Frankfurter Allgemeine Zeitung - 22.02.2020

(C. Jardin) #1

SEITE 20·SAMSTAG, 22.FEBRUAR2020·NR. 45 Unternehmen FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG


tp. ROM. Italie nwill sic hnachAlitalia
nocheine zweiteZombie-Fluglinie zule-
gen. Nunwirdintensiv darüber disku-
tiert, wieauchdie verlustreicheRegional-
fluglinieAir ItalykünstlichamLebener-
haltenwerde nkann. Air Italyhatteam


  1. Februar denFlugbetrieb eingestellt,
    weil die bisherigenAktionäredie Liqui-
    dierung der Linie beschlossen hatten.
    Nach Medienberichten hatte Air Italy
    2019einen Umsatz von300 Millionen
    Euround einenNettoverlus tvon mehr
    als 200 Millionen Euroeingeflogen. Der
    bisherigeHauptaktionär,Aga Khan,
    Oberhauptder Religionsgemeinschaft
    der Ismaeliten, hattedas Int eresse an der
    Fluglinieverloren. Früher warsie un ter
    denNamen Alisar da undMeridianaEuro-
    pamit der sardischenCostaSmeraldaver-
    bunden,die vomAga KhanzueinemLu-
    xusreisezie lentwickelt worden war. Die
    Immobilien hat der AgaKhanaber
    längst verkauft.


Zuletzt wurde dieCosta Smeraldavon
Qatar übernommen,weshal bsichseit
2017 dieStaatslinie des Emirats, Qatar
Airway s, als Minderheitsaktionär mit
Prozent an Air Italyengagierte. Fürden
Weiterbetrieb derFlugliniewäreeineKa-
pitale rhöhungvon500 Millionen Euro
nötig gewesen, dochvor allem fürden
AgaKhanschien eskeineAussicht mehr
zu geben,jedie Rentabilitätsschwelle zu
erreichen.Frühere Plänefür einenAus-
bau vonAir Ital yzueiner europäischen
Fluglinie mit50Flugzeugen,vorgestellt
im Jahr2017,sind geschei tert.
Nunwirdinder italienischenRegie-
rung fieberhaftnachMögli chkeiten ge-
sucht, das Leben der FluggesellschaftAir
Ital ykünstli ch zu verlängern.Während
die bisherigen Aktionäreeigentlichbe-
schlo ssenhatten, alleGläubigerderFlug-
linieund alleKäufer vonTicketsfür künf-
tigeFlügezuh under tProzent zu entschä-
digen ,will VerkehrsministerinPaola De

Micheli einenanderenWeg: Statt Ab-
wicklung mit hundertprozentiger Ent-
schädigung der Gläubiger solleeseinVer-
gleichsverfahrengeben.Dannkönne das
Geld, dasvonden bisherigenAktionären
zur Bezahlung der Gläubiger nachge-
schossen wurde,zur künstlichenVerlän-
gerung des LebensvonAir Ital yverwen-
detwerden .Zudemkönne dann die Be-
legschaftind en Genuss vonKurzarbei-
tergeld kommen.Vorausgesetzt istaber
die eherfiktivwirkende Annahme, dass
Air Italylängerfristigfortgeführtwird
und nurvorüber gehendineiner Krise
steckt.
An dieStelle desAgaKhan mit seinen
bisher51 Prozent derAnteilevonAir Ita-
ly sollen nachden bisherverbreit eten
Ideen künfti gdie italienischenRegionen
Sardinienund Lombardei tre ten, weil
bisherdie 1450Air-Ital y-Mitarbeiter
vonden Flughäfen im sardischen Olbia
und im lombardischen Mailandstarte-

