Frankfurter Allgemeine Zeitung - 22.02.2020

(C. Jardin) #1

SEITE 16·SAMSTAG, 22.FEBRUAR2020·NR. 45 Literarisches Leben FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG


DerGeburtfolgtder Bruch.DieersteZä-
suris tderAnfang,Existenznötigung,Le-
benszwang.Geburtstrauma,sagtdiePsy-
choanalyse. Ge worfenheit, sagt Martin
Heidegger.Ich lese lieber RorWolf.
Denn der untergräbt dieTraumataaller
Anfängeund Enden mit seiltänzerischer
Leichtigkeit, mit „Heckmeck, Hokuspo-
kus“, mit„Wortakrobatik,Spaß“, immer,
als wäre alles längstdagewesen und man
sei er st jetzt eingetaucht oder hineinge-
krochen.
WolfsersterLangprosatextvon 1964–
der Gattungszerschnetzler mied den Be-
griffRoman –trugbereits denTitel
„FortsetzungdesBerichts“undfolgteEr-
zählmustern vonWiederholung und
Überlagerung,Aufbruc hund Rückkehr,
als Versuch, das Diktat dervorandrän-
genden Zeit zu zerlegen, „denn dieZeit,
diebügeltallesglatt“, alsVersuch,die Le-
bensleeremit Sprachmasse, Bildfülle
und Erinnerungsanhäufung zu überwu-
chern.
Die Gedichte mit demTitel„Drei un-
vollständigeVersuche das Leben zu be-
schreiben“sind1968, 1995und2002ent-
standen. Siefolgen einer ähnlichen An-
ordnung vonAusbruchund Ankunft,
sind eineReihungvonAuf undAb,mit
Ortsnennungen überlagert, derenKoor-
dinaten den LebensstationenRorWolfs
ähneln. 1932 in Saalfeldgeboren, siedel-
te er 1953 in die Bundesrepublik über
und musste34Mal umziehen, bis er
1989 schließlichauf dem MainzerKup-
ferbergankam,wo das Ic hdieses Ge-

dichts„mit derGeduld einesSteins“woh-
nen blieb.
In den drei Gedichten nähertsichdas
sprechende Ichnur in der Mitte, dem
„Zweiten unvollständigenVersuch“, ei-
nem Ziel. Im drittengeht es weiter .In
WolfsKosmos heißtAbschlussnie Ende.
Alles hat es immergegeben, allesgeht
weiter seinen Gang. Das rhythmisch,
klanglichperfekt gearbeiteteHingleiten
in diesem zweiten unvollständigenVer-
suchsteht völlig imKontras tzum inhalt-
lichruhelosen Oszillieren des Gedicht-
verlaufsund seines Sprechers.
Das Leben beginnt abseitig, „amRan-
de der Saale“, undgleichwirddas subtil
SeltsamevonWolfsSprache deutlich,
wenn dieserRand tr otzdem dieMitteder
Welt dar stellt, in die man hineinkrie-
chen muss. Im ersten un vollständigen
Versuchheißtes krasser:„Herausgerupft
im Juni um zwei Uhr,/mit Zangen
nachts hinein in die Natur“. Als hättedie
große BüglerinZeit den gewaltvollen
Moment geglättet –zwischen erstem
und zweitemVersuchliegen 27 Jahre–,
so werden die Brüche im zweitenVer-
suchnuanciertertransportiert.
Erstmals wirddie klanglichdurchge-
formte Reihung der Anfangsstrophe in-
haltlic hgebrochen,wenndasIcheineSe-
rievon Erlebnissen, Handlungen oder
Gefühlen berichten will, bevoresunver-
mittelt abbricht und auf „ein anderes
Feld“ verweist. Im Anschlusserfolgt die
Mahnung zumAufbruch. Also,raus aus
Saalfeld!

