Frankfurter Allgemeine Zeitung - 10.03.2020

(Marcin) #1

FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG Politik DIENSTAG, 10.MÄRZ2020·NR.59·SEITE 3


F


astzehn Minuten hatteAngela
Merkelschon geredet, dakamsie
auf das Coronavirus zu sprechen.
Sie wolle „ein paargrundsätzli-
cheBemerkungen“ machen, sagtedie
Bundeskanzlerin am Montagnachmittag
im „Haus der DeutschenWirtschaft“. Das
Virussei auchinDeutschland angekom-
men, es sei sehr ansteckend, man habe
keinen Impfstoffund auchnochkein Me-
dikament.
DochMerkeltrugdas nicht imPanik-
modusvor. Der istihr ohnehin fremd. Die
Verbreitung desVirusbedeutenicht, dass
alle bisherergriffenen Maßnahmenverge-
bensgewesen seien, machtesie ihrenZu-
hörernMut.Das wirksamste Mittel im
Kampfgegen Corona, so sagten es ihr alle
Fachleute, sei eine Verlangsamung der
Ausbreitung, der „FaktorZeit“. Die sei er-
forderlich, „gerade auch“ um dieÜberlas-
tungvonÄrztenund Krankenhäusernzu
vermeiden, die entstünde, wenn zu
schnell zu vieleFälle vonCorona-Erkran-
kung aufträten. Schließlichmüssten auch
Patienten mit anderen Leiden behandelt
werden. „Wir erarbeiten unswertvolle
Zeit“, sagteMerkel. Das seiZeit, in der
auchdie Wissenschaftforschenkönne.
Am Ende ihrerAusführungengewann
Merkelder Lagesogar nochetwasPositi-
vesab. Jeder Einzelnekönne lernen und
nochbesserverstehen, dassesschön sein
könne, sichzur Begrüßung zuzulächeln.
So wie „wir“ esgemacht haben. Das zielte
auf dengriechischen Ministerpräsidenten
Kyriakos Mitsotakis, der am Montag zu
GastinBerlinwarund mit Merkelam
Deutsch-GriechischenWirtschaftsforum
teilnahm. Er hattebeschrieben, wie er die
„liebe Angela“ begrüßt habe, ohne dass
man sichdie Handgegeben habe. Das be-
deutenicht, dassman „zerstritten“ sei.
Corona im politischen Alltag.
Mitsotakis hattezunächstausführlich
über die Flüchtlingsfragegesprochen, die
naheliegenderweise sein Land derzeit
nochmehr als sonstherausfordert. Coro-
na hatteerinseinerRede dann als „zwei-
te Front“ bezeichnet. AuchMerkelhatte
erst langeüber die Flüchtlingsströme ge-
sprochen.Überhaupthat es langegedau-
ert, bis sichdie Kanzlerin am Montag erst-
mals öffentlichzujenem Thema äußerte,
das die Menschen immer mehr bewegt
und über das Bundesgesundheitsminister
Jens Spahn inzwischentäglichöffentlich
und ausführlichspricht.NochamSonn-
taghatteMerkelihrenPodcastanlässlich
des Weltfrauentages der Gleichberechti-
gung der Geschlechtergewidmet.
EinRegierungschef musssichgründ-
lichüberlegen,wann ergrundsätzliche Be-
merkungen in einer als krisenhaftwahrge-
nommenen Situation macht. Einer der
schwierigstenFälle warfür Merkeldie
Bankenkrise im Jahr 2008.Datrieb die
Deutschen nicht die AngstumihreGe-
sundheitumoder mindestens um ihreVer-
sorgungmit den Güterndes Alltags, so

wie jetzt.Sie hatten Angstumihr Geld.
Am 15. September 2008 hattesichdie
Schieflageder bis dahin vielen Menschen
in ihrer Systemrelevanz nicht bekannten
Lehman-Banksoverschärft,dassdie Bun-
desanstalt für Finanzdienstleistungsauf-
sichtgegenüber der deutschen „Lehman
BrothersBankhausAG“ein „Veräuße-
rungs- undZahlungsverbot“verhängte.
Merkelwar längstalarmiert. Vondiesem
Tagandauerte es allerdings nocheinmal

ein paarWochen, bis sie sichmit einem
kurzen, aber deutlichenAuftritt an die
Bevölkerungwandte. Am Sonntag, dem


