Montag, 2. März 2020 ∙ Nr. 51 ∙ 241. Jg. AZ 8021Zürich∙ Fr. 6.50 ∙ €6.
DIE BEIZ
«Konkordanzgipfel»: Die Spielregeln für die nächste Bundesratswahl müssen jetzt aufgestellt werden Seite 8
Zürcher Kitas sind am Limit
Stadt- und Kantonsregierung sehen nur beschränktenHandlungsspielraum
len.· In der ausserfamiliären Kinder-
betreuung läuft etwas schief, und in den
Schweizer Kindertagesstätten herrscht
punkto Qualität Nachholbedarf. So lau-
tetder einhellige Befund von Experten,
Kinderbetreuerinnen, Aussteigerinnen
und Branchenkennern, mit denen die
NZZ gesprochen hat. Die zuletzt publik
gewordenen mutmasslichen Missstände
bei Globegarden, der grössten Kita-Kette
der Schweiz, sollen nur die Spitze des
Eisbergs sein. Kindertagesstätten kämp-
fen mit finanziellen Schwierigkeiten, Be-
treuerinnen mit schlechten Anstellungs-
und Arbeitsbedingungen, und die anver-
trauten Kleinkinder erhalten nicht die
bestmögliche Betreuung. Besonders bri-
sant: Zwar gibt es laut Experten im gan-
zen deutschsprachigenRaum einenFach-
kräftemangel,und Kitas von Bern bis
Basel sind am Limit, doch in Zürich schei-
nen die Probleme besonders akzentuiert
aufzutreten.
Sowohl im Kantons- als auch im
Stadtparlament sind ganzeVorstoss-
pakete zumThema hängig.Was die Qua-
litätskriterien betrifft, betont die Stadt
Zürich, dass die Krippenaufsicht wenig
Handlungsspielraum habe. Die gesetz-
lichenVorgaben für die ausserfamiliäre
Kinderbetreuung seien kantonal und
national geregelt. Gleichwohl hält das
Sozialdepartement fest: «Die gesetzlichen
Mindestanforderungen allein genügen
unserer Meinung nach nicht, um eine gute
Betreuungsqualität sicherzustellen.»Das
Sozialdepartement strebt deshalb eigen-
ständig verbesserte Qualitätsvorgaben an,
die es an dieFinanzierung subventionier-
ter Plätze knüpfen will. Kitas, die Quali-
tätsdefizite aufweisen oder zu denen sich
Meldungen häufen, sollen vermehrtkon-
trolliert und begleitet werden – unauffäl-
lige hingegen weniger.
Auch die Bildungsdirektion des Kan-
tons betont, dass sie weder auf die Qualität
noch auf die Arbeitsbedingungen direkt
Einfluss nehmenkönne. Was das Prak-
tikantenwesen betrifft, bringt sie einen
eigenenVerbesserungsvorschlag ein, für
den sie sich auf kantonaler und nationaler
Ebene einsetzen will. Anstatt Praktikan-
ten als vom Gesetz anerkannte zweite Be-
treuungsperson auszuschliessen – was mit
einer Gesetzesänderung und hohenKos-
ten für Eltern und Gemeindenverbunden
wäre –, empfiehlt sie, eine zweijährige be-
rufliche Grundbildung mit Berufsattest in
der Branche einzuführen.
Zürich undRegion, Seite14, 15
TOM HUBER
Mit den Beizengeht
ein StückSchweiz unter
cn. · Allein in Oberuzwil, einem Dorf mit 60 00 Einwohnern, schlossen im vergange-
nenJahr sechsWirtschaften. Nun hat mit dem «Landhus» auch die siebte aufgegeben.
DerWirt sagt: «Wenn es immer weniger Beizen gibt, wird es immer mehr Psychiater ge-
ben.» Anders sieht esRestauranttesterDaniel Bumann: «Es dürften ruhig noch mehr
Beizen verschwinden. Esgibt ein Überangebot.» «NZZFolio», in derBeilage
Weitere Corona-Fälle in der Schweiz
Die Sorge umdie Wirtschaft steigt – Bundesrat Parmelin willKrisengipfel abhalten
MICHAEL SURBER
Die Ansteckungen mit dem Corona-
virus nehmen in der Schweiz täglich zu.
Bereits am Samstag haben die Kantone
Bern undWallis ersteFälle gemeldet.
