Frankfurter Allgemeine Zeitung - 22.02.2020

(C. Jardin) #1

FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG Campus 22. FEBRUAR2020·NR.45·SEITE C3


S


chneller,schneller–wenn Julius
Fiedler zu Hausevordem Compu-
terseinem Dozenten zuhört, spult
der 20 JahrealteStudent dasYou-
tube-Video zurVorlesunginder 1,5-fa-
chen Geschwindigkeit ab. „Die Professo-
renreden in denVorlesungen sonstso
langsam, dassesfür michsehr anstren-
gend ist, zuzuhören“, sagtFiedler ,der im
fünften Semester Sozialwissenschaften an
der Universität zuKöln studier t. In der di-
gitalenWirtschaftspolitik-Vorlesungkann
Fiedlerdas Redetemposeines Dozenten
Steffen Roth mit einem Mausklickselbst
bestimmen, anhalten odervorspulen.
Jede Woche können sichRoths Studie-
rende voreiner physischen Plenumssit-
zung den aktuellenStoffineinem You-
tube-Video anschauen. „Durch die Vi-
deos spareich mir denVortragund muss
nicht jedes SemesterdenselbenStoffrun-
terspulen“, erklärtder Dozent und Direk-
tordes Instituts fürWirtschaftspolitik an
der Kölner Uni. „In der Plenumssitzung
haben dieStudenten dann 90 Minuten
Zeit,um FragenzustellenundüberdieIn-
haltezudiskutieren.“StudentFiedler ge-
fällt dasKonzeptder sogenannten Micro-
Lectures: „Sobinichnicht auffeste Termi-
ne angewiesen, sondernkann selbstent-
scheiden,wann ic hdas Video schaue.“
Gingeesnachihm, sollten mehr Dozen-
tenander Unidie Technol ogie nutzen.
Überfüllt eHörsäle und neunzigminütige
Frontal vorträgegehörtendann derVer-
gangenheit an.
So wieFiedler wünschen sichdie meis-
tenStudierenden mehr digitale Angebote
an ihren Hochschulen: In einer Befragung
desPearson-VerlagsausdemJahr2019ga-
ben mehr als 80 Prozent derStudierenden
an, dasssie sic heinenhäufigeren Einsatz
vonE-Learning-Methoden an ihrerUni
wünschen.NurjederZehntelernt elieber
mit dem Buch. AuchRoths Kollegen an
deutschen Hochschulensehen in der Digi-
talisierung vieleVorteile für ihreLehre.
WiedieF.A.Z.im Novemberberichtethat-
te,gaben in einer bisher unveröffentlich-
tenPearson-Umfrage85 Prozent derbe-
fragten Dozenten an, mit E-Learning-An-
gebotendie Lehrqualitätverbessernzu
wollen (F.A.Z.vom23.11.).Trotzdem set-
zen nur 18 Prozent der Befragten digitale
Lehrmethoden auchhäufig ein. Mehr als
dieHälftegreiftnurgelegentlichdarau fzu-
rück. Das etwasratloseFazit desStudien-
autor slautetedeshalb: DeutscheDozen-
tenfinden E-Learning super,dochnur die
wenigsten nutzen es auch.
Dabei istschon heutevieles möglich:
DieRWTHAachenarbeitetgeradeanei-
nem virtuellenStimmtraining für ihre
Mitarbeiter undStudierenden. „Dozen-
tenund Lehrer haben damit zukämpfen,
dass sie ihreStimmenwegen falscher
Techniken inVorlesungenkaputtreden“,
sagtValerie Varney,Forschungsgruppen-
leiterin für digitale Lernwelten an der
RWTH. Über eine Virtual-Reality-Brille
werdendieNutzerineinen digitalenHör-
saal versetzt.Unter Anleitung einesTrai-
nerskönnensoetwaLehramtsstudenten
ihreStimme erproben. Die VR-Brille si-
muliertden Hallder Stimme und zeigt
an, welche Sitzreihender Nutzer mit sei-
ner Stimme erreicht .„Bisher istder Ein-
satz vonVR-Brillen nocheher die Aus-
nahme“, sagtVarney.Denn die Brillen
seienteuer und immer nochrecht un-
handlich.„VirtualRealitywirdsich in
deutschen Hörsälenwohl nichtflächen-
deckend durchsetzen.“Trotzdemkönne
die VR-Brille in Einzelfällenden Dozen-
tenunter stützen:etwa,ummit Geogra-
phie-Studenten an abgelegene Ortezu
reisen–ohne inein Fl ugzeug zusteigen.