  1. Oktober 2008stelltesie sichneben ih-
    rensozialdemokratischenFinanzminis-
    terPeer Steinbrück mit einerkurzen und
    klaren Botschaft: „Wir sagen den Spare-
    rinnen und Sparern, dassihreEinlagen
    sicher sind.“ Ein solcher,auf ein Thema
    beschränkterAuftritt der höchstenpoliti-
    schen Führungsebene musswohlüber-


legtsein. Er soll beruhigen, nachdem
Motto, dassäußerstenfalls einstarker
Staat dem Bürgerzur Seitesteht. Er bein-
haltet aber ein Risiko. Die Menschenkön-
nen das Gefühl bekommen, dasssie es
mit einer ungewöhnlichen Bedrohung zu
tun haben,wenn schon dieKanzlerin
glaubt, ihnen Mut zusprechen zu müs-
sen.
Merkelist ganz offenbar derAuffas-
sung, dassesi mFalle der Corona-Verbrei-

tung nochnicht soweit is t. Deswegen hat
sie am Montagnachmittag beim Wirt-
schaftsforum ihreÄußerungen zu Corona
zwischen andereThemenblöcke gestellt.
Nachein paar Minuten Coronakamsie
dann wieder auf anderes zu sprechen wie
die Künstliche Intelligenz und denKampf
gegendie Treibhausgase. Sie schilderte,
welche Maßnahmen derKoalitionsaus-
schussamSonntagabend beschlossen
habe, um die zu befürchte nden wirtschaft-
lichenFolgen einerPandemie zu bekämp-
fen, etwadie leichtereBewilligungvon
Kurzarbeitergeld. An einem solchenTage
hätteMerkelkeine zwanzigminütige
Rede voreinem internationalen Wirt-
schaftsforum haltenkönnen, ohne über
Corona zu sprechen.Aber eingebettet in
einegrößere Betrachtung hatteeseinen
ganz anderen Charakter als ihrAuftritt in
der Bankenkrise.
WenigeStundenvorMerkels Auftritt
hatteihr SprecherSteffenSeibertnoch ge-
sagt, die Bürgerkönnten daraufvertrau-
en, „dassdie gesamteBundesregierung
mit derBundeskanzlerin an der Spitze“ al-
les tue, um dieAusbreitung desVirus„ein-
zudämmen, zuverlangsamen und unser
Land in die Lagezuversetzen, mit dieser
Herausforderung zurechtzukommen“. Un-
terMerkels Leitung sei dieRegierung
„mit aller Kraft“ dabei, „mit allem Ein-
satz unser Land durch diese extrem
schwierigeSituation zusteuern“. Einer in
der Union, der die Krisen derVergangen-
heit miterlebt hat, zeigtesichüberzeugt,
dass derPunktfür eine nuraufCoronazie-
lende Ansprache der Kanzlerin noch
nicht erreicht sei.

