10 SCHWEIZ Montag, 2. März 2020
BLICK ZURÜCK
Helvetische Landesverteidiger gegen Coca-Cola
Ende der 1940er Jahre sorgt das «braune Wässerlein» aus den USA für Streit in der Schweiz
GEORG KREIS
Seit wann gibt es Coca-Cola in der
Schweiz? Naheliegend ist die Annahme,
dass das amerikanischen Getränk – wie
der Kaugummi –1945 mit den zahlrei-
chen amerikanischen Soldaten (GI) ins
Land gekommensei, als diese hierzu-
landezuTausenden Urlaubstage ver-
brachten. Doch die bescheidenen und
daher wenig beachteten Anfänge liegen
weiter zurück:1936 gründete ein Ber-
ner, der Coca-Cola alsAutoimporteur
in Detroitkennengelernt hatte, inLau-
sanne eine erste Abfüllfirma.
GosseAufmerksamkeit erhält Coca-
Cola indes erst, als das amerikanische
Getränk ab1949 zum Objekt einer
öffentlichenKontroverse wird. In die-
sem stärker in der deutschen als in der
französischen Schweiz geführten Streit
äussern sich vor allem die Coca-Cola-
Gegner und legen ihreGründe dar,
warum dieses Getränk «minderwertig»,
ja «gesundheitsschädigend» sei, man es
darum nichtkonsumieren und es sogar
boykottieren solle.
Teil einerglo balen Macht
Die vehementeste Ablehnung des neuen
Produktskommt von der einheimischen
Getränkelobby. Obwohl sonstKonkur-
renten, schliessen sichVertreter der ein-
heimischen Bier- undWeinproduktion
und der Apfel- undTr aubensaftproduk-
tion zusammen und schaffen eine propa-
gandistisch tätige Stelle zur Abwehr des
Getränkeimports aus den USA.
In den Anfängen ist Coca-Cola ein
Winzling und die Gruppe, die die gesamte
schweizerische Getränkeindustrie zu ver-
treten vorgibt, der Gigant.DerWinzling
jedoch erscheint alsTeil einer globalen
Macht, die sichZugang zueinem klein-
staatlichen Binnenmarkt verschafft.
Auf der politischen Ebene sorgt ein
aus dem Abstinentenmilieu stammender
Berner SP-Nationalrat fürWirbel. Mit
seiner Interpellation vomJanuar 1949
forderte Karl Geissbühler den Bundes-
rat auf, den ohnehin rückläufigen und
durch das aufkommende Coca-Cola
nun offenbar zusätzlich beeinträchtig-
ten Süssmostkonsum zu fördern.
Derweil setzt sichJohn CarterVin-
cent, der amerikanische Gesandte in der
Schweiz,hinter denKulissen für Coca-
Cola ein. Mit einer Intervention bei den
Bundesbehörden will er erreichen, dass
dem Getränk aus den USA weiterhin
freie Phosphorsäurebeigemischt werden
darf, obwohl dies den schweizerischen
Lebensmittelvorschriften widerspricht.
Doch die Schweiz bleibt standhaft, die
Rezeptur muss mit einer «SchweizerFor-
mel» leicht angepasst werden. Über die
Einigung wird Stillschweigen vereinbart.
Das Aussendepartement informiert aber
den SP-Politiker Geissbühler über die
Diplomatenintervention und bittet ihn,
bei seiner Interpellationsbegründung auf
amerikanische EmpfindlichkeitenRück-
sicht zu nehmen.Erreicht wird damit je-
doch das Gegenteil. Der Interpellant
empört sich bei seinemAuftritt imParla-
ment vom September1949 über die «un-
erhörte Einmischung in innerschweizeri-
sche Interessen» und bezeichnet die Ab-
wehrvon Coca-Cola als «ein Stück wirt-
schaftlicheLandesverteidigung».
Bundesrat Philipp Etter, Chef des
Departements des Innern und in frü-
herenJahrenVater der «geistigenLan-
desverteidigung», versichert in seiner
Interpellationsantwort, dass die «pro-
blematische» Substanz des Coca-Cola-
Konzentrats inzwischen angepasst wor-
den sei und nun mit der schweizerischen
Lebensmittelverordnungkonform sei.