InBasel-Landschaft ist gleichentags ein
zweiterhinzugekommen. Am Sonntag in-
formierten dann die Behörden des Kan-
tonsFreiburg über den ersten bestätigten
Fall. Ein 30-jähriger Mann im Greyerz-
bezirk wurdepositiv getestet. Er sei vor
einerWoche aus der Lombardei zurück-
ge kehrt. Der Mann befindet sich imFrei-
burger Kantonsspital. Sein Krankheitsver-
lauf sei positiv, teilten die Behörden mit.
Damit stieg die Zahl der in der Schweiz
mit Corona infiziertenPersonen über das
Wochenende auf 24. AlsReaktion auf die
Ansteckung im Kanton Bern wurden der-
weil zwei Klassen derTechnischenFach-
schule in Biel samt den betroffenen Lehr-
kräften für 14 Tage unter Quarantäne ge-
stellt. In Spreitenbach müssen 44 Kinder
in Quarantäne, da ihr Lehrer sich mit dem
Virus angesteckt habe.
Die steigendenFallzahlen beschäfti-
gen auch dieWirtschaft. In ersten Kan-
tonen wurden Gesuche umKurzarbeit
eingereicht. Die Gewerkschaftenfordern
von derRegierung derweil einKonjunk-
turprogramm, das mit Geld der Natio-
nalbank finanziert werden soll. Bundes-
rat Parmelin will zu einem Krisengipfel
einladen.
Weitere Artikel Seite 2,5, 9, 30, 32
Erdogan erhöht den
Druck auf Europa
Ansturm vonFlüchtlingen inRichtung Griechenland
Nach demAussetzen des
Flüchtlingsabkommens durch
dieTürkei habensichTausende
an die Grenze zu Griechenland
begeben. DieRegierung in Athen
denkt nicht daran, die Migranten
insLand zu lassen.
VOLKERPABST, ISTANBUL
Die Ankündigung derTürkei von Don-
nerstagabend, Flüchtlinge und Migran-
ten nicht mehr von derWeiterreise nach
Europa abzuhalten, hat die Bilder produ-
ziert, die man sich in Ankara erhofft haben
dürfte. Seit Freitag früh haben sichTau-
sende an dieLandgrenze zu Griechen-
land und, in deutlich kleinerer Zahl, zu
Bulgarien begeben. Allein im Niemands-
land des türkisch-griechischen Grenz-
übergangs vonPazarkule/Kastanies sol-
len mehrere tausendPersonen versam-
melt sein. Die griechischeRegierung hat
allerdingskeinen Zweifel daran gelassen,
dass niemand passieren kann. Der Grenz-
schutz wurde stark aufgestockt. Minister-
präsidentKyriakos Mitsotakis teilte am
Sonntag aufTwitter mit, Griechenland
werde einen Monat langkeine neuen
Asylanträge annehmen.
Tumultartige Szenen
DieLage inPazarkule ist äusserst an-
gespannt. Unter denAusreisewilligen
wächst derFrust, da viele nicht damit ge-
rechnet haben, am Übertritt in die EU ge-
hindert zu werden. Immer wieder kam es
zu tumultartigen Szenen. Steine wurden
in Richtung der griechischen Grenzschüt-
zer geworfen, diese schossen zur Abschre-
ckungTr änengaspetarden. DieWartenden
übernachten imFreien, beiTemperaturen,
die bis fast zum Gefrierpunkt sinken.
Weil an offiziellen Grenzübergängen
keinDurchkommen ist, gab es vermehrt
Ausweichmanöver zur grünen Grenze.
Diese verläuft hauptsächlich entlang
dem Fluss Evros, in dem bereits früher
immer wiederPersonen ertranken.Auch
auf der Seeroute über die Ägäis war ein
Anstieg an Bewegungen zu verzeichnen.
Wie vielenPersonen es seitFreitag ge-
lungen ist, nach Griechenland zu gelan-
gen, istkaum zu ermitteln. Die griechi-
schen Behördenerklärten am Sonntag,
1000 0 Personen seien bisheram Grenz-
übertritt gehindert und 77 illegal Einge-
reiste festgenommen worden. Der türki-
sche Innenminister Süleyman Soylu hatte
bereits am Sonntagmorgen von mehr als
7600 0 Flüchtlingen gesprochen, die die
Türkei verlassen hätten. Die griechische
Seite spricht von einer Desinformations-
kampagne.AuchAugenzeugen an der
Grenze halten dieseZahl für höchst un-
wahrscheinlich.