ten. Dabeigeht man zunächst davonaus,
dassQatar Airways an Bordbleibt,ob-
wohl vondieser Fluglinie Interesse an ei-
nem WeiterbetriebvonAir Ital yoffiziell
dementiertwurde. Seit die Idee eines
Weiterbetriebsvon Air Italyinden tägli-
chen Fernsehdiskussionengelandet ist,
wirdnun an dieser Idee festgehalten,
selbstwenn Qatar ausscheiden sollte.Im
Fall de rseit 2017 mitStaatskreditenam
Leben erhaltenen FluglinieAlitalia hat
sichinzwischen derzuständigeMinister
Stefano Patuanellizum Prinzipderstaat-
liche nSubventionenbekannt.„WerAl-
italiakauft, mussdie Schuldengegen-
über demStaat nicht übernehmen“, sag-
te Pa tuanelli imRadio. EndeFebruar
willer nun eine neueAusschreibung ma-
chen, um einenÜbernehmer für Alitalia
zu finden. Bisherwollte die Regierung
keine Zerschlagung zulassen undfand
daherkeine Interessenten.(Kommentar
Seite 24.)

Huaweigewinnt Verträge
Die VereinigtenStaatenwerden nicht
müde, ihreVerbündetenvor der
5G-Technik vonHuaweizuwarnen.
DochinEuropa ignorierenviele Anbie-
terdie Boykott-Aufrufe. Derchinesi-
sche Konzernhat weltweit 91Verträge
mit Mobilfunkprovidernzum Aufbau
vonMobilfunknetzenderfünftenGene-
ration (5G)gewonnen. DasteilteHua-
wei-ManagerRyan Ding mit.Über die
Hälfte der Verträge –nämlich47Kon-
trakt e–stammenvoneuropäischenMo-
bilfunkanbietern. dpa

ADP-Flughäfenkaufen zu
Die Betriebsgesellschaftder Pariser
Flughäfen,ADP,übernimmtfür1,4Mil-
liarden Euroeine Beteiligungvon
Prozentamindischen Flughafenbetrei-
berGMR Airports.Nacheigenen Anga-
benwird ADP damitdergrößteFlugha-
fenbetreiber derWelt vordem spani-
schen AnbieterAena undVinci aus
Frankreich. GMR betreibt siebenFlug-
häfen in Indien, auf den Philippinen
und in Griechenland. ADP istdirekt
oder über Beteiligungen für 24 Flughä-
feninder Welt verantwortlich. chs.

Rhön-Klinikum schwächelt
Der privateKrankenhausbetreiber
Rhön-KlinikumAG sagt für 2020 einen
Gewinnrückgang voraus. Demnach
dürftedas operativeErgebnis (Ebitda)
auf einemWert zwischen72,5 und 82,
MillionenEuroliegen,nachdemimver-
gangenen Jahr mit 125,3 Millionen
Eurodas Vorjahresniveau erreicht wur-
de. DasUnternehmen benenntvoral-
lem regulatorische Änderungen als er-
gebnisbelastenden Faktor. ikop.

Neuer Pakt fürT-Mobile US
Die TelefongesellschaftenT-Mobile US
und Sprint Corphaben dieVereinba-
rung für ihrengeplantenZusammen-
schlus sgeändert. Nach der Milliarden-
fusion, die bis 1. April abgeschlossen
sein soll,werdedie DeutscheTelekom
als Obergesellschaftvon T-Mobile US
rund 43 Prozent an der „neuenT-Mo-
bileUS“ halten,einProzentmehrals ur-
sprünglichgeplant.Der japanische
Mischkonzernund Sprint-Großaktio-
när Softbankwerde24statt 27 Prozent
an der neuen Gesellschafthalten,teil-
tendie Telekom und Sprint in der
Nach tzum Freitag mit. Reuters

T


axilizenzengalten inNewYork
lange Zeitals glänzendeGeldan-
lage. DerWertdieser sogenann-
ten„Medallions“ istüber viele
Jahrehinwegkontinuierlichgestiegen.
Aber derAufstieg vonFahrdienstenwie
Uber undLyft,der zu Lastender berühm-
tengelben TaxisinNewYorkging,hatdie-
sen Wert dramatischfallen lassen.
In vielenFällen liegt er heuteunter den
mit einem „Medallion“ nochverbundenen