D

ie Herausforderung durch das
Virusist auchfür eineKanzle-
rinnochnichtgenau abzuse-
hen. Ob es am Ende so
schlimm wirdwie in Italien oder ob die
Entwicklung in Deutschlandweniger dra-
matischverläuft, wirdsichinden nächs-
tenTagen undwohl erst Wochen zeigen.
Politischwirddie Bewältigung allerdings
für Merkeldadurch erleichtert,dasseskei-
nen emotional odergarideologischaufge-
ladenen Streit zwischen den Parteien
gibt.Die Kanzlerin ist, so wurde auchaus
demKoalitionsausschussberichtet,indie
Details desKampfesgegen diePandemie
bestens eingearbeitet.Sowie sie in die
Einzelheiten sehr vielerPolitikfelder ein-
gearbeitet ist.
Die politischgrößereHerausforderung
für Merkelist die vorallem durch das Vor-
gehen derTürkeiwiederbelebteDiskussi-
on über die Flüchtlingspolitik. Hier ist
eine öffentliche Stellungnahme grund-
sätzlicherNatur noch viel schwerer.Da-
her formuliertdie Kanzlerin derzeit sehr
vorsichtig. Am Montag sagtesie, „2020 ist
nicht 2015“. Damitwolltesie dergrößten
Sorge der Unionspolitiker begegnen, dass
sichein Flüchtlingszustrom wievorfünf
Jahren nicht wiederholen dürfe.Diejeni-
gen, die langeeinen sehr kritischen Blick
auf Merkels Asylpolitik hatten, erkennen
heutean, dasssie sogar in der jüngstenSit-
zung derUnionsfraktion Innenminister
Horst Seehofer widerspruchslosgewäh-
renließ, als erZurückweisungen an der
deutschen Grenze ins Spiel brachte, sollte
der Schutz der europäischenAußengren-
ze nicht funktionieren.
In der Flüchtlingspolitik hat Angela
Merkelerleben müssen, dassAnsagen an
die Wähler nicht immersteuerbar sind. Ih-
renlegendären„Wir schaffendas“-Satz
äußerte sie Anfang September 2015 nicht
in einem detailliertvorbereiteten Kurz-
statement imKanzleramt, sonderninih-
rerausführlichen Sommerpressekonfe-
renz in Berlin. Die Botschaftwirdgleich-
wohl diejenigesein, die zu allererst mit ih-
rerKanzlerschaftverbunden bleibt.

Emmanuel Macron hat sichinEuropa
die Rolle zugeschrieben, den neo-
osmanischen Ambitionen des türki-
schen Präsidenten Einhalt zugebie-
ten. Am Montag hatFrankreichs Präsi-
dent unter Ausschluss der Presse den
libyschen Rebellengeneral Chalifa
Haftar zu einem Gesprächim Elysée-
Palastempfangen. Daswareine subti-
le Botschaftaus Parisanden in Brüs-
sel weilendenRecepTayyipErdogan,
der Haftars Gegenspieler, den liby-
schen MinisterpräsidentenFajez Sar-
radsch, militärischunter stützt. Den
Konflikt zwischen Erdogan und der
EU über die Flüchtlingsfrage bewer-
tetMacronals Teil einer aggressiven
türkischenAußenpolitik,auf die Euro-
pa aus seiner Sicht aufkeinenFall mit
Nachgiebigkeitreagieren dürfe.
Für Macronsteht dieStabilität des
östlichen Mittelmeerraums auf dem
Spiel. Die türkischen Interventionen
in Libyenwie jetzt in Griechenland
sind nachseiner Lesart Teil einesgeo-
strategischen Kräftemessens um die
VorherrschaftimLevantinischen Be-
cken, in derÄgäis und im Kretischen
Meer.Sarradsch hat mit Erdogan ein
maritimes Abkommen unterzeich-
net, das einseitig einen neuenVerlauf
der FestlandsockelimMittelmeerfest-
legt –und derTürkei damit Erdgas-
vorkommen aufKosten der EU-Mit-
glieder Griechenland undZypernsi-
chernsoll.
Macron wirft dem türkischen
Staatschefvor, trotzdes bei der Liby-
en-Konferenz in Berlin bekräftigten
Waffenembargos Soldaten undRüs-
tungsgüterwie di evon demRüstungs-
unternehmen seines Schwiegersoh-
nes produziertenKampfdrohnen
„Bayraktar“ nachLibyenzuschicken.
„Bayraktar TB2“-Kampfdrohnen hat
die Türkeiauchimtürkischkontrol-
liertenTeil Zypernsstationiert, um
Druckauf Zypernund Griechenland
auszuüben.
Diese Drohkulisse istder Hinter-
grund für die neuen militärischen Bei-
standsabkommenFrankreichs mitZy-
pernund Griechenland. Macron hat
eineverstärkte Fregattenpräsenz im
östlichen Mittelmeer angekündigt.
Die griechisch-französischestrategi-
sche Partnerschaftsieht vor, dass
Athen zwei FDI-Fregatten kauft, eine
Absichtserklärung wurde bereits un-
terzeichnet. Als erstes digitalisiertes
französisches Kampfschiffverfügt
FDI über eine digitale Architektur,
die auchgegen Cyberbedrohungen
schützen soll. Macron siehtdie militä-
rischeUnterstützung für die beiden
Länder alsTeil einer europäischen In-
teressenpolitik im Mittelmeer.
Französische Sicherheitsfachleute
bedauernfehlendes deutsches Enga-
gement.InParis bewerteten es Diplo-
maten alsZeichen für den Mangel an
geostrategischerVision Berlins, dass
die griechischeRegierung MitteJanu-
ar nicht zur Libyen-Konferenz einge-
laden wurde. Ähnlichunzufrieden
warMacron über die aus seiner Sicht
zu vorsichtigeKritik der Bundesregie-
rung am militärischenVorgehen der
Türkei in Syrien. Seine „Hirntod“-Äu-
ßerungen zurNato gründetenauf sei-
nem Ärgerdarüber,dassErdogan
ohnevorherig eAbsprache mit den
Nato-PartnerninNordwestsyrien mi-
litärischinter venierte.Frankreich
mussteseine Spezialkräfte abziehen
undist der Auffassung, dassder türki-
sche Militäreinsatz denverbliebenen
Kämpfern der Terroror ganisation „Is-
lamischerStaat“ zugutekommt.
Seit langerZeit hegen französische
Geheimdienste denVerdacht, dassEr-
dogan die Durchreiseeuropäischer
IS-Kämpfertolerierthat. FürFrank-
reich bleiben dievonSyrien ausge-
lenktenPariser Terroranschlägeein
nationalesTrauma. Macron hat sich
auchinnenpolitischzueinemver-
schärften Vorgehengegentürkische
Einmischungsversuche entschlossen.
In seinerRede zum „islamistischen
Separatismus“ in Mulhousekündigte
er an, dassdie vonAnkar aentsende-
tenTürkischlehrer zum Schuljahres-
beginn im September 2020 nicht
mehr in französischen Schulklassen
Türkischunter richtendürfen. Auch
den in die Moscheen entsandten Ima-
men aus derTürkeiwerden dieAuf-
enthaltsgenehmigungen nichtverlän-
gert.„Für den politischen Islam istin
Frankreichkein Platz“, sagteMacron.
„Wir können nicht die Gesetze der
Türkei auf französischem Boden dul-
den“, sagteer.
Der türkischeParl amentspräsident
Mustafa Sentop hielt Macron darauf-
hin „primitiveIslamophobie“ vor.
Die Rechts populistin Marine LePen
verlangteamMontagvonMacron,
sichinBrüssel fürverschärfteSank-
tionen gegenErdogan starkzuma-
chen. ImRadiosenderRTLsagtesie:
„Wir dürfenuns nicht so unterwürfig
gegenüber derTürkei verhalten.“ Ma-
cron müsse sofortden französischen
Botschafteraus derTürkeizurückbe-
ordern, den türkischen Botschafter
ausweisen und „unsere Grenzen
schließen“.