Es sei nichtAufgabe der Lebensmittel-
polizei, die Propaganda des Getränke-
herstellers, die in derTat «sehr intensiv
und geschickt» sei, zu bekämpfen. Der
Bund unternehme zahlreiche Anstren-
gungen zurFörderung der einheimi-
schenLandwirtschaft. Die vom Interpel-
lanten Geissbühler vertretenen Kreise
müssten ihrerseits dafür sorgen, dass das
Schweizervolk die «Erzeugnisse unserer
eigenen Scholle» würdige.
«Abwehr unguterAusländerei»
Es ist vor allem die politische Linke,
die sich neben der einheimischen Ge-
tränkeindustrie im Kampf gegen Coca-
Cola engagiert. Die sozialdemokratische
«T hurgauerArbeiterzeitung» wirft dem
Bundesparlament vor, sich zu verhalten,
als ob man «unter derFuchtel des Mar-
shallplanes» stünde, und betont, dass
das Schweizervolk die Unabhängigkeit
«auch gegenüber der europäischenWirt-
schaftsoffensive der Dollarkönige» ver-
teidigt sehen möchte. Und derkommu-
nistischeBasler«Vorwärts» spricht die
Erwartung aus:«Die Schweiz unter-
wirft ihrWirtschaftsleben nicht arrogan-
ten Business-LeutenausWall Street, die
mit der Phrase ‹Freiheit,Freiheit› auf
den Lippen sich die eigeneRaff-Frei-
heit sichern möchten.»
Auf der andren Seite schaltet sich,
nachdem die linksliberale«National-
Zeitung» ebenfalls gegen Coca-Cola
Stellung genommen hat,PeterDürren-
matt in die Debatte ein, der Chefredak-
tor derrechtsliberalen «Basler Nach-
richten». Er erklärt, gegenWachsamkeit
undgegen «Abwehr unguterAuslände-
rei» sei an sich nichts zu sagen, einen
vonVerbänden «befohlenen» Boykott
lehne er jedoch ab. Klüger wäre es,
Coca-Cola ungehindert dem«Volks-
urteil» zu unterstellen.Vor allem aber
mokiert er sich über die gross aufge-
zogene Abwehrschlacht gegen das aus-
ländische Getränk. In Abwandlung des
bekannten, zum Schweigen aufrufenden
Slogans aus den Kriegsjahren höhnt
Dürrenmatt, es fehle zurVervollstän-
digung der Abwehr nur noch, dass man
sage: «Wer Coca-Cola trinkt, schadet
der Heimat!»
Auch die NZZ bezeichnet esals
«ziemlich fragwürdig», die Debatte auf
eine weltanschauliche Ebene zu hieven.
DieEinführungeines ausländischen Ge-
tränks sei nicht mit dem Import fremder
Ideologien zuvergleichen, kritisiert die
Zeitung – obschon auch ihr die «ziem-
lich lauten» Reklamemethoden von
Coca-Cola sauer aufstossen.
WelcheFreiheitverteidigen?
Das eine wiedas andereLager appelliert
an den helvetischenFreiheitsinstinkt, in
der einenVariante diekollektiveFrei-
heit des Kleinstaats, in der anderenVa -
riante die individuelleFreiheit der ein-
zelnenKonsumenten vorAugen. Ein
gegnerischerText äussert sich herab-
lassend über das «brauneWässerlein»
und beschwört gleichsam die grosse
Gefahr, die von ihm ausgehe:«Uns Eid-
genossen ist es aber auch dank eines un-
beugsamenWehrwillens und der Einig-
keit in gefährlichen Situationen seit
Jahrhunderten gelungen, unseremLand
denFrieden und die militärische und
politische Unabhängigkeit zu bewah-
ren.Das moderne Zeitalterkennt aber
nicht nur die militärische, sondern auch
die wirtschaftliche Bedrohung. Dem
Riesenunternehmen Coca-Cola wird es
aber nicht gelingen.. .»