Schulden.Viele Lizenzinhaber sind daher
in finanziellen Schwierigkeiten. DieNew
Yorker Taxigewerkschafthat eine Serie
vonSelbstmorden in derTaxibranche mit
der Konkur renz durch die neuenFahr-
dienste inVerbindunggebracht.
Jetzt sieht sichdie Stadt NewYork
schweren Anschuldigungengegenüber,zu
dieserNotlagebeigetragen zuhaben. Der
Bundesstaat NewYork, in dem sie liegt,
wirft ihr vor, den Preis für die Lizenzen
zwischen 2004 und 2017 „auf betrügeri-
sche Weise“ in die Höhegetrieben zu ha-
ben. Generalstaatsanwältin Letitia James
fordertnun vonder Metropole 810 Millio-
nenDollaralsEntschädigungfürLizenzin-
haber.Solltedies nicht binnen 30Tagen
geschehen,wolle sie eine Klageeinrei-
chen. „DieseTaxi-Medallions wurden als
PfadzumamerikanischenTraumvermark-
tet, aberstattdessen wurden sie zu einer
Falltür in dieVerzweiflung,“ sagteJames.
Die Medallionswerden vonder New
Yorker Taxibehörde TLCinAuktionen
vergeben. Sie haben die Gestalt vonAlu-
miniumschildern, die auf den Motorhau-
ben der„YellowCabs“ befestigt sind. Es
gibt sie seit 1937, als dieStadt versuchte,
Ordnung in das bis dahin unregulierte Ta-

xigeschäftzubringen. Ganz am Anfang
wurden die Lizenzen für 10 Dollarver-
kauft, aber im Laufeder Zeit wurden sie
immerwertvoller.NachAngaben der Ge-
nerals taatsanwaltschaftwurde eine Li-
zenz 2004 für 283 000 Dollarversteigert,
2014 warenes965 000,wobei für be-
stimmteLizenztypen auchdie Millionen-
grenze überschritten wurde.
Der Stadt wirdnun vorgeworfen, dies
sei ein nicht zurechtfertigender Anstieg
gewesen, zu dem sie selbstbeigetragen
habe.Sie habedieLizenzen als„solideIn-
vestition“vermarkt et,die bessereRendi-
tenals Aktienverspreche. Sie habeKäu-
fermit derBehauptunggelockt,dieLizen-
zenkönntenalsSicherheitbei derAufnah-
me vonKrediten eingesetztwerden, zum
Beispiel zurFinanzierung eines Hauses.
Sie habe außerdem „künstliche“ Mindest-
gebote bei denAuktionengesetzt.
Dabei habe sie spätestens 2011 ge-
wusst, dassdie gezahlten Preise dentat-
sächlichenWert der Lizenzen überstei-
gen. Die Summevon810 Millionen Dol-
lar,die nungefordertwerden, entspricht
der Generalstaatsanwaltschaftzufolge
den Einnahmender Stadt aus dem Han-
delmitLizenzen.DazugehörendieAukti-

onserlöse sowieSteuern, die beimVer-
kauf bes tehender Lizenzen an Drittevon
der Stadt erhobenwerden.
Die NewYorkerTaxigewerkschaftbe-
grüßtedie mögliche Klagegegen die
Stadt.Eine Sprecherin des Bürgermeis-
tersBilldeBlasiobeschriebdieErmittlun-
gender Generalstaatsanwaltschaftdage-
genals ungerechtfertigt, zumal dieStadt
viel getanhabe, um derTaxibranche zu
helfen.Tatsächlichhat NewYork2018 be-
schlossen, ein Jahr langkeine neuen Li-
zenzen mehr an Uber undvergleichbare
Fahrdienste mehr zuvergeben. DiesesMo-
rato rium wurde inzwischenverlänger t.
Eine vonder Stadt eingesetzteArbeits-
gruppe hatteerstkürzlic hvorgeschlagen,
ein Hilfspaket für dieTaxibranche imVo-
lumenvon600MillionenDollarzuschnü-
ren, wobei dergrößteTeil da vonvon pri-
vatenInvestorenkommensoll. In einem
Bericht der Arbeitsgruppe hieß es zudem,
der durchschnittlicheWert vonTaxilizen-
zen habe imvergangenen Jahr nur noch
bei 200 000 Dollargelegen. InNewYork
gibt es insgesamt 13 600 „Medallions“.
DieZahl derUber-und Lyft-Fahrer in der
amerikanischen Metropole istdagegen
um einVielfaches höher.

