Frankfurter Allgemeine Zeitung - 10.03.2020

(Marcin) #1

FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG Feuilleton DIENSTAG, 10.MÄRZ2020·NR.59·SEITE 9


D

ie SpanischeTreppe inRom
warfastmenschenleer am
Sonntagvormittag, nachdem
sicheine Protestkundgebung zumFrau-
entag wiederaufgelöst hatte. Einer der
schönstenBlicke aufdie Trajanssäule,
die TreppevomTorre delle Milizie
nachunten,gerahmtvonpittoresken
Altbauten—ebenfalls leer.Auf Michel-
angelosKapitolsplatz undentlang der
Kaiserforen spazieren nur unentwegte
Touris ten. Corona schwebt als unsicht-
bareBedrohung überder Stadt.Die
Treppenanlagen zwischen den sieben
Hügeln sehen nun wirklichaus wie die
gemalten Bühnenbildarchitekturen
vondeChirico. AnwohnervomStadt-
randsindverblüfft,frühmorgenseine
halbeStundeschnellerindie Innen-
stadt brausen zukönnen.Undauch
wenn offiziellkeine „baci“mehr bei
der Begrüßungverteilt werden sollen —
einige echt eRömergeben sichweiter
Küsschen auf dieWangen,verschwöre-
rischfast, wie frühe Christen, diewäh-
rend derVerfolgungen nicht erkannt
werden wollten und deshalb Geheim-
codesentwickelten. Die Hotellerie der
vomTourismus abhängigenStadt
fürchtetjetzt schon Jahreseinbußen
vonbis zu einemDrittel,die Buchungs-
systeme ihrer Computerbrechen stän-
dig zusammenangesichts der anbran-
dendenStornoflut bis Juni,Juli. Rich-
tig bitter aber sind dieVorsichtsmaß-
nahmenfürKünstler, derenAusstellun-
genjetzt reihenweise abgesagtwerden.
So wirdetwadie Schau derVilla-Massi-
mo-Stipendiatin Birgit Brenner gar
nicht erst eröffnet,weil die Massimo-
Direktorinweder denstaatlichgefor-
dertenMindestabstand derAusstel-
lungsbesuchervoneineinhalb Metern
garantierenkann nochdie traditionel-
len römischen Begrüßungssitten unter-
bindenmöchte. Die symbolträchtigste
Ausstellungsabsage allerdings betrifft
Raffael. Erst am Freitag gegenüber
dem Quirinalspalastdes Staatspräsi-
denten eröffnet, wurde die Haupt-
scha uzum Raffael-Jahr 2020 nachnur
drei Tagenvorer st wiedergeschlossen.
Im Eingangsbereichder Schau, die den
Untertitel „1520–1483“ trägt,Raffaels
wenigeLebensjahrealso vomTodesda-
tumaus rückwärts erzählt,stand die
maßstäblic hnur wenig verkleinerteKo-
pie seinesachtMeter hohen Grabmals
aus demPantheon.Täuschend echt
wurde derGrabaltar aus Buntmarmor
in 3D ausgedruckt, mitsamtder über-
lebensgroßen Madonna del Sassovon
Lorenzettoinder Nische. Schon bevor
man in der Schau auf diese aufwendige
und denquasigöttlichverehrtenKünst-
ler nochmehr sakralisierende Anlage
stieß, warenzweiweiter emonumenta-
le Bilderdes neunzehnten Jahrhun-
derts abzuschreiten, auf denensein
Todvon anderen Malerkollegen wie
etwa Dürer betrauertwurde. Armer
Raffael —ausgerechnetseinegroße
Ausstellung zum fünfhundertstenTo-
destag hat nun ebenfalls einvorzeiti-
gesAbleben ereilt,nachdem das Maler-
genie selbstimAlter vonnur sieben-
unddreißig Jahrenverstorben ist.

