Frankfurter Allgemeine Zeitung - 10.03.2020

(Marcin) #1

SEITE 12·DIENSTAG, 10.MÄRZ 2020·NR. 59 Feuilleton FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG


Die indische Bevölkerungversucht sich
gerade vondem Schockblutiger hindu-
muslimischerKämpfe in Neu-Delhi zu
erholen. Mehr als fünfzig Menschen,
meistMuslime, wurden ermordet. Geg-
ner und Befürworter der neuenStaats-
bürgerschaftsgesetze (F.A.Z.vom17. Ja-
nuar) liefertensichtagelang Gefechte,
es gibt zerstörte Wohnviertelund zerris-
sene menschliche Beziehungen. Seit
1984, als Indira Gandhi ermordetwur-
de, hat die Hauptstadt solcheUnruhen
nicht erlebt.Und schon soll sichdas
Land auf die nächste schwereBelas-
tungsprobevorbereiten. Bisherhatdas
Coronoavirus nicht heftig auf Indien
übergegriffen. Zurzeit werden vonamt-
licher Seitenochweniger als vierzig Er-
kranktegemeldet,Todesfällegarkeine.
Das bevölkerungsstärkste Land der
Erde nachChina darfjedocheine dro-
hende Epidemie nicht demZufall über-
lassen. Seitgesternhörtdie gesamtete-
lefonvernarrteBevölkerung bei jedem
Anruf zunächst eine ausführliche Ansa-
ge,was man tun muss, um sichzuvor
Ansteckung schützen. Großveranstal-
tungen, besondersjene, die dieRegie-
rung unterstützt, werden gestrichen,
wasindieser Jahreszeit, dem indischen
Frühling, besondersbitter ist. Denn in
Stadt und DorffindengewöhnlichFrüh-
lingsjahrmärkte, sogenannte„Melas“,
undFestemit Tanz und Liedernstatt.
Die Menschen haben sichauf dieseVer-
gnügungengefreut, die bis MitteMärz
möglichsind. Danachdämpftdie zu-
nehmende Sommerhitze die Freude.
Große Sportveranstaltungen,etwa Kri-
cket-und Fußballturniere,finden zur
Zeit nochmit viel Publikumstatt. Zu
viel Geldsteht auf dem Spiel.
Die Bevölkerung istUnterbrechun-
gen, Verzögerungen, Generalstreiks,
Protestmärsche, sogarTerroranschläge
und Schwierigkeiten aller Artgewohnt,
so dassdiese neue Problemsituationzu-
nächstnicht zuPanik verleitet odergar
in eineexistentielle Krise führt. Der
Ernstder Situation wirdinden Städten
durchaus erkannt.Schutzmasken und
Desinfektionsmittel sind schon aus den
Drogerienverschwunden.Dochunter
der Dorfbevölkerung istkeine Alarm-
stimmungspürbar.Gerade sie istje-
doch, solltesichdas Virusausbreiten,
am meistenbedroht.Ist Seifezum Hän-
dewaschen in jeder Hüttevorhanden?
Wiekönnen dieFamilienmitgliederAb-
standvoneinanderwahren,wenn sie
SeiteanSeiteauf dem Boden schlafen?
Mankennt das Problem:Auchdie Ab-
sonderung vonTuberkulose-Kranken
istinDörfern oderstädtischen Slums
überaus problematisch.Wiekann man
Menschen zeigen, dassihr Atem un-
sichtbar Krankheiten enthält? Wie
kann man ihnen inkurzer Zeit Sinn für
Hygiene vermitteln? „Reinheit“ wird
vonIndernimAllgemeinenals rituelle
Reinheit verstanden oder bestenfalls
als Abwesenheitvon sichtbaremStaub
und Schmutz.
„Haltet Abstand voneinander!“,
warntdie Regierung. Premierminister