NewYork, NewYork:Die berühmtengelben „Cabs“ prägen dasStadtbild–nicht nur auf der Brooklyn Bridge. FotoVisum

Air Italywirdzur Zombie-Fluglinie


Neben dergroßen Alitaliasoll nun auchder Regionalanbietermit Staatshilfeweiter fliegen


csc. DÜSSELDORF.Der deutsche Flug-
taxihersteller Volocoptersicher tsichwei-
tere prominenteUnter stützung. Als neu-
en In vestor konntedas Start-up aus dem
badischen Bruchsal, an dem schon Daim-
ler,der chinesischeAutokonzernGeely
und Intel beteiligt sind, den zur Deut-
schen BahnAG gehörenden Logistik-
dienstleisterDBSchenker gewinnen.
Zudem tritt der frühereDaimler -Vor-
standschef DieterZetsche in den Beirat
vonVolocopterein. Dem Gremium ange-
hören werden auchGeely-Manager
Frank Li, DB-Schenker-Vorstandschef Jo-
chen Thewesund Martin Hubschneider,
Gründer derCASSoftwareAG. Vonden
neuen Beiratsmitgliedernerhoffensich
die BadenerUnterstützung bei derstrate-
gischenWeiterentwicklungvonVolocop-
terund bei denVorbereitungen auf einen
möglichen Börsengang, wie es heißt.
Im Zuge der Er weiterung derFinanzie-
rungsrundeCvon 50 Millionen Euroauf
87 MillionenEuroengagieren sichneben
DB Schenker auchder japanischeVersi-
cherer Mitsui Sumitomo, der Risikokapi-
talgeber MS&AD undTrans-Link Capi-
tal. Insgesamthat Volocopterdamit 122
Millionen Euroeingesammelt. Mit dem

frischen Geld soll derZertifizierungspro-
zessdesFlugtaxis„Volocity“beiderEuro-
päischenAgenturfürFlugsicherheitabge-
schlossen und der Markteintrittvorberei-
tetwerden. Das elektrischangetriebene,
senkrechtstartende Fluggerät istspeziell
für denVerkehr imstädtischenRaum ge-
dacht .Den Plänen zufolgesollen in zwei
bis vier Jahren die ersten kommerziellen
Streckeneröffnetwerden.Zuletzt veran-
stalteteVolocopterTestflügeamFlugha-
fenvon Helsinki, inStuttgar tund über
der Marina BayinSingapur.
In der Entwicklung befindetsichzu-
dem die Schwerlastdrohne Volodrone,
die mit neuerFinanzierung zur Marktrei-
fe ge führtwerden soll. Hierkommt DB
Schenker ins Spiel: „UnsereKundenfor-
dernvonuns saubere, schnelle undzuver-
lässig eLösungen in der Lieferkette. Ich
bi nüberzeugt, dassDrohnen hier in der
Zukunfteine große Rolle spielen“, sagte
Vorstandschef Thewesder F.A.Z. Mit der
Volodronekönne derWunschder Kun-
den nachemissionsneutraler Ausliefe-
rung auchanschlecht erreichbarenOrten
bedientwerden. DB Schenker gilt dabei
als „idealerPartner“, um die gesamte
Bandbreiteder Logistik auszuschöpfen.