KeinRaffaello


VonStefanTrinks

W


ie dramatischist die Lage
wirklich? Kann man den
Zahlen glauben, isteshöchs-
te Zeit, radikale Maßnah-
men zu ergreifen, oder betreiben interes-
sierte Kreise hierPanikmache–und wenn
ja, warum? All dieseFragenstellen sich
nicht nur in der Corona-Debatte, sondern
auchangesichts der Diskussion umFrank-
furts Bühnen. Der immer schrillereTon
und das internationale Interesse (gerade
berichtete die „New York Times“ über die
Milliardenbaustellen in Köln, Stuttgart
und Frankfurt) haben auchdamit zu tun,
dassesummehr als nur darumgeht, wie
manKulturbauten der frühen Bundesrepu-
blik retten kann: Esgeht um dieFrage, wel-
cheRolle dasStadtzentrum, und in ihm
die Kultur,inZukunfthaben wird.
Deutschland isteines derreichs tenLän-
der derWelt, Frankfurteine seiner reichs-
tenStädte–trotzdemkann sichnicht ein-
mal mehr die Mittelschicht dasWohnen
im Zentrum leisten. Vonwem und fürwen
genau werden in dieser SituationHäuser
und Kulturbauten errichtet? Waswerd en
wir in Zukunftinder Stadt tun,waswird
„Öffentlichkeit“ sein–und wie zum Bei-
spielein Theater aussehen, in demzukünf-
tigeGesellschaftensichverortenkönnen?
UndwelcheRolle spielt der Staat? Soll
Kultur imZentrum erhaltenwerden, auch
wenn der öffentliche Baugrund sichgut
monetarisieren ließe–oder soll sie als Er-
schließungs-Vorhut inRandlagen und In-
dustriearealeverschifft werden, um dort
per Bilbao-Effekt dieWirtschaftanzukur-
beln? Es sei unverantwortlich, das klassi-
scheZentrum Banken und Bürotürmen zu
überlassen, sagen die Befürworter des al-
tenStandorts. Es sei unverantwortlich,
Kultur immer in derNähe der Macht zu
konzentrieren, sie müssegerade raus an
die Ränder und dortinkludierend wirken,
sagen die anderen. Das sei bloß ein kroko-

dilsträniges Scheinargument, monieren
ihreGegner: DieKultur werdeumgesie-
delt, um in der Innenstadt begehrten Bau-
grund freizumachen und dieRänder zu
gentrifizieren. Undwas,argumentiert
eine drittePartei,wenn man ein Haus an
den Osthafenverlegteund das andeream
jetzigenStandort beließe?
Dassdiese komplexenFragenjetzt auch
nochvom Efeu lokalpolitischerAmbitio-
nen überwuchertwerden, macht die Lage
nicht übersichtlicher.Mittlerweile stehen
sichamMain die Akteuregegenüberwie
die verfeindetenStämme in jenen mittel-
alterlichenTagen, alsFriedrichder Schöne
Sachsenhausen besetzt hielt undLudwig
der Bayerdie Errichtung neuer Großbau-
tenamMainuntersagte.Die SPD wirft Tei-
len der CDUvor, anderenTeilen der CDU
in denRücken zufallen, die CDU will
nichtvoneinem „CDU-Entwurf“für einen
Doppel-Neubau im Osthafenreden, die
Grünen sehen darinvorallem einenVer-
such, denWilly-Brandt-Platz für den Bau
hochpreisiger Investorenschachteln freizu-
bekommen–und mitnichtenkönnen sich
alledarauf einigen, dassdas 1963 erbaute
Doppeltheater,wenn es dennfällt, durch
einen zeitgenössischen Bau abgelöstwer-

