschertwie seinerFrau als Liebhaber,

machen die rhythmischenLustschreie, die
Kohler und Zilcherintonieren, ohrenfällig.
Serebrennikow,der ein äußerst körperbe-
tontes Theater macht,veranschaulicht die
Machtder Liebephysiologisch-musika-
lisch. Die nurimbiologischenSinnemänn-
licheDiseuse Georgette Deesingt mit sinn-
lichem Zara-Leander-Baritonsuggestive

Liedeinlagen aufVersevon ElseLasker-
Schüler und Thomas Brasch, die entfessel-
tenGefühlen und dem Tier im Menschen
huldigen.Die Theatersprache istdabeiähn-
lich explizit undkeuschzugleichwie die
Prosa vonBoccaccio.Inder Episode mit
dem schmuckenTrainer, der nichtwagt,
sichmit de rFrauseinesChefs einzulassen,

brilliertdie Moskauer ChinesinYang Ge
als kupplerische Masseuse.Das Paar ver-
fällt aufden Zaubertrick, demGatteneine
VR-Brille aufzusetzen, um ihr wildes Lie-
besspielals seineWahnvisionwegzuerklä-
ren. Zimmermann und ihrrussischer Part-
nerGeorgiyKudren ko legen freilichvor
pulsierendem Computerfarbgewitter ein
akrobatisches Disco-Duett hin (in der elek-
trisierenden Choreographie vonEvgeny
Kulagin),das, untermaltvonden Lach-
salvender im Drehsessel kreiselndenYang
Ge,womöglich auchdie Wirklichkeits-
erweiterungsündiger Phantasie veran-
schaulicht.
Serebrennikow,der Motivevon Boccac-
cio weiterspinnt und zuspitzt, nennt sein
Stückauf Russisch„Herz“(Serdze).Denn
es is tdas Herz, das Gefühleverrät, brechen
undverhä rten kann. So rächt sichder einst
liebestolle undvon seiner Angebeteten in
derNetzöffentlichkeitgrausamverspott ete
Jüngling, indem er siedurch einenfalschen
Beautyb alsam online bloßstellt.Und das
Animalischewirdmit Beginn derKältesai-
son nach derPause zumWolf, der,wie
Georgette Deeineinemkraft-und angstvol-
len Serebrennikow-Textbeschwört,der un-
treuen, dabei aber ihren Mann belügenden
Frau symbolisch ihr Gesichtwegfrisst.

D

en „Herbst“, der die Erntevon
Liebesschuld und Verletzun-
geneinfährt,feierteine Horror-
showmit einemmythischen ja-
panischen Krieger alsWiedergänger ei-
nes unglücklichVerliebten, der dieFrau,
die ihn nicht erhörte,imGeisterreichver-
folgt und immer wieder durchbohrt. Die
gruselig-komische Vision, bei der aus
dem Offdie Elektrobassstimme des Krie-
gers dröhnt, der die schreiendeYang Ge
mit Lanzen aufspießt, erschreckt diekalt-
herzigeSchöne (furienhaft: AlexandraRe-
venko) dermaßen, dasssie den ihrverfal-
lenenund furchtbar aufdie Nerven gehen-
den Jüngling dochlieber heiratet.
Der dreistündigeAbend endetmit der
buchstäblichherzzerreißenden Geschich-
te einesVaters,der den Liebhaber seiner
Tocht er töte t. Serebrennikow verortet die-
ses Geschehenrussischund inszeniertes
als psychologisches Dramaingedehntem
Tempo. DervonOleg Gushchinverkörper-
te Patriarchist hier einverwitweter russi-
scher Militär,der,wie er in einer Art
Rechtfertigungsrede darlegt, Zimmer-
mann als sein musikbegeistertes Kind de
factogefangen setzt.Der ebenfalls ingro-
ber Soldatentracht auftretendeAvdeyev
istder Rekrut, der das Herzder Frau er-
obert, als beide auf dem Klavier Johannes
Brahms’ Gesängevon ewiger Liebe klim-
pern.AuchwiederjungeMannimGarni-
sonsgefängnis ums Lebenkommt, erzählt
GushchinsVaternachder Artder ver-
tuschtenTodesfälle in der Armee mit wi-
dersprüchlichen Befunden und ohne
Schuldigen. Als Aktväterlicher Liebes-
grausamkeit überreicht er derTocht er das
blutige Herzdes Getöte ten.
Auch für das Ende des Lebens gibt es
eineYoga-Position, die Shavasana- oder
Totenstellung,welcheKohler einnimmt,
bevorersichineiner leidenschaftlichen
Suadavonder Liebeverabschiedetund
wieder zu Boden sinkt.Statt seiner Seele
klettertder schöne nackteKudrenkohim-
melwärts. Das Publikum, das sichimers-
tenTeil königlichamüsierthatte, hält den
Ateman. Dann bricht der Jubel los, den
das Ensemble in „FreeKirill“-Hemden
entgegennimmt. KERSTINHOLM

EinS chauspielschlagzeuger


Katastrophenkörperkunst: Zumachtzigsten Geburtstagdes amerikanischenActionkinostars ChuckNorris


Will man nicht an der Tür:ChuckNorrisin„Code of Silence“, 1985 FotoPictureAlliance

Das verräterischeHerz


DaspassendeStückzur Epidemiewarschon seitdreiJahreninPlanung:


DerimmernochinRusslandfestgesetz te Kirill Serebrennikow inszeniert für


Berlin eineAktualisierung des „Decamerone“vonBoccaccio. Die Bezüge


zur Gegenwartgehenweitüber dasNaheliegende zumVirus hinaus.


Dies sieht nur die sündigePhantasie:Regine Zimmermann und GeorgiyKudrenko im Berliner „Decamerone“ FotoRiedl/dpa

Höckes


Methode


Caspar Hirschi spricht


in Halle über Experten


und Populisten

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