Bundesrepublikanisch-geographisch
betrachtet,zieht es das Ichzunächst
nachWestenund in die Mitte des Lan-
des,nachFrankfurtnämlich, dortjedoch
in den Süden derStadt.Nur um dann,
vielleicht schmutzerfahrungsgemäß,
nachNordenweiterzudriften, wo die an-
gerissenenErlebnissewomöglichein un-
behaustesUmherziehen andeuten.Wie-
der südlichalso, in die Schweiz, dann er-
neut östliches Deutschland, nochmals
Schweiz,wo das Ic habermals nichtver-
weilt und sichzum entferntestenPunkt
vomAusgang begibt, ins klanglichklap-
pernde Manhattan.
Es is tder Klang,derschon in dervor-
letztenStrophe durch sanftere, längere
Silben langsamein Ausgleiten, ein Ein-
pendeln bewirkt.Nachder zerhackten
Kurzsilbigkeit in dervorherigenStro-
phe,wie in „dortwar ic hmal oben mal
unten“, übernimmt nun einweicherer
Ton, hervorgerufen durch genügsam
langgezogene, mitteleuropäische Orts-
namen („Paris“, „Gonsenheim“,„Wies-
baden“).
Die ersten Worteder letztenStrophe
(„Ichhabe gewohnt“) wiederholen noch
einmal die ersteZeile dervorigen, fünf-
ten, sowie die ersten beidenZeilen der
drittenStrophe. Durch Wortwiederho-
lung und Klangspiegelung entspinnt sich
ein Sprachnetz, das dasgesamteGedicht
ineinanderschlingt.Wie in RorWolfs
Collagen,wo keines der übereinanderge-
lager tenund nebeneinander aufgekleb-
tenObjekteamfalschen Platz scheint,

entwirftderAutor indiesemformvollen-
detenGedicht auf der Inhaltsebene eine
ruheloseReise nachMainz, die durch
kompositorische Ordnungsliebe schließ-
lichaber zu einemRuhepol führt.
Das Unkonkrete(„Ichhabe gewohnt
in den Bergen“) mündetinder ganz kon-
kreten Gegenwart („jetztwohn ich am
Kästrich in Mainz“).Nunbesitzt das Ich
diesen Ort(Mainz–meins).Unddiese
Stadt gehörtseit seinemTodam17. Fe-
bruar aufewig mitRorWolf zusammen.
Ichwerde RorWolf lesen–mitderGe-
duld einesSteins –und ihn bis ans Ende
meines Lebens vermissen. Dochich
weißauch,dasserjetztdasist,waserlite-
rarischschonimmerwar: unsterblich.

RorWolf: „Die Gedichte“. Schöffling Verlag,
FrankfurtamMain 2017. 576 S.,geb., 25,– €.

VonJan Wilm is tzuletzt erschienen:„Winter-
jahrbuch“. Schöffling Verlag, Frankfurtam
Main 2019. 456 S.,geb., 24,– €.

Eine GedichtlesungvonThomas Huberfinden
Sie unter http://www.faz.net/anthologie.

In Saalfeld amRande der Saale,


da krochich hinein in dieWelt,


da habe icheinigeMale –


dochdas is tein anderesFeld.


In Frankfurt, in Sachsenhausen,


da blies mir der Dreckins Gesicht,


in Hamburgwar ic hoft draußen,


dochdas fällt hier nicht ins Gewicht.


Ichhabe gewohnt in Sankt Gallen,


ichhabe gewohnt in Berlin,


da bin ichhinuntergefallen,


da fahreich wieder mal hin.


Ichbin nicht in Baselgeblieben,


dortwar ic hmal oben mal unten,


ichbin nac hfünf, sechs oder sieben


Jahren aus Baselverschwunden.


Ichhabe gewohnt in Manhattan,


in Gonsenheim und inParis,


im Nebel, im Dunstund imfetten


Wiesbaden, imRegen, im Gries.


Ichhabe gewohnt in den Bergen,


jetzt wohn ic hamKästric hinMainz.


Ichmöcht eamEnde bemerken:


mit der Geduld einesSteins.


FRANKFURTER ANTHOLOGIE Redaktion Hubert Spiegel


JanWilm


In seinem Kosmos istein Abschluss nie das Ende


RorWolf


Drei unvollständigeVersuche das


Leben zu beschreiben.