NarendraModiwillder ganzenWelt zei-
gen, wie das auf indischeWeise mög-
lichist:Statt sich, wie imWesten und in
verwestlichten Kreisen mit einem Hän-
deschütteln zu begrüßen, soll der altin-
dische Gruß, das „Namaste“, gebraucht
werden. Dabei legt man die Handflä-
chen vorder Brustzusammen undver-
neigt sichkurz.
VonNatur aus scheinenInder einge-
ringes Risikobewusstsein zu haben. Das
sieht man schon daran, wie sorglos
Jung und Alt über belebteStraßen ge-
hen, ohne nachrechts und linkszu
schauen. Das hatwohl damit zu tun,
wie die Menschen aufgewachsen sind.
Indische Kinderleben in einemPara-
dies familiärerFürs orge,die ein Behar-
renauf Verhaltensregeln nicht gut-
heißt.Kinder dürfentun, wassie wol-
len –und das tun die Menschen dann,
im Vertrauen auf den Schutz, den sie
als Kindergenießen durften, oftintui-
tiv bis ins Erwachsenenalter hinein.
Kein probates Mittel bei derAbwehr
einerEpidemie,dieDisziplinundVor-
sicht erfordert
Die letzteBedrohung diesesAusma-
ßes warinIndienvorzweiJahrzehnten
der Ausbruchvon Aids. Diese Krank-
heitwaraber besser einzuordnen: Sie
kamaus dem „bösenWesten“, der In-
dien schon die Kolonialisierung mit
Ausbeutung und Erniedrigung sowie
die Zerrüttung der Moral und manche
anderenÜbel bescherthatte–so die
pauschale Anschauung einergewissen
Bevölkerungsschicht.Herkunftund
Ausbreitungkönnen diesmalkeineVor-
urteile gegenüber demWesten aktivie-
ren. DasViruskommt eindeutigaus
dem Osten, vomgroßen Kontrahenten
China, mit dem Indien im wirtschaftli-
chen Wettkampfsteht, den das Land
verliert: China überschwemmt Indien
mit billigenKonsumgütern. Ein zyni-
scher Witz, der zurZeit dieRunde
macht,reflektiertdiese ambivalenteSi-
tuation: „Keine Angstvor dem Corona-
virus. Daskommt dochaus China!Wie
alles,wasaus Chinakommt,geht auch
das raschkaputt.“
Aids hatteman mancherorts als Got-
tesurteil gegendie „lockere westliche
Moral“ angesehen.Auchdiesmalwer-
den moralischeVorstellungen ins Spiel
kommen, denn Krankheit gilt allge-
mein in Indien, entsprechend demKar-
ma-Gesetz, alsStrafefür frühereTaten.
Ein unsichtbar sichausbreitendesVirus
bekommtgerade in diesem Land leicht
einen magischen Charakter.
Der frühere indische Premierminis-
terManmohan Singhwarnte in derTa-
geszeitung„The Hindu“voreiner tiefen
gesellschaftlichen Krise, die er auf drei
Indikatoren zurückführt: auf dasFeh-
len sozialer Harmoniezwischen Hin-
dus und Muslimen, auf langsames wirt-
schaftlichesWachstum und auf die sich
nun entfaltendegesundheitliche Bedro-
hung. Selbstwenn es, wie jeder hofft,
bei einergeringen AnzahlvonInfektio-
nen bleibe, schreibt Singh,werdedie
wirtschaftliche Auswirkung beträcht-
lichsein.

I


mmit 1250 Plätzen ausverkauften
„Salle JeanVilar“ desPariser „Théâ-
treNational de la Danse Chaillot“
am Trocadérowirdesstock dunkel
auf densteil ansteigenden Zuschauerrän-
gen. Jemand hustet.Nochjemandhustet
und niest.Dalacht und applaudiertdas Pu-
blikum im ganzen Saal, unbeeindruckt
vonder Bedrohung durch Covid-19.
Dann beginnt„Vessel“, das der Choreo-
graph Damien Jalet, seit dieser Saison„Ar-
tiste associé“ am Haus, in Japangeschaf-
fenhat und nun durch Europatourt. Elek-
tronischeStürme des jungen japanischen
Komponisten MarihikoHara durchwehen
das Haus, alswärenwir alle ausgesetzt auf
einem japanischen Bergund würdenZeu-
geneines buddhistischen Rituals.Wenn
sichder schwarzeVorhang hebt, irrlich-
tert einegeisterhafte Form über die Büh-
ne, wie eine Aura, eine inmysteriöseNe-
bel gehüllteInvasion. Wenn es heller
wird, zeigt sichder große kahle, vondunk-
len Vorhängen abgeschlossene Bühnen-
rauminseinerganzenSchönheit, knöchel-
tief unter dunklesWasser gesetzt .Kohei
Nawaheißt der jungejapanische Bild-
hauer,der diese Bühnenbildinstallation
für Jaletgeschaffenhat.SiebenTänzer be-
finden sichimWasser um die Insel herum.
Drei Paarehaben ihreGlieder so ineinan-
der verschränkt, dassihreKöpfenicht zu
sehen sind, allesamt nackt bis auf hautfar-