Wieverfahren in Krisenzeiten?MerkelamSonntag auf demWegzum Koalitionsausschuss ins Bundeskanzleramt Fotodpa

Lächeln in Zeiten vonCorona


Neben dem Busbahnhof in Edirne,von
dem aus Menschen in alleStädtedes
Landesfahren,kampierteine Gruppe
jungerPakistaner.Sie haben dieNacht
abseits auf einem zertretenenStückRa-
sen verbracht.Einigeliegen nochin
graue Decken eingerolltumeine Feuer-
stelle, anderegreifen nachEssen in ih-
renReisetaschen, in denen sie alle Hab-
seligkeiten verstaut haben.Nureiner
vonihnen spricht eineFremdsprache, er
kann sich auf Arabischverständigen,
weil er einigeJahreinSaudi-Arabienge-
lebt hat.
Er erzählt, dass ein Schlepper die
Gruppevor ein paarWochen über Ge-
birgspfade aus Iran in den OstenAnato-
liensgebracht hat.Auf eigeneFausthät-
tensie es dann bisEdirne im Dreiländer-
eckmit Griechenlandund Bulgarienge-
schafft.„Nach Pazarkule wollen wir“,
sagtervollerHoffnung.NurwenigenEu-
ropäernist de rkleinereder beiden Grenz-
übergängezwischen derTürkei und Grie-
chenland bekannt.Die meisten Migran-
ten, diequer durchdie Türkei in Rich-
tung Europa ziehen,kennenPazarkule je-
doch. Denn die beiden türkischen Grenz-
übergängeIpsala nach Griechenlandund
Kapikule nachBulgarien sindgroßdi-
mensioniert, es gibt dortviele Dutzend
Beamteund Polizistenauf beiden Seiten.
Nicht so inPazarkule, das mitseinem
Schlagbaum wie ausder Zeit gefallen
scheint.Außerdem istdie Gegendflach
und baumreich.