den soll: Die„AktionsgemeinschaftSchau-
spielhausFrankfurt“verteilt dieserTage
eifrig Broschüren, in denen dieRekon-
struktion des Schauspielhausesvon 1902
gefordertwird, das 1963von einem Mit-
arbeiter„im Bürovon AlbertSpeer, der an
der ErrichtungvonHitler sNeuerReichs-
kanzleimitwirkte, ummantelt“worden sei
–gemeint istOttoApel, einer der Architek-
tendes modernen Theaterbaus.Sohauen
sichdie Widersacher denNaziballgegen-
seitig insTor. Verschwiegen wirdvon den
Rekonstruktionsfreunden,dassdie „Wol-
ken“ imFoyerein spätes Meisterwerkdes
jüdischenKünstlersZoltánKeménysind
und das moderneFoyerschon damitein
wichtiger Erinnerungsortist.
Die Stadtverordnetenhaben denAbriss
zwar beschlossen–jedoch auffalschen
Grundlagen, erklären nun zahlreiche inter-
national renommierte Baufachleutein
einerPetition: DerNeubaubeschlusssei
„geschichtsvergessen“ und lösche identi-
tätsstiftende Bauten aus, zudem habe es
keinerlei „konzeptuelle Debatte,welche
Artvon Theater für die Zukunftange-
strebt ist“,gegeben; allen Planungen hät-
tenzudem „die maximalenForderungen
der Intendanz zu Grundegelegen.“ Das ist
ein Sprengsatz, der nicht so leicht abzuräu-
men ist: Sind esgarnicht, wie allgemein
behauptet, Brandschutztechnik und böse
Bauvorschriften, die eine Sanierung so
teuer machen würden–sondernmaßlose
Maximalforderungen vonTheaterma-
chern, die ursprünglichsogar eine Dreh-
bühne fürsInterimforderten? Wäre ein
Theater,das nicht mit demActionkino
vonPixar konkurrieren will, sondernauf
die PräsenzvonSpiel und Stimme setzt,
am Ende viel günstiger und im alten Haus
zu haben–und wirddas vorallemvonder
Immobilienindustriekaputtergeredet, als
es ist? Einig sind sichdie Bauexperten
nur,dassdie technischenTeile des Doppel-
baus nicht zuretten sind.

Mankönntedagegen Bühne undFoyer
erhalten.Undsollteesauch–einmalweil
das Foyermit denKemény-Wolken ein
wichtiger Erinnerungsortist,aber auch
weil man so ein baupolitischwichtigesZei-
chen setzen würde. Das Bauen isteiner
der größten Klimatreiber:Allein die Her-
stellungvonZement istlaut WWF-Gut-
achten für acht Prozent derweltweiten
CO 2 -Emissionenverantwortlich. EinePo-
litik, die denvonden Immobilienpreisen
vertriebenenPendlerndie Einfahrtindie
Stadt verweigernwill, dortaber ohne ech-
te Notganze Theater dem Erdboden klein-
macht und neue aus dem Bodenstampft,
darfsichden Vorwurfnachhaltiger Orien-
tierungslosigkeitgefallen lassen.
Wieman Theater behutsam und mit
deutlichwenigerGeld sanierenkann, zeigt
Darmstadt:Dorthat die Ertüchtigung des
Theaters nur siebzig MillionenEurogekos-
tet–nichtnur weil es kleinerist,sondern
weil derArchitekt Arno Lederer klug
impr ovisier that.AuchLederer betont,
dassman zur Erklärung derKostenexplo-
sion im Theaterbau nicht allein auf Bauvor-
schriftenverweisendarf–sondernoft
auchmaßlose Anforderungen an dieBüh-
nentechnologie die Sanierung vonThea-
tern so kostspielig machten: Wasman
etwain Stuttgartgeradeversuche, sei so,
alsobman einendickenSechszylinderin
einen VWKäferhineinstopfenwollte.
Man spiele heutehalt nicht mehr Thea-
terwie vorsechzigJahren, heißt es da im-
mer.Mag sein–aber man wirdinsechzig
Jahren auch nichtmehr so spielen wieheu-
te.Gerade angesichts neuer stadtpoliti-
scher und ökologischer Sensibilitäten
könnteessein,dassein milliardenschwe-
res„Bilbao am Osthafen“ nicht als Sensa-
tion, sondernals monumentalePeinlich-
keit, als letztesAufflammen derressour-
cenfressenden,verspektakelten Investoren-
stadt des späten zwanzigstenJahrhunderts
wahrgenommen wird. NIKLAS MAAK

Natur undWissenschaft
Die Welt im Artenschutzmodus?
Der Kampfder UN umWildnistobt.

