Frankfurter Allgemeine Zeitung - 22.02.2020

(C. Jardin) #1

FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG Politik SAMSTAG, 22.FEBRUAR2020·NR.45·SEITE 3


D

er Tätervon Hanau hatte
dafür Sorge getragen,
dass sein Bild und seine
kruden Worteinder
Welt bleiben, auchnach
seinemTod. Diejenigen,
die er ermordete,konntenkeinenEinfluss
nehmendarauf ,obu nd wie man sich an
sieerinnert. Dasübernehmen nunandere.
Sie haltendie Bilder der Getötete nhoch.
AmDonnerstagabendkamen auf demHa-
nauer Marktplatz, einemgroßen Platz, so
viele Menschen zusammen, dassernahe-
zugefüllt war. Die Polizeisprichtvon
Personen.EinigehattenPlakatedabei,aus-
gedruck te Fotosder Opfer.Darauf sind
junge,oft lächelnde, oftentspannt ausse-
hende Leutezusehen.Inden sozialen
Netzwer kenhattesichdaschon der
Hashtag #SayTheirNames verbreit et,
„Sage ihreNamen“. Im Internetsind die
Namennunzulesen,manchmalauchabge-
kürzt, um dieFamilienzus chützen.Außer
sichund seiner MuttertöteteTobias R.
achtMännerundeineFrau,allemitMig ra-
tionshintergrund, manchemit ausländi-
sche r, manchemitdeutscherStaatsan gehö-
rigkei t. Der Jüngstewar 21, der Älteste 44.
DerHashtagentstandausdemGefühlher-
aus,dassmehrheitlichüberden Täter,
abernicht über die Opfer gesprochen
wird; dassR.durch die Tatdie Aufmerk-
samkeit bekommt,die er habenwollte.
AlsoschaffenAngehö rige und Freunde
Aufmerksamkeit für Sedat G., Mercedes


K., Hamza K.,Kalojan W.,Bilal G.,Fatih
S., SaidNessar El H., Gökhan G. undFer-
hat Ü.
Übereinigevonihnenistetwasmehrbe-
kannt,zumBeispielüberFerhatÜ. Erwur-
de in Deutschlandgeboren und ginghier
zur Schule,war Kurd e. Er wurde 22 Jahre
alt.Erstvor kurzem hatte er seineAusbil-
dungzumAnlagenmechanikerabgeschlos-
sen.SeinVater erzählteder „Bild“-Zei-
tung, dasserein lebensfroherMann gewe-
sen sei, derTechno-Musik und Hiphop
mochte. Oftsei er mitFreunden in der
„Arena“-Bar,dem zweitenTatort,gewe-
sen.Der Vatersagtenachdem Todseines
Sohnes:„Wir sind am Ende unsererKräf-
te.“ Undder Cousin sagte: „Deutschland
mussjetzt zusammenhalten. Wirhätten
nie gedacht, dasssoetwas in diesemLand
passierenkann,dasunsereHeimatist.Wir
dürfenjetzt keinenKrieg anfangen,wir
müssenruhig bleiben.“
GökhanG.wurde 37 Jahrealt.Bald
wollteersichverloben.Neben seinemBe-
rufals Maurer jobbteerabends im Kiosk,
der neben der„Arena“-Barliegt.Vor 42
Jahre nwar sei nVater aus der türkischen
Stadt AgrinachDeutschland, nachHanau
gekommen. Sein Sohn Gökhan istinHa-
nau geboren.Aufdem Foto,das vonihm
nun oftzusehen ist, sitzt er aufeinem bei-
genSofa, trägt eine schwarzeTrainingsja-
ckeundschautnachdenklichanderKame-
ra vorbei.
Einer derTotenwar er st vorkurzem
nachHessen gezogen, erstammteaus Re-
gensburg,wiederBayerischeRundfunkbe-
richtet. Er wolltesich selbständig machen.


Seine Familiemöcht eoffenbar,dasserin
der Türkei beerdigt wird.Über die ande-
renOpfer is tnicht viel bekannt.Mercedes
K. wareine Romni ausPolen und Mutter
vonzweiKindern.SedatG., 30 Jahrealt,
gehörte dieShisha-Bar „Midnight“, in der
Tobias R. zuerst mordete. Auch der Betrei-
ber von„La Votre“ ,der Bar neben dem
„Midnight“, wurde ermordet.Die türki-
sche BotschaftinBerlin bestätigte, dass
unter den Opfernfünf türkischeStaatsan-
gehörig eseien. Das bosnisch-hercegovini-

sche Generalkonsulatteiltemit, das sein
Bosnier und einBulgar ein Hanaugestor-
ben seien.
Der zweiteTator tliegt imStadtteil Kes-
selstadt, wo Tobias R.wohnte. Es istder
weniger hübscheund bü rgerliche Teil von
Kesselstadt, die sogenannt eWests tadt.
Der Kiosk und die„Arena“-Barliegen im
Erdgeschosseines tristenHochhauses.
Hier starbenfünf Personen. Der Besitzer
desKiosksbericht etet edertürkischenZei-
tung „Hürriyet“, der Angreifer habe zu-

nächs taufdreitürkischeGäste geschossen
und anschließend auf einen türkischen
Kellner. Sein Sohn sagte, zwei der Opfer
seienMitarbeiter.Inder Weststadt kennen
sichviele untereinander,oftschon seit der
Geburt. Der Kiosk und die„Arena“-Bar
am Kurt-Schumacher-Platz sind Treff-
punkt efür Migranten in einer ansonsten
unwirtlichen Gegend. Am Donnerstag-
morgen, wenigeStunden nach der Tat,
standeneinig eBürger–vor allem Migran-
ten–am Flatterband, mit dem derTatort