ZurGruppe in Edirne sind inzwischen
drei türkische Beamtehinzugetreten. Sie
wollen keine Auskunftgeben,fotografie-
rendie Pressekarte des Reporters und ver-
schickensie zur Prüfung. Ein Bus mit
dem Schriftzug ETTnähertsichder Grup-
pe. DasAusländeramtvonEdirne, Göc
Idaresi, sostellt sichheraus, arbeitet mit
dem lokalenUnternehmenETTzusam-
men. Einer der Beamtenruft laut, damit
es jeder hört, dies sei der Bus nachPazar-
kule. DiePakistaner packenraschihre
Bündel, um die ersehnteFahrtnicht zu
verpassen. Erwolle mit, auchwenn er wis-
se, dassdie Grenze zu Griechenlandge-
schlossen sei, sagt der Mann auf Ara-
bisch. Schließlich sei er nochnie so nahe
an Europagewesen.

Die Menschen sind erschöpft
Wieaus dem Nichtstaucht ein Iraner auf,
einen zerschlissenen Geigenkofferinder
rechtenHand, dieAugenrot unterlaufen.
„Pazarkule, Europe!“,ruft er auf Englisch
und stürzt ebenfalls in den Bus. Er sei Mu-
sikerund wolle nur musizieren.Unterder
Brücke hindurch geht eine Gruppe Eri-
treer auf den Busbahnhof zu.Nureine
Frau spricht ein paar BrockenEnglisch.
Sie fragt skeptisch, ob der Bus sie wirklich
nachPazarkule bringe. „Ichkann nicht
nocheinmal fünfzehn Kilometerlaufen“,
sagt sie. Dannstartetder Bus in Richtung
Grenze.Für den Augenblickist kein Mi-
grant undkein Flüchtling mehr am Bus-
bahnhof.

Das Ausländeramt vonEdirne hat
do rt,gewissmit Unterstützungaus Anka-
ra,einen kostenlosen Shuttleservice
nachPazarkule undauchnachIpsala ein-
gerichtet. Ni chtklar ist, ob in denBussen
die Personalien derBeförderten aufge-
nommenwerden. Amvergangenen Sams-
tag hattezudemdie Stadtverwaltungvon
Edirne, dievonder oppositionellenCHP
regiertwird, kostenlose Busse für jene be-
reitgestellt, die vonder geschlossenen
Grenze zurückgekehrtwaren und nach Is-
tanbulwollten. Angestellt edes Busbahn-
hofs berichten, in dervergangenenWo-
chehabe eineReihevon Stadtverwaltun-
geninder gesamtenTürkei, insbesonde-
re dort,wo die nationalistische MHPre-
giert, eineChance gewittert, uner-
wünschteasiatische Migranten nachEdir-
ne undPazarkulezuverfr achten.Syri-
sche Flüchtlingehätten siehier kaum ge-
sehen.
Drei Kilometer vordem Grenzüber-
gang Pazarkule sperrenBereitschaftspoli-
zistendie schmale Landstraße. JederTür-
ke weiß, dassman sichbesser nicht mit ih-
nen anlegt.Fernsehkameras dergroßen
türkischen Sender sind auf sie und das
Verkehrsschild „Pazarkule Griechen-
land“gerichtet. Vonden türkischenRe-
portern wirdheuteein Mitarbeiter der
halbstaatlichenNachrichtenagentur Ana-
dolu mit einer Sondergenehmigung an
die Grenze durchgelassen. Alle anderen
bekommentelefonischoder perVideo In-
formationenvonMigranten, mit denen