Die türkische Grenzöffnung erfolgte
auf den verheerenden Luftangriff vom
Donnerstag auf türkischeTr uppen in Idlib
und soll die Europäer zu mehr Unterstüt-
zung drängen. Das Regime des syrischen
Machthabers Asad verstärkt seit Dezem-
ber mit russischer Unterstützung seine
Anstrengungen, die letzteRebellenhoch-
burg im Bürgerkriegsland unter seine
Kontrolle zu bringen.
DieTürkei will dies um jeden Preis
verhindern und hat ihrerseits die Mili-
tärpräsenz stark ausgebaut. SeitFreitag
läuft eine Gegenoffensive. DerFall Idlibs
würde unweigerlich einen Flüchtlings-
strom in dieTürkei auslösen. Seit Dezem-
ber sind mehr als eine Million Zivilisten
an die syrisch-türkische Grenze geflohen.
Bereits jetzt befinden sich 3,6 Millionen
Syrer in derTürkei.Ankara beklagt seit
langem, mit den Problemen, die sich aus
der sich dramatisch zuspitzendenLage in
Idlibergeben, alleingelassen zu werden,
und verlangt mehr Unterstützung aus
Europa. DerVorwurf ist nicht ganz un-
berechtigt.Ausgeblendet wird dabei frei-
lich, wie stark dieTürkei mit ihrerPolitik
in den letztenJahren dasVerhältnis zu den
westlichen Bündnispartnern belastet hat.
Den Preis in die Höhe treiben
Die Bilder von der Grenze rufen Erinne-
rungen an die Flüchtlingskrise wach und
sollen das aus Ankaras Sicht sicherlich
auch tun. EineRückkehr zu denVerhält-
nissen von 20 15 wäre aber kaum im Inte-
resse derTürkei.Vielmehr soll der Preis
für die Zusammenarbeit in der Flücht-
lingsfrage in die Höhe getrieben werden.
Das Abkommen zwischen der EU und der
Türkei, in der sich Ankara zu einem stärke-
ren Grenzschutz verpflichtet hat, sorgte ab
2016 für einen drastischenRückgang des
Migrationsstroms nach Europa.Konkrete
Forderungen hat Ankara bisher nicht ge-
stellt, doch ist man sowohl auf militärische
als auchaufdiplomatische und finanzielle
Unterstützung angewiesen.
Obwohl dieTürkei mit der zweit-
grössten Armee innerhalb der Nato über
schlagkräftige Streitkräfte verfügt, ist sie
ohne militärische Unterstützung bei einer
grossangelegten Offensive in Idlib ver-
wundbar. AsadsVerbündeterRussland
hat die Lufthoheit in derRegion, und die
Türkei verfügt nicht überWaffensysteme,
um diese zu brechen. Bis jetzt gibt es sei-
tens der Nato-Partner viele Solidaritäts-
bekundungen,aber keinekonkreten mili-
tärischen Hilfezusagen für dieTürkei. Die
Sondersitzung des Nato-Rats vomFreitag
verlief aus türkischer Sicht enttäuschend.
Wahrscheinlicher als direkte militärische
Unterstützung dürften seitens der Euro-
päer zusätzliche finanzielle Hilfen zur Be-
wältigung der Flüchtlingsproblematik sein.
Der türkische Präsident Erdogan erklärte
amSamstag, Europa habe seinVersprechen
gebrochen und nicht alle Zahlungen geleis-
tet, die unter dem EU-Türkei-Abkommen
vereinbart worden seien. DieTürkei verlangt
unter anderem, dass sämtliche Hilfe direkt
an dieRegierung bezahlt wird. Ein beträcht-
licherTe il der insgesamt sechs Milliarden
Euro sind aber für Hilfsorganisationen vor-
gesehen. Unabhängig davon ist grundsätz-
lich aber unbestritten, dass der Bedarf ange-
sichts der hohen Zahl an Flüchtlingen in der
Türkei sehr gross ist. Die deutsche Kanzlerin
Merkel hatte bei ihrem Besuch in Istanbul
imJanuar angedeutet,dass Berlin zueiner
Aufstockung der Hilfe bereit wäre.
Erdogan hat mit seinem Manöver auf
demRücken der Flüchtlinge den Euro-
päern vorAugen geführt, dass Idlib und
Syrien auch ihr Problem ist.Das Spiel ist
zynisch, wirkungslos ist es aber nicht.
International, Seite 3
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