bene Slips. Dochwelches Geschlecht sie
haben, isthier ohne Bedeutung.
„Vessel“ bedeutetGefäß oder Boot. Um
das Übersetzenvoneiner Welt in dieande-
re geht eswährend der einenStunde, in
der manZeit undRaum, Umgebung und
allesvergisst.Esgeht um Geburtund Tod,
um Reinigung und Erneuerung. Dasstill
liegende, sichkaum kräuselnde und nur
selten durch raschereBewegungen der
Tänzer aufspritzendeWasser is tdie Flüs-
sigkeit,aus derdasLebenauf der Erde ent-
stand. Es istaber auchdas Wasser des Flus-
ses Styx, über den dieToteninihr Reichge-
langen. Es istinteressant, wie Jaletdas
tiefemenschliche Bedürfnis nachEinbin-
dung, Einübung insUnvermeidliche, in
einekünstlerische Erfahrungverwandelt.
Das Publikum schenkt allen auf der Büh-
ne lang anhaltenden, ernstenApplaus.
Die WerkeJalets lassen sichschwerka-
tegorisieren.Unddas schenkt paradoxer-
weise Hoffnung in einer für denTanz am-
bivalenten Situation. Denn der klassische
Tanz befindetsichineiner prekären Lage.
Zwar sind dieTänzer der Gegenwart tech-
nischvirtuoser als jede Generationvorih-
nen, aber esgelingt ihnenkaum, außer-
halb der Kreise, die sichfür das Ballett des
siebzehnten bis 21. Jahrhunderts interes-
sieren,wahrgenommen zuwerden. Wenn
die Öffentlichkeit Ausnahmenmacht,
dann für jemanden, dessen Leben außer-

halb der Ballettsäleund Opernhäuser
spektakulär erscheint:SergeiPolunin wird
porträtiert,weil er einesTages–damals
fast nochein Teenager und schon einStar
am RoyalBalletinLondon–spurlos aus
demStudioverschwand und sein Leben
danacheine ganze Weile so aussah, als
würde es sichimBetreiben einesTätowier-
ladens unddem Konsum illegaler Substan-
zen erschöpfen.
Umgekehrtproportional bewundert
wirdder zeitgenössischeTanz. Das Thea-
tertreffen in Berlin lädtTanz ein! DieKu-
rato render großenKunstausstellungenlie-
ben ihn!Tate Modern, die Biennalevon
Venedig oder die letzteDocumenta–über-
all erregenChoreographen wieWilliam
Forsythe oder Tino SehgalAufsehen. Hol-
lywood lässt seine digitalenFilmmonster
das Laufen bei zeitgenössischen Choreo-
graphen erlernen,Keira Knightleyoder
Tilda Swinton lernenvonden in vielen Be-
wegungskünstengeschultenTänzern. Be-
yoncé und Jay-Zdrehten ihrVideo „Ape-
shit“ 2018 im Louvreineiner Choreo-
graphie des BelgiersSidi Larbi Cherkaoui.
Es istkein Zufall, dassJalet, der inzwi-
schen ähnliche Erfolgeinder Kunst-,
Film-, Pop- und Theaterwelt feiertwie
Cherkaoui, einer vondessen engsten
künstlerischenWeggefährtenist.
Werüber den Einflussdes Tanzes auf
das Schauspiel, dasVerschwimmen der

