ISSUE_doku_gartenbuch_2020_21

(Susanne Mueller3Bw72N) #1
Alles wird zu Hummus

Aufbauen


(...) Ab Mitte des 17. Jahrhunderts entfaltete sich, ins-
besondere in England, aber auch in den ostelbischen
Gebieten, die sogenannte Agrarrevolution, in der
die Erträge stark stiegen. Dies verdankte sich inten-
siveren Anbaumethoden, die nicht zuletzt durch die
Einhegungen möglich geworden waren. Die Dreifel-
derwirtschaft mit ihren traditionellen Brachen wurde
abgelöst. Neue Feldfrüchte wie Rüben und Kartoffeln
konnten mit ihren tiefer wachsenden Wurzeln leichter
Nährstoffe erschliessen. Das von den landwirtschaft-
lichen Innovationen mit beförderte Bevölkerungs-
wachstum schuf die Bedingungen für die einset-
zende industrielle Revolution und, wie insbesonde-
re Preußen demonstrierte, auch für militärischen
Machtzuwachs.


Mit Beginn des 19. Jahrhunderts zeigte sich jedoch,
dass die höhere Belastung die Böden ausgelaugt
hatte. Der Nährstoffmangel wurde durch die Urbani-
sierung zusätzlich verschlimmert. Die meisten Ess-
er_innen wohnten in den Städten, und weder ihr
Küchenabfall noch ihre nährstoffreichen Fäkalien
gelangten zurück auf die Äcker – eine Entwicklung,
deren trauriger Höhepunkt im 20. Jahrhundert das
Wasserklo sett bildet, das unter Vergeudung von meh-
reren Litern Trinkwasser Ackergold in Sondermüll
verwandelt.


Justus Liebig selbst agitierte dafür, dem Nährstoff-
Verlust entgegenzuarbeiten, indem der Kreislauf
organischer Masse intakt gehalten würde.


Komposttoilette für alle Menschen

1865, also im selben Jahr, in dem er den Weg
in Marx’ Notizhefte fand, schrieb Liebig einen
vielbeachteten offenen Brief über die Verwend-
ung städtischer Abwässer. Sein Vorschlag laut-
ete, dass die Exkremente der Menschen und Tier
eingesammelt und zurück aufs Land geschafft
werden sollten – eine Forderung, die August
Bebel 1879 ganzs selbstversändlich als Teil des
sozialdemokratischen Programms ansah. Die
Mist- und Kompostrückfuhr hielt der SPD Vor-
sitzende für eine kurzfristige sozialistische Infras-
truktur, auf längere Sicht erwartete Bebel, das die
breite Gesellschaft das Landleben, das in dezen-
tralisierter Form alle Annehmlichkeiten des
städtischen kulturellen Lebens übernehmen
würde, vorzöge.
Wie die Dinge lagen, griff die Landwirtschaft auf
eine weniger nachhaltige Lösung zurück. Find-
ige Unternehmer hatten Firmen gegründet, die
die Schlachtfelder der napoleonischen Kriege –
neben Waterloo auch Austerlitz und Leipzig –
aushoben. Die dort massenhaft begrabenen
Knochen von Pferden und Menschen verkauften
sie als Düngemittel. (...)

Aus: Eva von Redecker: Revolution für das Leben.
Philosophie der neuen Protestformen. S. Fischer
Verlag. Frankfurt 2020, S. 43f.
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