sie sichzuvor abgesprochen hatten. Eine
weiter eQuelle sind die Mitarbeiter der
türkischen Hilfsorganisationen, die die
an der Grenze ausharrenden Migranten
und Flüchtlingeversorgen.
Offenbar lebenetwafünftausend gut
abgeschirmtePersonen unmittelbar am
Grenzzaun. Dortsoll eine kleineZelt-
stadt entstanden sein. Die ersten drei
Tage warendie Menschen auf sichallein
gestellt, seitherversorgenKleinlastwagen
sie mit ausreichend Lebensmitteln,Was-
ser und Decken. Viele Autostragen den
Schriftzug des türkischen RotenHalb-
monds, andereder islamischen Hilfsorga-
nisation Besir Dernegi.Auch der nach
wie vorunbekanntetürkische Philan-
throp, der sichhinter dem PseudonymRo-
bin Hoodverbirgt und in Istanbuler Ar-
menvierteln zuletztUmschlägemit Bar-
geld hat unter Wohnungstüren durch-
schieben lassen, leistetoffenbar wieder
Hilfe.

Anwohner berichtenvonSchüssen

Immer wieder passieren Kleinbusse mit
dem Schriftzug ETTdie Straßensperre.
Ohne anzuhalten,rauscht eine schwarze
Limousine mit dunkelgetönten Scheiben
vorbei, wie sievonranghohen Beamten
genutzt werden. Immer wieder fahren
Krankenwagendes Gesundheitsministeri-
ums in das Sperrgebietund kehren später
zurück. Vonder nahen Grenze isttags-
über nichts zu hören.Vorallem frühmor-

gens und spätabends,berichtengeplagte
Anwohner der sonstbeschaulichen Grenz-
siedlung, höreman jedochSchüsse. Dann
liefernsichtürkische und griechische
Grenzschützer und Soldaten Gefechte
undfeuernTränengas auf diefeindliche
Seite.TürkischeJournalistenzeigen ein
Video eines Migranten an der Grenze,
der angeblichSchussverletzungen hat.Zu-
demkommt es offenbar immer wieder zu
Auseinandersetzungen zwischen syri-
schen Flüchtlingen, die eine klare Minder-
heit sind, und den vielen Migranten.
Denn die Syrer beklagen, dassdie Grenze
für sie längstgeöffnetwäre–wärennur
die anderen Migranten nicht da.
WelcheAufgabe dietausend Soldaten
haben, die die türkische Regierung an
den Grenzübergang beorderthat, bleibt
unklar.Gelegentlichwinken die Bereit-
schaftspolizistenolivgrüne Armeewagen
undrote Autosder Gendarmerie durch.
Die Migranten und Flüchtlingesollen of-
fenbar mit den Soldaten imRücken ermu-
tigt werden, sichnacheinem erfolgrei-
chen Grenzübertritt nichtvonden grie-
chischen Grenzschützernzurückdrängen
zu lassen. So erzähltman es sich, überprü-
fenlässt sichdas aber nicht.Feststeht je-
doch, dassdie fünftausend Menschen, die
am verschlossenen Grenzübergang Pazar-
kule ausharren, nur ein Bruchteil der an-
geblichmehr als 140 000 Menschen sind,
vondenen der türkischeInnenministerSü-
leyman Soylubehauptethatte, sie hätten
die Türkeiverlassen.

Schutzherr


Europas


Macron empfängt


General Haftar


VonMichael aWiegel,


Paris


So nah an Europa wie nie


Die Situation amgeschlossenen türkisch-griechischen Grenzübergang Pazarkule /VonRainerHermann,Edirne/Pazarkule