KurzeMeldungen


NewYorks Taxifahrer können hoffen


Schenker investiertinVolocopter


Früherer Daimler-Chef berät Flugtaxiunternehmen


Taxilize nzen habenim


Zuge desAufstiegs von


Uber dramatischan


Wert verloren .Jetzt wird


derStadtverwaltung


Betr ug vorgeworfen.


VonRoland Lindner,


NewYork


BRIEFE AN DIE HERAUSGEBER


Da die meisten Leser mangels fachli-
cher Expertise den Artikel „Monopol
der Verhaltenstherapeuten“wohl kaum
beurteilenkönnen,hiereinpaarEntgeg-
nungenaufdiePsychoanalytikerinMari-
anne Leuzinger-Bohleber in derF.A.Z.
vom6.Februar:Das „mechanistische“
Menschenbild, das die Autorinder Ver-
haltenstherapieunzutreffenderweiseun-
terstellt, kann man eher der Psychoana-
lysevorhalten,mandenkenurandielai-
enhafteDampfkesseltheoriederAggres-
sion.
Die Sorge um eine „Psychotherapie
light“könnteich nachvollziehen. Dies
istdie Verhaltenstherapie jedochnicht.
Sie setzt in viel höherem Maße die wis-
senschaftlichen Erkenntnisse konse-
quentinderpsychotherapeutischenAus-
bildung um,wasauf die Psychoanalyse
nur ingeringem Umfang zutrifft.Eshat
ja Gründe,warumdie psy chologischen
LehrstühleandenUniversitätenüberzu-


fällig häufig mitVerhaltenstheorie-An-
hängernbesetztsind,wiedieAuto rinbe-
klagt.Ferner sind verhaltenstheoreti-
sche Ansätze therapeutischuniversell
einsetzbar,was auf psychoanalytische
Verfahren, die eher bei bestimmten
Krankheitsbildernanwendbar sind,
nichtzutrifft.LetztlichgehtesumNach-
weise der Evidenz, und hier istdie Ver-
haltenstherapie eindeutig im Vorteil.
(Was hilftdem Patienten wirksam?)
Der Vorwurfder therapeutischen
„Einengung“und der„Entprofessionali-
sierung“, den die Autorinder Verhal-
tenstherapie im Artikel subkutan
macht, istfachlic hunzulässig, und sie
beweistdamit nur,dasssie geringe
Kenntnisseüberdiesenwissenschaftsba-
sierten therapeutischen Ansatz und sei-
ne kreativenund eklektizistischen An-
wendungen in der Praxis besitzt.