Zweiter unvollständigerVersuch


M

an erwartete, dass
eineHexeodereinirr-
sinniger Butler einem
die Türauftat, hinter
sicheineFledermaus,
die vomLüsterhing.
Im Sonnenschein aber oderwenn zwischen
den Palmen die Lichter brannten, sah das
Trianonzerbrechlichaus,wieeineIllustrati-
on aus einemMärchenbuch.Das Hauswar
mirans Herzgewachsen.“ Als Mr.Brown in
Graham GreenesRoman „DieStundeder
Komödianten“ nac hlanger Abwesenheit in
sein Hotelauf einem der HügelvonPort-
au-Prince zurückkehrt, is tvon derruhmrei-
chen Vergangenheit des Hausesnicht viel
übrig. Nur ein alterWerbeprospektpreist
noch„feinstenHaiti-Rum“undein„luxuriö-
ses Schwimmbad“an. DerRumist in
Greenes1966erschienenemRomanandie-
sem Abend schon ausgetrunken, und an-
statt einerillustrenAbendgesellschaftund
nacktbadendenTouris tenaus denVereinig-
tenStaaten findet der Hotelierimleeren
Swimming-Pool den leblosenKörper des
WohlfahrtsministersineinerBlutlache.Un-
terdem ir renDiktatorFrançois Duvalier
und seinen blutrünstigen Schergen, den
„Tontons Macoutes“, lauertedamals der
TodanjederEcke.
Seit demSturzdes Duvalier-Clans
wirddas Land derÜberzeugung so man-
chen Haitianersnach weiterhin von„Ko-
mödianten“ regiert. Die Spaltung der
Gesellschaftzwischender verarmten
Masseund de nkorrupten Honoratioren
der politischen Klasse hat sichverfestigt.
Auch die kollektive Traumatisierung
Haitis durch das fatale Erdbeben am 12.
Januar 2010 hat daran nichtsgeändert.
„WirhattendasGefühl,dassdieErdeunse-
re Verwurzelunginihrlöst,dasssieunsab-
lehnt, uns über Bordwirft.Das Gefühl der
Zusammengehörigkeit bekommt eine be-
sondereFärbunganeinem Ort,derunsbe-
ständig abzustoßen scheint“, erklärtdazu
der Dichter JamesNoël an einemschwü-
len Vormittag auf derVeranda des Hotels
Oloffson, das bei Greene unter dem
Namen „Trianon“ zur Bühne einerStaats-
komödiegeworden ist. Der 1978geborene
AutorNoël is teiner der zahlreichen inter-
national beachteten Literaten, die Haiti
seitde rAutoproklamationalserste„Neger-
republik“der Weltgeschichte1804 immer
wieder hervorbringt.
WenigeMonatenachder Katastrophe
um 16.53 Uhr an jenem Dienstagvorzehn
Jahrenverließ JamesNoël seine Heimat.
Vier Jahrespäter kehrte der preisgekrönte
Lyrikeraus seinemrömischen Exil, das
ihn unter anderem alsStipendiaten in die
Villa Medici führte, nachPort-au-Prince
zurück, um seinen ersten Roman über
jene albtraumhaften 35 Sekunden zu
schreiben, in denen sichdie Erde auftat.
Bis heuteliegen dieKathedrale und der
schneeweiße PräsidentenpalastinTrüm-
mern, amRande der Hauptstadt istder-
weil der größte und elendigste Slum des
Landes mit dem biblischenNamen „Ca-
naan“entstanden,undHaitisPräsidentJo-
venelMoïsebetonteamzehntenJahrestag
der Katastrophe, dassdie wirtschaftliche
Instabilität undvorallem dieregierungs-
feindlichenAusschreitungendervergange-
nen Monategrößeren Schadenverursacht
hättenal sdas Bebenmitbi szu300 000To-
desopfern.Während der offiziellen Ge-
denkfeierlichkeiten kameszueinem
Handgemengemit oppositionellen Akti-
visten, die dievomPräsidente namMahn-
mal niedergelegten Blumen entfernten
und sie durcheigene Gebinde ersetzten.
„DerAugenblick,in demmanseineAn-
gehörigenverliertund der eigenenVerlet-
zungengewahr wird, istein Momentgro-
ßer Einsamkeit, in dem man sichzugleich
ans Leben klammert. Insoferngab es eine


starke Solidarität, die auf längereSicht
aber nicht dazugeführthat, dasssichun-
ser Bewusstsein als Gesellschaftgeschärft
hat“, erzähltNoël während des Gesprächs
auf derVeranda des Oloffson. „Ichselbst
lebtezuder Zeit gleichnebenan undkam
ofthierher ,ummichineiner Ecke zu ver-
kriechen und zu schreiben. Bis heuteist
das Oloffson ein Emblem für die Hochzei-
tenunsererStadt, für unserenStolz. Es
schwebt irgendwozwischenRealität und
Traum. WirHaitianer sagen, nachts sieht
das weiß getünchteHaus mit seinenge-
zahntenHolz-Bordürenauswie eineschö-
ne Braut in ihrem Kleid.“

N

oëlsErdbeben-Roman,
der dieser Tage unter
dem Titel„Wasfür ein
Wunder“ auf Deutsch er-
scheint,handeltvoneben-
diesem unbeugsamen
Stolz der Haitianerund vonihrer bedin-
gungslosen Bereitschaft, sichangesichts
des ElendskünstlerischenTraumwelten
zu öffnen. „DieVorstellungvomWunder
isttiefinuns verwurzelt, es istunsereArt,
die Welt zu begreifen“, erklärtNoël den