Grenzen zwischen Theater,Performance,
bildender Kunstund Tanz nachdenkt,
über das Bild des menschlichenKörpers,
das in dieserKunstuntersucht,geprägt
undverändertwird, den mussdas Werk
Damien Jaletsfaszinieren. Mit Cherkaoui
zusammenchoreographierte er 2010 „Ba-
bel“ mit einer Installation des britischen
StarkünstlersAnton yGormley. Es istdas
StückunsererZeit, indem es den Einfluss
der Sprache auf unsereAuffassungvon
Identität,Nationalität undReligiosität un-
tersucht, in hinreißendenTanz und aber-
witzigeDialogeverpackt, berührend, iro-
nischund komplex.
„Vessel“stammt erkennbar aus dersel-
ben künstlerischen Hand. In derTatist es
kein Tanz, der um eine zu entwickelnde
Formensprachegetanzt wird; es istder
kraftgeladene, authentische,körperliche
Ausdruck, der Jalets Arbeit so interessant
und komplexmacht.„Vessel“ rührtdas Un-
bewusstean. Es erinnertunserKörper-
gedächtnis an die frühe Geschichte der
Menschheit, an Rituale, die uns mit der
Erde, derNatur verbinden, und miteinan-
der.Esdrückt unsereSehnsucht aus nach
einerWelt, dievonden schädlichen Ein-
flüssen des Menschen freiwäre.Esist spi-
rituell, denn es zeigtWesen, die eins sind
mit sichund ihremUrsprung. Es istfremd,
rätselhaft, poetisch. Das sind sehr viele
Eigenschaften, die das definieren,waswir
große Kunstnennen.

Androgyn istTrumpf beim neuenTanzabend imPariser ThéâtreChaillot:Die siebe nAkteur ein„ Vessel“ be wegensichauf einem dünnenWasserfilm. FotoThéâtreChaillot

Wirhatten uns schonfast darange-
wöhnt, dassdas Grüßen zunehmend le-
gererund distanzloser wird. Nicht nur
Freundegrüßen sichimmer mehr mit
Umarmungen, mal inniglich, mal herz-
lich, ein anderes Mal ehergespielt alsge-
meint.Der simple Wortgruß tut es
kaum noch, der Handschlag istStan-
dard.Unddie Bussi-Gesellschafterfor-
dertständigWangenküsse, mindestens
einmal, in der Schweiz oftsogar drei-
mal. Istdas nochangemessen inZeiten
des Coronavirus? Wo neben dem
Händewaschenvorallem Distanz zum
Nächsten angesagt ist?Wiewärees, da
für einmal den indischen Gruß, die An-
jali-Geste mitflachaufeinandergeleg-
tenHänden, zumVorbild zu nehmen?
Nur, wasbedeutetdieser berührungs-
lose Gruß, der für Indien stehtwie
Curry oderYoga?Zwarheißt es in indi-
schen Kreisen, sprichForen, dassdiese
Geste dieVereinigung vonlinksund
rech ts, Mann undFrau oder Ähnliches
meine. Dochsolche Auslegungen tref-
fenkaum auf dasrituelle Grüßen und
im Grunde auchnicht auf den Alltags-
gruß zu. Sie sind sinnüberfrachtet,weil
es den Menschen nun mal nachSinn
drängt.Aber wermeint tatsächlichden
lieben Gott,wenn er mit„Grüß Gott“sa-
lutiert?Werdenkt an Essen,wenn der
Kollegeeinem „Mahlzeit“ zuruft? Die
Grußgesten, darin sind sie Ritualen
gleich, haben eher eine sozialeoder
kommunikativeFunktionals tiefeBe-
deutung.Deshalb hat derkanadischeSo-
ziologeErving Goffman solcheTechni-
kender Imagepflegeals Interaktions-
rituale–soder Titel seines bekanntes-
tenBuches–erfasst.
Ichselbstwürde sie unterritualisier-
temVerhalten einordnen. „Richtige“ Ri-
tuale brauchen mehr,sind nochformali-
sierter und bewusst aus dem Alltag her-
ausgehoben. Sie brauchen meist einen
förmlichen Beschluss,weisen oftein
festgelegtes, ja bisweilenkodifiziertes
Regelverhalten auf und gelten als
religiös oder emotional aufgeladen. Das
geht bis zufeinästeligen Begrüßungs-
protokollen und einer pompösen Dra-