MAGDALENEKERNBICHLER,
HEILIGENHAFEN

In derF.A.Z. sind unlängstein Beitrag
und ein Leserbrief zu einerkaum be-
kanntenKatastrophe des 20. Jahrhun-
derts erschienen („Geschichtspolitik
vordemBundestag“vonStefanPlaggen-
borginder F.A.Z. vom5.Februar,„Was
kann eine Historikerkommission leis-
ten?“vonMartinSchulzeWessel,12. Fe-
bruar): Esgeht um den Holodomor
(ukrainisch„Tötung durch Hunger“) der
Jahre1932/33, einen vomStalin-Re-
gime organisiertenVölkermord, bei
dem mindestens 3,9 Millionen Ukrainer
verhunger tsind. Das Ziel diesergrausa-
men Strafaktionwar, das ukrainische
Bauerntum, das massivenWiderstand
gegendie Zwangskollektivierung leiste-
te,auszumerzen und somit dasRück-
grat derNation durch Verhunger nzu
brechen,weil sie eine Gefahr für dasto-
talitär eSystem darstellte. Jahrzehnte-
lang wurde diese schrecklicheTragödie
verschwiegen, darüber zu sprechenwar
eine Straftat(fünf JahreimGULag).
Das, washeutedie wenigen Zeitzeugen
berichten,lässt dasBlutindenAdernge-
frieren.DieMenschenstrittensichinih-
rerNot um Baumrinden, Blätter,Knos-
pen und Kaulquappen, es grassierte
Kannibalismus.
Am 21. Oktober 2019 eröffnete der
Petitionsausschussdes Bundestages
eine Debattezueinem Antrag (Petition
89118) mit 73177Unterschriften über
die Anerkennung des Holodomorsals
Genozid am ukrainischenVolk.Bedau-
erlicherweise hat dasAuswärtigeAmt
dem Parlament empfohlen,vondiesem
wichtigen Schritt der historischen Ge-
rech tigkeit abzusehen.Das Hauptargu-
ment istsehr formalistisch: Da der Be-
griffVölkermord(Genozid)erst 1948in
einereinschlägigenUN-Konventionver-
anker twurde, könne dieser auf dievor-
her begangenenVerbrechenkeine An-
wendungfinden.
Allerdings mussman dagegenhalten,
dassheutejak eine Zweifel bestehen,
dassderHolocaustalsGenozid einzustu-
fenist.UnddiemassenhafteTötungvon
ArmeniernimOsmanischenReich
istvom Bundestag am 2. Juni 2016 aus-
drücklichals Genozid anerkannt wor-
den. In der Debattedarüber wurde zu
Recht darauf hingewiesen, dassesbei
derVerwendungdesBegriffsVölker-
mordnicht um eine „juristische Ankla-
geerhebung“ oder einen „donnernden
Urteilsspruch“ gehe, sonderndarum,
die Dimension diesesVerbrechens zu
veranschaulichen.
Das zweite ArgumentvonKritikern
istgenauso wenig nachvollziehbar:
Auch in anderen Sowjetrepubliken sei-


en damals Menschenverhungert, daher
könne man das Massenverbrechenge-
gendie Ukrainer nicht hervorheben.
DochdiemittlerweileunbestritteneTat-
sache,dass1932/33auchetwa1,5Millio-
nen Kasachen ums Leben kamen,
spricht nicht gegenden genozidalen
Charakter des Holodomors. Ganz im
Gegenteil: DiesesFaktum unterstreicht
nurdie mörderische Planmäßigkeit Sta-
li ns, jeneethnischen Gruppen zuver-
nichten,diewiedie UkrainerihreUnab-
hängigkeit anstrebten. Mankann nicht
ausschließen, dasseines Tagesauchin
Kasachstan dieses Thema aufgearbeitet
und um seine internationale Anerken-
nung geworben wird.
Das dritteGegenargument lautet:
Deutschland habe mit dem Holodomor
nichts zu tun, daher bestehe kein politi-
scher Handlungsbedarf.Auch diese Be-
gründung istnicht überzeugend, denn
Massenverbrechen solchen Ausmaßes
betre ffen jedeNation und alle Men-
schen gutenWillens, gerade in der Bun-
desrepublik.Denn Deutschland trägt
eine besonderehistorische Verantwor-
tung gegenüber der Ukraine, die im
ZweitenWeltkrieg zwischen acht und
zehn Millionen Menschenverloren hat.
Jedervierte Einwohner der Ukraine, die
als Hauptschauplatz des Kriegs zwi-
schen 1939 und 1944vonder Wehr-
machtkomplett besetztwar, wurdevom
Naziregime umgebracht, darunter mehr
alsfünfMillionenZivilistenundmindes-
tensdreiMillionenSoldaten.Außerdem
wurden 2,5 Millionen Ukrainer als
Zwangsarbeiterindas DritteReichge-
waltsam verschlepptund als Sklaven
ausbeutet.
Es gibt einweiteres Argument, das
nurhintervorgehaltenerHandzumAus-
druc kgebracht wird: Man möchte Mos-
kau, wo der Stalin-Kult vomKreml pro-
pagandistischwiederbelebt wird, nicht
verärgern.Denn PutinleugnetdenHolo-
domor.Seine Anerkennung in Deutsch-
land wäre daher keine Schuldzuweisung
an dieRussen, sonderneine wichtige
Mahnung, dassdie Massenverbrechen
der Stalin’schen Diktaturverurteilt wer-
den müssen. Die Ukrainer hoffen, dass
dieBundestagsabgeordnetenderhis tori-
schenVerantwortung Deutschlandsge-
rech twerden und den Holodomor als
Völkermordanerkennen. Dieser mutige
Schritt würde in Deutschland die Millio-
nen Opfer würdigen sowie dazu beitra-
gen, solche Menschheitsverbrechen in
Zukunftzuverhindern.