Tite lseines Romans. „In unsereLebens-
welt nehmenwir Sphären auf,die sic hder
cartesianischen Ordnung entziehen, Din-
ge,die uns zumStaunen bringen. Haitia-
ner haben ein unstillbaresVerlangen nach
diesemWunder,eine wahreLust.“
„Was für einWunder“ erzähltpsycholo-
gischvielschichtigundmetaphorischüber-
bordendvonzweiÜberlebenden des Be-
bens,von seinen spirituellen,psychologi-
schen und auchsinnlichen Folgen undvon
derVerwandlungdesLebensbegriff sange-
sichts der Hunderttausenden Migranten
ins „Land ohne Hut“, wie die Haitianer
das Jenseits bezeichnen. Inmitten der un-
durchdringlichenStaubwolken derTrüm-
merlandschaftentrifft der jungeDichter
BernardaufdieitalienischeEntwicklungs-
helferin Amore. Das Beben der Erdever-
wandelt JamesNoël literarischzueinem
erotischen Beben.„Wie besessen schwin-
genLustund Elenddes KörpersimChaos
mit“,heißt es in der Szene, in der Bernard
auf demRollfeld des Flughafenskurz vor
der gemeinsamenAbreise nachRom eine
tiefeScham empfindetüber seine Flucht
aus der einstsostolzen, ersten freienSkla-
venrepublik der Weltgeschichte.„Die

traumhafteundzugleichalptraumhafteAt-
mosphäre meiner Geschichtespiegelt sich
zugleichineinerFeierdes Lebens, die in-
tensiver istals je zuvor.Wenn man derart
furchtbareDingeerlebt, kann einengenau
daszumPoetenmachen,eskanndi eSinne
schär fen. Plötzlich hat man das Bedürfnis,
innezuhalten, um eine Blume zu betrach-
ten, ebenweil alles um einen herum nach
Todund Verwesungstinkt. Man möchte
das Leben umso mehr spüren.“
Bernards GeliebteAmorewirdinNoëls
Roman derweil nicht nur zur „Frau, ganz
Frau, Flammenfrau,Feuerfrau,völlig frei-
en Frau“, zum postfeministischen „mini-
rocktragenden Drachen“, auf dessen
SchwingenerdasLandverlässt.Sieverkör-
pertzugleic hdie Selbsterke nntnis,dass
die„Spendenflut“nurzuseltendietatsäch-
lichNotleidenden erreicht und viele Hel-
fervor allem ihreeigene Legitimierung –
und Finanzierung –imAugehaben. Hilfs-
organisationenundihreMilliardenverspre-
chen wie die in Haiti längstverfemteBill-
Clinton-Stiftungwerden in NoëlsRoman
zu „Seraphim“, den „eigentlichen Beherr-
scher ndes Himmels und der Erde“. Ange-
sichts der selbsternannten Helfer,die mas-

senhaftins Landströmen,steigen die Im-
mobilienpreise inPort-au-Prince in unge-
ahnte Höhen, und „auf den tränentreiben-
den Geruchdes Todes hat sich der Ge-
stank des Geldesgelegt ...DreiBuchs ta-
ben,die wie drei SchlägeamTor desUn-
heils klingen.NGO. NGO. NGO.“
Tatsächlich brachwenigeMonate nach
demBeben eine Cholera-Epidemie aus,
nachdem UN-Hilfstruppen ausNepal ihre
Fäkalien in den wichtigsten Versorgungs-
flussdes Landes entsorgt hatten. InNoëls
poetischemUniversu mwirddiesenochim-
mernichtgänzlic haufgearbeiteteTragödie
mitTausendentödlichenInfektionenzuei-
nem weiteren„Wunder“ derWirklichkeit.
„Mit geschwollenerBrust,Blauhelm-Reise-
pass, Blauhelm-Koffer, ihrem Riesenkopf
und den klotzigenSchuhen.Ungefilter te
Arroganz. Ungeprüfte Landung.Ein alle
Vorschriften dergroßen Friedens- und Si-
cherheitsorganisationen derWelt entge-
gengesetztes Gebaren, das insgeheimmit
denBehördenvorOrtausderPerledesAn-
tillen eine in ScheißeschwimmendeInsel
macht .Ein Wunder!Wasfür ein Wunder!“
Es gehe ihm nicht um Moral, betont
JamesNoël, als er an diesemVormittag in

die Sonne blinzelt und an seinemHaiti-
Kaffee nippt. Derweiß livrierte Ober lä-
chelt wissend, als er demStammgastaus
einigenMeternEntfernungdiskretbeides-
sen hartenWorten lauscht.„Es geht um
den Massenansturmall dieser Helfer,die
ichals ‚Vögel am Himmel‘ bezeichne. Sie
bereichernsichletztlichanden Leichen-
bergen, sie lieben Menschenfleisch, sie
mästensichane inem Ort, an dem am 12.
Januar 2010 eineTodespestausgebrochen
ist.“