maturgie der Begegnung, etwa zwi-
schen Staatsmännern.Wenn man auch
die Alltagsrituale–vonZähneputzen
bis Händeschütteln oder eben den Gruß
–als Rituale bezeichnet, dann gehen
wichtigeUnterschiedeverloren, so sehr
es Überschneidungen im Hinblickauf
Verkörperung,Performativität undZei-
chenhaftigkeit gibt.
Dennochgrüßt man in Indien in der
Regelauchdie Götter mit der Anjali-
Geste: alsZeichen desRespekts, den
man seinem Gegenüber erbringt und
der einegewisse Distanzierung impli-
ziert. Dieses Grußverhalten istinalten
Texten schriftlichfestgehalten und nor-
miertworden. Jedenfalls gilt dies für die
Brahmanen, denen wir zahlreiche Sans-
krit-Schriften(die wohl umfangreichs-
tenLiteratur derWelt), manche Ein-
sicht und vielKuriosa verdanken. So
wurde früh zwischenverschiedenenFor-
men des Grüßens unterschieden. Dar-
unterfindetsichdas Aufstehen, das Be-
rühren derFüße, dieVerbeugung, das
Geben eines Stirnmals,„Tika“genannt,
oder dasleichte,wortloseWiegen des
Kopfes. DieForm des Grußesrichtete
sichnachder gesellschaftlichen Stel-
lungund markierteRang-, Geschlech-
terund Altersunterschiede. Gleichran-
gigkeitwarsogut wie ausgeschlossen.
Nunist es natürlichfastunmöglich,
ein solchesritualisiertesVerhaltenflä-
chendeckend außerhalb Indienseinzu-
führen und an dieStell evon gew ohntem
Verhalten zu setzen.Aber Indien prakti-
ziertjalängstauchdie westliche Begrü-
ßung des Händeschüttelns.Warumsoll-
te dann nicht die Anjali-Geste„viral“ge-
hen können. Immerhin hat es in Indien
bislang nurwenigeoffiziell bestätigte
Ansteckungen mit demVirusgegeben.
Freilich–und das istdas eigentliche Di-
lemma–kann dasAusbleibender Anste-
ckung nicht am Gruß liegen, denn das
Händeschütteln istlängstauchüberall
in Südasienverbreitet. Die Globalisie-
rung kennt keine Grenzen,weder für
ein Virusnochfür Rituale.

Axel MichaelslehrtIndologie in Heidelberg.

SeinerFrauCosimaMelodienaus Vincen-
zoBellinis Opern„ICapuleti“, „LaStranie-
ra“und „Norma“ vorspielend,rief Richard
Wagner: „Das istbei allerPauvreträt wirk-
lich ePassionund Gefühl, und es soll nur
di erichtigeSängerinsichhinstellen, und
es reißt hin.“Für dieNeuinszenierungvon
Bellinis Meisterwerk hatsichdie Hambur-
gerOper zumAuftakt ihrer„italienischen
Opernwochen“ derinden Rängen der
Starshochaufgestiegenen lettischen Sopra-
nistin MarinaRebekaund derkoreani-
sche nRegisseurinYona Kimversiche rt.
DerenBestreben istes, „dasStückgleich
ausder fernen vorchristlichenZeit wegzu
katapultieren und in modellhafteBilder
undSzene nzuüberführen, um esfür heuti-
ge Hörer aufvirulenteWeiselesba rzuma-
chen“. Achso!?Bei dieserzeitgeistkonfor-
men Lesart wirdindie Horde dergalli-

schenKrie ger, diesichauf den Krieggegen
die römischenBesatzer einschwören, ein
Containergefahren, aus demNorma einen
Friedensappellrichtet.
Ausder berühmten „Casta diva“-Kavati-
ne, in der die Singende zu derkeuschen
Göttin wird,andie si esichwendet,geht
dasZielihres Gebetshervor: die Wieder-
herstellungder Frauenherrschaft. Warum
währen dihres Gebetsregie-imaginierte
Priesterinnenander Rampedie Klingen
mächtiger Messer wetzen ,ist eines jener
vielenmodellhaften Bilder,deren Sinn
sicherstdurch die Lektür edes Programm-
hefts erschließt: Es sindjunge Mädchen,
die „von ihren Vätern in einer Anstalt zu
jungfräulichenIkonenstreng erzogenund
derMondgöttinübergebenwerden,die da-
bei zusieht, wiesie der erotischen Macht
der männlichen Besatzer erliegen undsich