Geisteswissenschaften
Regieren, aber wie? Eine unerwartet
aktuelleTagung in Jena

Wenn ein Schauspielerstirbt, der sogroß
warwie MaxvonSydow, lässt man in Ge-
danken nocheinmal alleRollen an sich
vorbeiziehen, in denen man ihngesehen
hat –und manchmal bleibt die Suchbewe-
gung dann bei einem Bildstehen, einer
Szene, die andersist als die anderen, inten-
siver ,deutlicher,wie doppelt belichtet.Da
istvon Sydows Auftritt –sein letzter–in
„Kursk“vonThomasVinterberg,wo er
den russischen Admiral s pielt, der für die
Vertuschung der U-Boot-Katastrophever-
antwortlichist,und mit dem Sohn desto-
tenKommandanten einen Blickwechselt,
der alle politischen ManöverLügenstraft,
weil er das pureGeständnis ist, die Offen-
barung der Schuld.Unddaist,zwölf Jahre
früher,die Sequenz in Julian Schnabels
„Schmetterling und Taucherglocke“, in
der er sichvon Mathieu Amalric rasieren
lässt:Die beiden sindVaterund Sohn, der
eine ein erfolgreicher Journalistund Frau-
enheld, der andereein hilfloser Greis, der
den Jüngeren davonabzuhaltenversucht,
die gleichenFehler wie er selbstzubege-
hen. In der Erinnerung istdas eine Szene
vongroßer Zärtlichkeit, obwohl es darin,

wie man beimWiedersehen aufYoutube
erkennenkann, keine wirklichliebevolle
Geste gibt.Woalso kommt die Zärtlich-
keit her? Siekommt ausVonSydows Ge-
sicht, aus demTonseinerStimme; aus win-
zigen atmosphärischenAusschlägen.
In diesenWinzigkeitenwarergroß.
Der Mann, der sie ihm beibrachte,warzu-
gleichsein Entdecker, denn erst mit acht-
undzwanzig, mit derRolle des RittersAn-
tonius Block in IngmarBergmans „Das sie-
benteSiegel“, wurde derFilmschauspieler
MaxvonSydowgeboren. Der Ritterkehrt
vomKreuzzug in seine Heimat zurück, die
vonder Pest verwüstetwird; er trotzt dem
Todfür die Dauer einer Schachpartie sein
Leben ab; in dieserZeit will er den Sinn
des Daseinsfinden. Blockfindetihn nicht,
weil ihn selbstder Todnicht kennt, und
stirbt unerlöst. Es istdie Geschichteeines
alten Mannes, und vielleicht liegt es auch
an Bergman, dassvon SydowimKino nie
richtig junggewesen ist, dassdie echten
Heldenrollen in seinerKarrierefehlen.
Womöglichlag es aber auchanvon
Sydowselbst. VonAnfang anstrahlteer
Überlegenheit undReifeaus, weshalb die

AusbrüchevonGewalt, in die ihn Berg-
man in „Licht imWinter“ und „Die Jung-
frauenquelle“trieb, umso schockierender
wirkten. Fürdie Filmindustrie Europas
und Hollywoods dagegenverkörperte von
Sydowgenau dasStereotyp, das sievon
ihm erwartete, ob alsrussischer Spion in
„Brief an den Kreml“, schmallippiger
Killerin„DreiTage des Condor“, Bond-
Schurkein„Sag niemalsnie“, Provinzrich-
terin„Schnee, der aufZedernfällt“ oder
dämonischer Magnat in „Minority Re-
port“.Wieweit der Bogen diesesSchau-
spielerlebensreicht, wirdklar,wenn man
sichvor Augen führt, dassvon Sydowmit
OrsonWelles und mitTomCruise, mit Ing-
ridThulin wie mit CateBlanchettvorder
Kameragestanden hat.Ammeistenhat er
später dieRolle des Jesus in „Diegrößte
Geschichte allerZeiten“bereut,weil sie
seinemAgnostizismuswidersprach.Aber
dann, erklärte ervorein paar Jahren in
einem Fernsehinterview, habe ihm der
tote Ingmar Bergman ein Zeichen ge-
sandt.Seitherglaube er an ein Leben nach
demTod. Jetztist MaxvonSydow neunzig-
Sydowin„Das siebenteSiegel“ FotoInterfoto jährig inParisgestorben. ANDREASKILB