Z

ehn Jahrenachdem Beben
liestsichsein Roman wie
einetiefenpsychologische
Reflexion,einemalspieleri-
sche, mal zynische poeti-
sche Aufarbeitungder(eige-
nen?)Traumatisierung.Noëlruftverschie-
dene Zeugen in seine literarische Arena,
die ihreureigenenVersionen und Erinne-
rungen formulieren.In musikalischrhyth-
misiertenKapitel nintonierterdie dishar-
monische Vielstimmigkeit der „dunklen
Symphonie“,diedieErdewährenddesBe-
bens spielte. Fliegendwechselt das Genre
zwischen Protokoll ,Bewusstseins strom,
Gedichtund lyrischer Prosa;Zeit- un dBe-
deutungsebenenfließen ineinander.Kann
man ein Erdbebenstrin gent erzählen?
„JedeGeschichte, die in einenKörper ab-
taucht, wirdunausweichlichzur Fiktion.
Wenn wir anfangen, dieFiktion des ande-
reninZweifel zu ziehen, dann zweifeln
wiramZauber des Lebensselbst“,heißt es
im Roman. Er spielt die unterschiedlichs-
tenRegis terder Erinnerung durch und
scheut dabeiweder die posttraumatische
Bilderwutnochdie Anrufungder Voodoo-
Gottheit „Papa Loco“.
Fragt man JamesNoël nachder spiritu-
ellen Deutung derKatastrophe, verweist
erdarauf,dassdieApokalypseeinLander-
schütterte, dasganz undgarvon Religion
und Gottheiten durchdrungen ist. „Einige
Tage nachdem Bebenkamdie Frageauf,
wieso dieVoodoo-Gottheiten dieKata-
strophe nicht habenkommen sehen. In
der haitianischenVorstellungswelt gibtes
verschiedenfarbigeSchmetterlinge, die an
unserem inneren Himmel umherflattern
undsymbolischeBedeutungenhaben.Der
schwarze Schmetterlingsteht für denTod.
Am 12. Januar 2010 hat es schwarze
Schmetterlingeauf Port-au-Princegereg-
net. Das hat unsereIdentität inFragege-
stellt, unser Geschichte undvorallem un-
serenVoodoo-Glauben.“ Das Motiv des
Schmetterlings,den dieVoodoo-Gottheit
Papa Loco nicht mehr durch Winde kon-
trolliertund der durcheinen einzigen Flü-
gelschlagTausende Menschenleben aus-
löscht, will JamesNoël auc hals Metapher
auf „dasgroße Buchdes Lebens“verstan-
den wissen, das alleSträngedes Weltge-
schehenszusammenführt, uns aber längst
aus den Händengefallen ist. Im Welten-
chaos sieht JamesNoël Haiti alsFieber-
thermometerdes Blauen Planeten.
Fieberthermometer?Bevorersichlang-
sa mvon seinem Dinner-Stuhlerhebt, der
vielleicht schon seit Graham GreenesZei-
tenhier im HotelOloffson ste ht, be vorer
dem betagten Ober ein freundschaftliches
Zeichen zumAbschied macht und diesen
mysteriösen Ortdann eine Weile sich
selbstüberlässt, sagt JamesNoël noc hei-
nen sehr eindrucksvolle nSatz aus seinem
Buch:„Wenn sichdie Erde mit solcher
Wuchtgegen unsstemmt,wenn sie sich
wie ein frischaus einem Fluss
entstiegener Stier schüttelt, dann des-
wegen, weil sie anfängt auszumisten. Ihr
werdet sehen, baldwackelt der ganze
Planet.“ CORNELIUSWÜLLENKEMPER

JamesNoëls Roman „Was für einWunder“,
übersetzt aus demFranzösischenvonRikeBol-
te,erscheint am 10. MärzimVerlag Litradukt.

Als die Erde uns


abschütteln wollte


Emblem der Hochzeit Haitis? JamesNoëlimHotel Oloffson, dasvonder Katastropheverschontblieb. FotoWüllenkemper

Zehn Jahrenach demverheerende nErdbebe nwirft derhaitianischeAutor


JamesNoël einen poetische nBlickauf die Vorstellung sweltenseiner Heimatinsel


underklärtsie zu mGradmesser einesgebeutel tenPlane ten. Erinnerung an ein


Treffenimlegendären HotelOloffsoninPort-au-Prince.

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