ANDRIJMELNYK,BOTSCHAFTER DERUKRAI-
NE IN DERBUNDESREPUBLIKDEUTSCHLAND,
BERLIN

Zu „Angriff aufdie Privatversiche-
rung“ und zumKommentar„Vorschlag-
hammer im Gesundheitswesen“ von
Christian Geinitz (F.A.Z.vom18. Fe-
bruar).Vielen Dank für IhreArtikel.
Dassdie Interessenvertreteraus priva-
tenKranken versicherungen (PKV),
Bundesärztekammer,Arbeitgeberver-
band, Beamtenbund und soweiter eine
Bürgerversicherung ablehnen, istver-
ständlich. Sie würde sie in ihrer Exis-
tenz oderzumindestinihrenwirtschaft-
lichen Interessen berühren. Dabei ist
das gegenwärtig eSystemungerecht
und zudem ineffizient.Soentziehen
sichPrivatversicherte der Solidarität.
Sonderlasten, wie zum Beispielfür alte
Menschen,Familien, Migranten oder
auchfürKrankheiten,werden inderge-
setzlichenVersicherung (GKV) soziali-
siert. PKV-Versicherte zahlennur für
ihr eigenes Risiko, das niedriger liegt
als das der GKV-Versicherten, schließ-
lichkommt da auchnicht jederrein.
Das spaltet die Gesellschaft. Dabei
nutzt es nicht, Menschen, die dies be-
nennen, einfachzu diffamieren.
Das Krankenversicherungssystem ist
sehr zersplittert.Das schwächt die
Marktmacht derKunden –spric hPa-
tienten. Zwar wirdversucht, dieVer-
handlung über Leistungen und Medizin
zwischen den Krankenkassen zu bün-
deln. Da aber sehr unterschiedliche In-
teressen dahinterstehen, sind sie in der


Verhandlunggege nüberPharmakonzer-
nen, Ärzten, Krankenhäusern im Nach-
teil. Es istzuvermuten, dasseine Stär-
kung der Verhandlungsposition der
KrankenkassenzueffizienterenProzes-
sen und niedrigerenKosten oder besse-
renLeistungen für alle führt. Dabei
müssen ÄrztenichtzwangsläufigVerlie-
rersein. Auch sind PKV nicht notwen-
dig, um Innovationen zu treiben. Es
stellt sichlediglichdie Frage, wie frei
werdende Mittelgenutzt werden.
Die Äußerung des Arbeitgeberver-
bands isteigenartig. Er spricht von
Wettbewerb im dualen System. Dabei
gibt es hierkeinen Wettbewerb. Die
Masse derVersicher tenkann dankVer-
sicherungsgrenze nichtwechseln. Die
Bedenken, dasseine Sozialisierungvon
Rück stellungen möglicherweise verfas-
sungswidrig sei, mussman ernstneh-
men. Dabei mussman aberkeineswegs
dieses System verfassungswidrig umge-
stalten. Die Entscheidung, sichprivat
zu versichern, solltenicht getrieben
sein durch die bloße Erkenntnis, dass
man sichbesser stellt, weil man mit ei-
nemWechsel indiePKVden „Sozialbal-
last“ abschüttelnkann. Ein Lastenaus-
gleich, der derzeit zwischen dengesetz-
lichen Krankenversicherungenstattfin-
det, könntevergleichbar zwischen
GKV und PKV funktionieren und Ge-
rechtig keit bringen.

WERNER PROST, REGENSBURG

Washilft demPatientenwirklich?


Holodomor als Genozid anerkennen


UngerechtesGesundheitssystem

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