Kampfumden Theaterplatz

Morgen


DassderzeitvielekulturelleVeran-
staltungen ausfallenoderverschoben
werden,ist verständli ch –weniger
dagegen,warum immernochmanche
der Ansicht sind, Fußballstadienkönn-
tentrotzdem bedenkenlosvonZehn-
tausendenbesucht werden.Unge-
wöhnlichist allerdings auch, dieVeröf-
fentlichungeinesbereitsfertigen Al-
bumsaus Gesundheitsgründen zuver-
schieben.Soist es imFall der Band
The DirtyKnobs umTomPettysfrühe-
renGitar risten Mike Campbell.
„WrecklessAbandon“ wurdegestern
auf unsererMusikseite besprochen,
wird nun abererstimSeptember er-
scheinen. Campbellmüssesichinme-
dizinische Behandlung begeben, bevor
er seinegeplante Tour antretenkönne,
heiß tes –dahermüsse auch dasAl-
bumwarten.Das verstehe,wer will.
Aber währendwir bedauern,dassdie
vonuns beschriebeneMusik vorerst
nicht zu hörensein wird, sindwir aktu-
ellgeneigt pauschalzusagen :Gesund-
hei tgeht vor. wiel

Die ganze Zärtlichkeit in seinem Gesicht


Vonder Gnade, im Kino niemals junggewesen zu sein:ZumTod des schwedischen SchauspielersMax vonSydow