dasLebenvergi ften“.Das is teines vonvie-
len Bildern, in denen die Szenescheinpro-
vokativillustriertwird. Typisch für dieÖde
(Bühnenbild:Christian Schmidt),dassder
Bau-Containerdurch Hochfahren zu
einemzweigeschossigen Quader zuNor-
masWohnungmit Keller raum wird,in
demsie ihre Kinder–Fruchtihrer un-
seli genBeziehung zudem römischen Be-
satzer-Konsul–versteckthält.Schema-
tisc hwie die hektische Bilderfolgeist die
Führung der Figuren,die fast durchgehend
vonder Rampesingen.Beim „Guerra“-
Chorstehendie kriegerischen Gallierauf
der Breitwand-Bühne,währenddes fina-
len TribunalsgegenNormabekommen sie,
in purpurneRichter-Roben gewandet,
einenPlatz am Proszenium.
VomheißenAtem vonBellinisMusik ist
in der orchestralenRealisierungwenigzu
spüren. Matteo Beltrami lässt das gut dispo-
nierteOrchesterdie Formen undFormeln
desBelcantosorgsam buchstabieren, aber
ohne die ElastizitätvonDirigenten wie Vit-
torioGui undTullio Serafin in denAufnah-
menmit MariaCallas oder unterRiccardo
Muti mitRenat aScott ozuerreichen.
Beltrami hatteeinspringen müssen fürPao-
lo Carignani, mitdem sich Marina Rebeka
überdie Partie derNorma nicht hatte ver-
ständi genwollen.Esspricht fürein gestei-
gertes Selbstwertgefühl,dassdie Sängerin
sichdarau fberief, siehabedie Partie
scho noft gesungen.
Es is teine hypertrophePartie .Sie er for-
dert stimmlicheKraft,strömendesLegato,
dramatischen Ausdruck sowohl in derDe-
klamation wieinder Koloratur,bei einer
reinenSingzeitvon fast anderthalbStun-

denauchgroße Ausdauer.Marina Rebeka
imponierteinihremAuftri ttsrezitativmit
ausgefeilter Deklamation ebenso wiemit
einerfeinenmessa divoceauf demhohen
As von„sacrovischio“. Fließend schönder
Beginnvon„castadiva“ ,aber zu lautdie
Repetitionendes hohenAinder Zielphra-
se auf„sembiante“. Beachtlich dasFinish
derKoloraturendes Innenteilsmit seinen
langenKettenvon Zweiunddreißigstel-No-
ten. In derzweiten Strophe verzicht etesie,
andersals einstJoanSutherland und
jüngstCecili aBartoli,auf dieKolorat uren
vonGiudittaPasta,der Sängerinder Urauf-
führ ung.Wirklich großeMomente hatte
sieinden vielen inwendig-seelenschweren
Passagen :sowennNormasichandie Ent-
rückung erinnert,indie si edurch deners-
tenBlickindie Augendes „fataloromano“
versetzt wurde;sowennsie, zumMordent-
schlossen, aufdie schlafendenKinder
blickt;soindem Monolog,in dem sie sich
der Hoffnungauf dieRückkehrPolliones
hingibt.Nur gabesindieser Oper beiRebe-
ka auch Momentewilde nFuror smit rasen-
denKolor aturenund Feuerball-Spitzentö-
nen, diedas Ohrwie scharfeSchreiequäl-
ten. Überzeugendwardie Mezzosopranis-
tinDiana Hallerinder eigentlichfür einen
Sopr an geschriebenenPartie derAdalgisa.
Enttäuschendhingegen der aufeinem
stimmlichen Einheitsklang,einemvokalen
„Schwa“-Gemischaus Aund Ound oftun-
terder eigentlichen Tonhöhesingende
MarceloPuent eals Pollione, schwachder
nichtfokussierte Bassvon Liang Li als Oro-
veso. LauterJubel fürdas oftzulauteSin-
gen. HeftigeBuhrufe fürdie Regisseurin.
JÜRGENKESTING

Corona und Karma


VirusinIndien /VonMartin Kämpchen,Santinik etan


Marina Rebeka(rechts) als Norma singt auf Adalgisa (Diana Haller)ein. Fotodpa

Mit schönem Gruß


ZurVorsicht indischesVorbild /VonAxelMichaels


Ausdem Container


HamburgsStaatsoperverhebt sichanBellinis „Norma“


Körperstil

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Berührend, ironisch und


komplex: Damien Jalets


Choreographie„Vessel“.


VonWiebke Hüster, Paris

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