abgesperrt war. Einer erzählte, dasser
Freunde verloren habe am Mittwoch-
abend. Er überlebte,weil er frühvonder
„Arena“-Bar nachHause ging, um mit sei-
nerFamilie zuAbend zu essen.Ihn und
viele anderebewegt, dassder Täter of fen-
sichtlichnicht wahllos,sonder ngezieltge-
genMenschenmit Mig rationshintergrund
vorgingund die Orte aufsuchte, diesie be-
suchen. In den sozialenNetzwer kenwird
immer wieder darauf aufmerksam ge-
macht, welche Bedeutung Shisha-Bars für

viele Migranten haben. An denTürenvon
Clubsund Diskos würden siehäufig abge-
wiesen, in Shisha-Barsaber sind sie will-
kommen, so schildernsie ihr eErfahrun-
gen.
Als vonDonnerstagvormittag anPoliti-
keraus S tadt, Land und BundinHanau
eintrafen, wurden sieschonvon Vertre-
tern der Migranten-Community erwartet.
Siewolltentrauern,aberauchmitden Poli-
tiker nsprechen. Einigefingen Bundesin-
nenministerHorst Seehofer (CSU) ab und
erinnertendaran, dassdie Opfer zur deut-
schenGesellschaftgehörten.Of fenbarhat-
tensie das Gefühl, dassdieser Appellnot-
tut. Seehoferversicherte, dassdie Gesell-
schaf tzusammenstehe.Auch derOpferbe-
auftragteder Bundesregierung,Edgar
Franke,war nac hHanau gekommen, um
denAngehörigenbeizustehen.AllenAnge-
hörigen, aller Opfer.

U

nter ihnen sind laut dem
größten kurdischenDach-
verband in Deutschland
mehrereMenschenkurdi-
scher Herkunft. Der Vor-
sitzende derKurdischen
Gemeindein Deutschland, Ali Ertan To-
prak ,forder te einen entschlossenen
Kampfdes Staates gegenRechts terroris-
mus.Erfandbedachte,aberauchmahnen-
de Worte. Dem Redaktionsnetzwerk
Deutschlandsagteer:„WirweisenseitJah-
renauf die Gefahren hin.“ Esgebe keinen
Zweifel daran, dassdie Mehrheit derMen-
schen in Deutschland für die Bekämpfung
desRechtsextremismussei.Aberdiesmüs-
sesich im Handeln desStaateszeigen. Der
stellvertr etende Vorsitzende MehmetTan-
riverdiforde rt,dasssichMenschenmitMi-
grationshintergrund in Deutschland si-
cher fühlenmüssen.„InderdeutschenGe-
sellschaftunterstützen 20 Prozent der
WählersolcheTendenzen“,sagter. Siehät-
tenVorur teilegegenMigrantenundMusli-
me. „Soetwaskann überallpassieren.“
DieKonföderationder GemeinschaftKur-
distans inDeutschlandkritisiert, die„poli-
tischen Verantwortlichen“ stellten sich
„rechten Netzwerkenund Rechtsterroris-
musindiesemLandnichtentschiedenent-
gegen“. Allebetonen, wie wichtig es nun
sei,zusammenzustehen. EineÄußerung
fälltda etwasheraus. DerSprecherdestür-
kischen PräsidentenRecep Tayyip Erdo-
gansprac hvon einem „rassistischenAn-
griff“ und „unseren Bürgern“, die bei der
Tatums Lebengekommen seien.
TobiasR.tötetezehn andere Personen,
abererverletzte auch sechs, einenvon ih-
nen schwer:MuhammedB.Erist 20 Jahre
alt undverbrachteden Mittwochabendin
der „Arena“-Bar imStadtteilKesselstadt.
Nach einerNotoperation wirdernun im
St.-Vincenz-Krankenhausbetreut.Dertür-
kischeFernsehsender„a News “hat ihn
dortbesucht .IneinemVideo, das die
Nachrichtenagentur Reuter sverbreitet
hat,schilderterden Abend. Aufseiner
rechte nSchul terklebenmehrere Wund-
pflas ter, in seinelinke HandführteineKa-
nüle, daran einTropf.Erkämpf tmit den
Tränen, während er erzählt. Er habe mit
zehn bis z wölf anderenBesuchernbeim
Essen zusammengesessen. Dann seiTobi-
as R. hereingekommen und habe mehre-
renPersonen in denKopf geschossen.„Es
haben nur vier Leuteüberlebt.Einerda-
vonbin ich“,sagt er laut eingeblendeter
Übersetzung. Er habe sich hinter einer
Wandversteckt,seiaberanderSchulterge-
trof fenworden. Dannhabeerauf dem Bo-
den gelegen, unter ihm ein andererMann,
der habe ein Loch im Halsgehabt.Erspü-
re seine Zungenicht mehr,habe der Mann
gesagt,erbekommekeine Luft mehr.Er
bat,ein letztes Gebetzusprechen.

Bilder vondir

Gegen dasVergessen:Aufdem Marktplatz in Hanau halten Demonstranten am DonnerstagabendFotosder Ermordeten in die Höhe. FotoAFP

Die Gegenwart
Die Symbiosevon Schleppern und
Seenotretternbeenden:Wiedem Sterben
auf dem Mittelmeer Einhaltgeboten
werden kann.


Am Montag


DerSchützevonHanauhatdafürgesorgt,dassmansichanihnerinnert.Aberwer


kennt eigentlichdie Namen der Opfer? Im Internetrufen Bekannteder Ge töteten


dazu auf, ihreNamen zu nennen. Der Anschlag auf Shisha-Bar und Caféwar auch


ein Angriff auf das Selbstverständnis vieler Migranten.VonMonaJaeger

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