Darfman sichnochden „Stadtneuroti-
ker“ ansehen, oder kriegt man davon
jetzt schon Corona? Sachlicherge-
fragt:Was geht diejenigen, diekeine
Richterrobe tragen, also im Grunde
dochKrethi und Plethi, DylanFarrow
an? Nichts, möchteman meinen. Ob
sie im Altervonsieben Jahrenvonih-
remAdoptivvaterWoody Allen miss-
braucht wurde,war nie Gegenstand ei-
ner Gerichtsverhandlung. DieWahr-
heit kennen,wenn nicht nochein Au-
genzeugeauftaucht, nur diese beiden.
Dafür wird umso entschiedener
nach dem Hörensagengeurteilt. Des-
wegenist es an derZeit,dem,man
muss es einmal so sagen, denn der
Schaden, den eranrichtet,wirdimmer
größer :dem Moralpöbel dasMaulzu
stopfen .„Moralpöbel“isthierzuver-
stehenals Sammelbegrifffür all jene,
diesichetwas anmaßen, wasaus-
schließlich Sache der Justiz ist: über
die Schuld undStrafwürdigkeiteines
anderen Menschen zu urteilen und die-
sesUrteil auch nochinder Öffentlich-
keit herumzupostenund zupesten.
Das hilf tniemandem,wahrscheinlich
nochnicht einmal den mutmaßlichen
Opfern .Und solangeman nurmut-
maßenkann,sollteman sichschon
mitVerdächtigungenzurückhalten,
auchkeinenVerleger nvorschreiben,
welchesBuch sie veröffentli chen dür-
fenund welches nicht, und sichimÜb-
rigenauf seinSchüler-Latein besin-
nen: in dubio proreo.
Diese Maxime darfman genauso
wenig wie dieUnschuldsvermutung
aufgeben, undwenn man nochsooft
beteuert, wie schlimm das Schlimme
dochist,und sichmit allenvermeint-
lichen odertatsächlichen Opfern„so-
lidarisch“ erklärt,wasimmer das hei-
ßen soll. In der MeToo-Debatte istsie
ohne Federlesens, auf empörend
ruchlose Artaußer Kraftgesetztwor-
den: Der Prozessgegen den Schau-
spielerKevin Spaceywegen sexueller
Übergriffe wurde zum Beispiel einge-
stellt;der Mann hat damit als unschul-
dig zugelten, aber seinRufist rui-
niert. Ähnlichist es beimWettervor-
hersager JörgKachelmann, der auf
die bloßen Anschuldigungen einer
später alsLügnerinrechtskräftig ver-
urteiltenFrau hin eingesperrt wurde.
WoodyAllen habennicht nur Ama-
zonund eineganzeReihe vonSchau-
spielernfallengelassen wieeine heiße
Kartoffel, sondernnun auchder Ver-
lag Hachette, der seineAutobiogra-
phie„AproposOfNothing“ nicht her-
ausbringenwird–offenbarfürchtet
man, mit demMissb rauchsviruseines
Mannes angestecktzuwerden,dem bis-
her nichts nachgewiesenwurde.Auch
bei Rowohltgreiftman jetztzum
Mundschutz:Autoren, darunter Marga-
rete Stokowski, KathrinPassig, Nis-
MommeStockmannund Sascha Lobo,
fordernihreVerlagsleitung in einem
offenen Briefdaz uauf,auchdie deut-
scheFassung„Ganznebenbei“ nicht
zu veröffentlichen.
InwiefernAutoren einem Verlag
derartigreinreden dürfen, wirddie R o-
wohlt-Leitung,die,nachdem Hachette
Allendie Rechtezurü ckgegebenhat,
erst einmal die neue Sachlage prüfen
will und Allen dann jawahrscheinlich
direkt fragenkann,selbstambesten
wissen.Esmag dabeinoch angehen,
dass die Autorendarau fverweisen ,bei
Rowohltsei schließlichauch das Buch
vonDylan FarrowsBruderRonan, der
Woody Allen für schuldig hält („Durch-
bruc h–Der Weinstein-Skandal,
Trumpund dieFolgen“), erschienen,
daspasse also nicht; sieseien nicht
prinzipiellgegen dieVeröffentlichung
derAutobiographie,nur ebennicht
beiRowohlt. Aber da unterschätzen
sie dieWirkung eines solchenAppells:
Wenn ein so wichtigerPublikums-
verlag wie Rowohlt einknickt, dann
wird dasBuchauchinDeutschland
nicht so schnellerscheinen; dietoxi-
scheWirkun geinesRückziehersauf
die anderenVerlagewäreeinfachzu
groß.Aber so istinzwischen dieLogik
derMoralt rompeter:Das Buch ver-
öffentlichenhießeschon Missbrauch
kleinreden oder sogar ir gendwiegut-
heißenund dasvermeintlicheOpfer
verhöhnen–diesallesunter nach wie
vorungeklärten(Tat-)Umständen.
Gravierender sindaber diese Einlas-
sung en: „Wir habenkeinenGrund, an
den AussagenvonWoodyAllensToch-
terDylan Farrow zu zweifeln.“Woher
nehmendie Autoren diese Gewiss-
heit? Die amerikanischeJustiz hat sie
bisher nicht aufbringenkönnen.Und
woher wollen siewissen, dass Woody
Allen sich„nie überzeugend mit den
VorwürfenseinerTochterauseinander-
gesetzt “habe?Die Autoren lassen sich
dochsowieso nurvoneinem Geständ-
nis „überzeugen“,weil dasUrteil ja
feststeht.Esgehtnicht darum,über
„Hexenjagden“zuklagen oder so zu
tun,als dü rften sichGenies alles erlau-
ben;wer etwasgetan hat, sollte dafür
zur Rechenschaftgezogenwerden,
abernur vonder Justizund nichtvon
Leuten, die sichauf ihrer moralisch
richtigen Seite mit schonfastbenei-
denswerterSelbstgewissheitgeborgen
fühlen. Dennlangsam wirddas alles
dochetwasgeistfeindlich.Rowohlt soll-
te da nicht mitmachen. EDO REENTS


Expertenfordernim


Streit umFrankfurts


Bühnen, es bei einem


Teilabrisszubelassen


–und beim alten


Standort. Zu Recht?


Der heutigeWilly-Brandt-
Platzzu Beginndes zwanzigs-
tenJahrhunderts: Manche
Frankfurterträumensogar
vonder Rückkehr des damali-
genSchauspielhauses.
Foto Institut fürStadtgeschichte

Album für später


Krankheit mitFolgen


Moral


friss tGeist


Soll Rowohlt


Woody Allenverlegen?

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