Die Digitalisierungkann Hochschuldo-
zenten auchbei Prüfungenunter stützen:
Besondersinden Grundlagenmodulen
müssensieangesichtsstetigsteigenderStu-
dierendenzahlen oftHunderte Klausuren
korrigieren. Das istermüdend undkostet
vielZeit.DeshalbschreibendieStudieren-
den an derRWTH Aachen ihr ePrüfungen
teilweise nicht mehr mit Stiftund Papier,
sondernamComputer.Dozenten müssen
so nicht mehr mühsamsomanche Sau-
klaue entziffern und können Texteumbis
zu einemDrit telschnellerkontrollieren,
wie eine Auswertung derFreien Universi-
tät Berlin (FU)ergeben hat.Auchander
RWTH gaben Studierende und Dozenten
ein positivesFeedback. „Zwar hat es zu-
nächs tsehr viel Arbeitgekostet,die Prü-
fungen zu digitalisieren,Fragen zu entwi-
ckeln und dieTechnik einzurichten, aber
am Endewar es eine unheimliche Erleich-
terung für die Dozenten“, sagtVarney.
DassHochschulen diese Möglichkeiten
bisher nurwenig ausschöpfen, liegt der
Pearson-Studie zufolgevor allem anfeh-
lendenfinanziellen Mitteln, mangelndem
Fachpersonalund zu wenig Zeit. „Ich
habe dieVideos bei mir im Bürogedreht,
mit meiner eigenenKameragefilmt und
selbstgeschnitten“, erklärtDozentRoth
vonder UniKöln. „Daswarsehr vielAr-
beit.“ForschungsgruppenleiterinVarney
beobachtet:„Dozentenwerden häufigvon
den Unis alleingelassen.“Viele Wissen-
schaftler seien zwar in derForschung er-
probt, bräuchten aber didaktischeUnter-
stützung,etwabei dem Einsatz neuer Me-
dien, soVarney.„Digitalisierung der Leh-
re bedeutetnicht, dieVorlesung einfach in
einem Livestre am zu übertragen. Das hilft
niemandem weiter.“ Denn Livestreams
hättenkeinen didaktischen Mehrwert.

Auch die Fehlerkultur müsse sichän-
dern: „WenneinDozentneueMedienein-
setzt, istein Er folg nichtgarantiert“, sagt
Varney.Studierende müssten sic hhäufig
erst an neue Lernmethodengewöhnen,
bis sie sie annähmen und ihreLeistung
steiger ten.„Universitätengebenihren Do-
zenten häufig zuwenig Zeit undtolerie-
renkeine Fehler.Deshalb haben sie Hem-
mungen, digitale Lernmethoden auszu-
probieren.“Statt bis ins letzteDetail aus-
gefeilteDigitalisierungsstrategien bräuch-
tenLehrkräfte denFreiraum,neueMetho-
den auszuprobieren.

Lerntippsvomdigitalen Assistenten

Denn moderne Hilfsmittelkönnen den
Hochschulmitarbeiternoft eine Menge
Arbeit ersparen–und Studierende effek-
tiv während des Lernens unterstützen.
Ein solches Potential bietetauchdie
Künstliche Intelligenz (KI). DieFernuni-
versität Hagenetwa entwickelt geradeei-
nen digitalen Assistenten auf Grundlage
einer Künstlichen Intelligenz. Der Assis-
tent analysiertDaten, dieStudierende auf
einer Lernplattformspeichern,etwa den
WissensstandunddasLernverhalten.Dar-
auf aufbauend gibt der Assistent denStu-
dierendenTipps –von der Organisation
bis zumrichtigen Lernen.
LautVarney vonderRWTH kannKIzu-
dem Wissenslückenaufdecken, wenn je-
mand eineFremdsprache erlernt.„Künst-
liche Intelligenzkann beispielsweiseTex-
te auswerten, die einStudent geschrieben
hat,undgenauer kennen, welche Konzep-
te der Prüfling nochnicht verstanden
hat.“ Sieben deutscheUniversitäten, dar-
unter auchdie RWTH, entwickeln gerade
eine Künstliche Intelligenz, die zum Bei-

spiel PrüfungenderStudierendenauswer-
tetund aufschlüsselt,wo sie nochStoff
wiederholen müssen. Bis 2022wollen die
Hochschulen dazu eine eigene Anwen-
dung entwickeln.
Varney istüberzeugt, dasssichdie digi-
tale Ar chitekturanUniversitätenlangfris-
tig deutlicherweiter nwird. Schon jetzt
laufenVorlesungen mitunter andersab
als früher:Aufihren Smartphoneskön-
nen Studierende in derVorlesung zum
Beispiel an öffentlichenAbstimmungen
teilnehmen. SogenannteAudience-Re-
sponse-Systeme sind digitale Plattfor-
men, auf denenStudierende und Dozen-
tenimHörsaal miteinander interagieren.
Dashilftbesondersden Studierenden,die
sichsonstnicht trauen,vorHunderten
Kommilitonen laut zu sprechen.
Statt mit Kreide auf einergrünen Tafel
werden Dozentenkünftig immer häufiger
mit Touchpens auf einemTablet oder ei-
nem smartenOverheadprojektor schrei-
ben, glaubt Varney.Die Geräteveröf fent-
lichen die Mitschriftendann automatisch
auf einer digitalen Lernplattform.Vorbei
sind dieZeiten, in denen dieFinger beim
Mitschreiben krampften, weil der Dozent
ein Schachtelsatz an den nächstenreihte.
AnalogeLernangebotebleibenaberbeste-
hen, istsichdie Forschungsgruppenleite-
rinsicher .Das liegeauchanjuristischen
Hürden: „Die Datenschutzgesetze in
Deutschland sind sehrstreng. Das setzt
der WissenschaftengeGrenzen.“Auch
deshal bseienvieleHochschulennochvor-
sichtig mit digitalen Lehrangeboten, sagt
Varney.„Zwar gibtesimmermehrProjek-
te dazu, dochmeistbleiben es Einzelne,
die neueTechnologien an den Hochschu-
len ausprobieren.“ Diegrüne Tafelwird
den Studierenden in Deutschland also
wohl noc heinigeZeit erhalten bleiben.

Lernen mit der VR-Brille:Studierende mit ihrem Dozentenan der RWTH Aachen FotoMyScore Projekt,RWTH Aachen

Der Hörsaal


der Zukunft


Studierendefordernschon langemehr


Digitalisierung an denUnis.


Jetzt zeichnen sicherste Trends ab–von


VR-Brillen bis zur Interaktion über das


Smartphone.


VonMartin Lechtape


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