Langenicht mehr so viel erreicht –das
istdie Botschaftdes Ergebnispapiers,
das dieKoalitionsparteien vonCDU,
CSU und SPDkurz nachzweiUhr am
Montagmorgenverbreitet haben. Es
umfasst 14 Seiten und handeltfünf
Themen ab: die aktuelle Flüchtlingsla-
ge in Griechenland, dieAuswirkungen
vonCorona auf dieWirtschaft, Investi-
tionspläne für mehrWirtschaftswachs-
tum und ausführlicheVorschlägefür
die BeschleunigungvonPlanungs- und
Genehmigungsverfahren. Als einen
Unterpunkt im BereichInvestitionen
hält dasKoalitionspapier zudemfest,
dassder Verteidigungshaushalt so aus-
gestattet sein soll, dassinternational
zugesagte Fähigkeiten geliefertwer-
den können undgegenwärtigeLücken
bei derTruppegeschlossenwerden. Es
warder Noch-CDU-Vorsitzenden An-
negret Kramp-Karrenbauer vermut-
lichbesondersdarangelegen, anläss-
lichihrerTeilnahmeandem Treffen
mit denPartei- undFraktionschefsso-
wie Kanzlerin Angela Merkelund Fi-
nanzministerOlaf Scholz imKanzler-
amt dazu Klarstellungen zu bewirken,
um sichnicht etwamit sinkendem Etat
begnügen zu müssen.
Wasdie FlüchtlingslageinGriechen-
landbetrifft,erklärte sichdie Koalition

bereit, einen „angemessenenAnteil“
vonbis zu 1500 Kindernaus grie-
chischen Lagern nach Deutschlandzu
holen. Es handele sichdabei überwie-
gend um Kinder,die entwederwegen
schwerer Erkrankung dringend behan-
delt werden müssten,oder aber um un-
begleiteteMinde rjährige, jünger als 14
Jahre, überwiegendMädchen.Der Ko-
alitionsausschuss stellt ezur Situationin
Grie chenlandfest, dassdie Behörden
dortden Auftraghätten, dieAußengren-
zenzuschützen.Das klingt wieeineBa-
nali tät, is taber einBekenntnis zu der
Art vonrobus temGrenzschutz, wieihn
die griechischen Behörden derzeit be-
treiben.Natürlichohne Exzesse,vonde-
nen auchberichtetwird. „Ordnungund
Humanitätgehörenfür unszusammen“,
heißt es in demText, und das klingt
nicht zufällignacheiner Formel, die der
frühereCSU-Vorsitzende Horst Seeho-
ferimmer wieder bemühthat.Seehofer
begrüßtedenn auchdas Ergebnis der sie-
ben Stunden langenVerh andlungsrun-
de,ander nunseinNachf olger Markus
Söderteilnimmt.Unklarbleibt aberzu-
nächst,welche Bedingungenandie Auf-
nahme der Flüchtlingegeknüpftsein sol-
len und biswann dieAufnahmeerfol-
gensoll.Musserst„Ordnung“ wieder-
hergestellt werden,bevor Flüchtlinge

aufgenommenwerden?Unbeantwortet
bliebenzudem am MontagFragenda-
nach,obdie Kindermit oder ohneihre
Elte rn in di eEuropäischeUnionkom-
men dürfen, und danach,warumdie Ko-
alitionspartner ihreHilfszusagen beson-
ders auf Mädchenabzielen. Alseinen
„achtbaren Erfolg“bezeichneteesder
SPD-Ko-VorsitzendeNorbertWalter-
Borjans, dassDeutschland in einer euro-
päischen „Koalition derWilligen“ den
Griechenschutzbedürftige Kinder aus
Flüchtlingslagern abnehme.Familien-
undJugendministerinFranziska Giffey
(SPD) sagte: „Europa hat eine menschli-
cheVerantwortungund sollte diese am
bestengemeinsamwahrnehmen.Aber
auch allei ninDeutschland haben wir
Kapazitäten dafür unddie Bereitschaft
zu helfen. AllenKommunen, die bereits
Plät ze und Betreuungangeboten haben,
istzudanken. In denvergangenen Jah-
renhat Deutschlandgezeigt,dasswir
unbegleitetenKindernund Jugendli-
chen einen guten Schutzund neue Per-
spektivenbietenkönnen.“ Dasalles kön-
ne sichsehen lassen, sagte SPD-Gene-
ralsekretär LarsKlingbeil am Morgen
mitBlick aufdas Vereinbarte.Und
nichts erinnertmehrdaran,dassdie
SPDmitder neuenFührung eigentlich
raus wollte aus derKoalition. pca.

KanzlerinMerkelhat


sich erstmals


ausführlicher zur


drohendenPandemie


geäußert. Doch sie


machtdas mitgroßer


Zurückhaltung.


VonEckartLohse, Berlin


Worauf sic hdie Koalitiongeeinigt hat

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