Coca-Cola ist in derWahrnehmung
amerikanisch, nicht nur wegen seiner
Herkunft, sondern auch wegen seiner
Art und des vermeintlich damit ver-
bundenen Lebensgefühls. Die Wer-
bung muss das Amerikanische nicht be-
tonen, sie will im Gegenteil das Produkt
zugleich auch als einheimisch verstan-
den wissen, weil es ja inTeilenauch in
der Schweiz hergestellt wird. Es sind
die Coca-Cola-Gegner, die das Ameri-
kanische des Getränks herausstreichen,
weil sie meinen, es damit diskreditie-
ren zukönnen.Das mag bei einemTeil
des Publikums verfangen – bei einem
anderenTeil bewirkt es aber genau das
Gegenteil. Die gleiche Ambivalenz ist
imFalle des Kaugummis gegeben, der
mit dem Argument abgelehnt wurde,
dass er «nicht einmal schweizerisch» sei,
und gerade deswegen für vieleKonsu-
mentinnen undKonsumenten attraktiv
war. So lässt sich auch der Siegeszug von
Coca-Cola in der Schweiz erklären, den
die DebattenAnfang der1950erJahre
nicht stoppenkönnen.
Einamerikanisches Getränk drängt in den SchweizerMarkt: Coca-Cola-Lieferwagen am 31. Dezember 1949. ULLSTEIN
«Geisterspiele» im Bundeshaus
Am Montag beginnt die Frühjahrssession – ohne Publikum, aber m it wichtigen Themen, gerade auch für die Wirtschaft
FABIAN SCHÄFER, BERN
An einem gewöhnlichen Sessionstag
halten sich im Bundeshaus oft weit
übertausendPersonen auf. Wirklich
eng wird es zwar fast nur während Bun-
desratswahlen, dennoch hat dieVer-
waltungsdelegation von National- und
Ständerat amFreitag vorsorgliche Ein-
schränkungen verfügt:Angesichts des
Coronavirus wird die am Montag be-
ginnendeFrühjahrssession ohne Publi-
kum stattfinden. Besuche auf denTr i-
bünen sind nicht möglich.DieParla-
mentarier dürfen auchkeine Gruppen
durch das Gebäude führen.Journalis-
ten werden nur zugelassen, wenn sie
fest akkreditiert sind. Zudem wird den
Ratsmitgliedern empfohlen, auf das
Händeschütteln zu verzichten.
Auf derTr aktandenliste stehen inter-
essante und wichtigeFragen. Gleich zu
Beginn dürfte jenesThemafürAufsehen
sorgen, das durch das Coronavirus aus
dem medialenFokus verdrängt wor-
den ist: die Geheimdienstaffäre um die
CryptoAG.Am Montag will sich das
Büro des Nationalrats zurFrage äussern,
ob zur Untersuchung desFalls eine par-
lamentarische Untersuchungskommis-
sion (PUK) eingesetzt werden soll.
«Lex China»
Für Aufsehen werden weitereVorlagen
sorgen, die insbesondere für die Schwei-
zerWirtschaftrelevant sind.DerNatio-
nalrat entscheidet über die Einführung
von Investitionskontrollen, die greifen
sollen, wenn ausländische Investoren
SchweizerFirmen übernehmen wollen.
Das Anliegen – auch bekannt als «Lex
China» – hat im Ständerat bereits eine
Mehrheit gefunden.Falls auch der Natio-
nalrat zustimmt, muss der Bundesrat dazu
eine Gesetzesvorlageausarbeiten.
GrosseWellen wirft zudem die epi-
sche Debatte über dieVolksinitiative
über dieKonzernverantwortung. Diese
zielt darauf ab, dass Schweizer Unter-
nehmen imAusland für ihrVerhalten
in Umwelt- und Menschenrechtsfragen
geradestehen müssen. ImParlament
sind mittlerweile zweiVersionen von
Gegenvorschlägen in Umlauf. Jene des
Nationalrats bewegt sichrelativ nahe
an derVolksinitiative, jene des Stände-
rats geht weniger weit.WelcheVersion
sich durchsetzt, ist nicht absehbar. Am
Ende muss womöglich eine Einigungs-
konferenz entscheiden – mit dem denk-
baren Ergebnis, dass es zuletzt garkei-
nen Gegenvorschlag gibt und die Initia-
tive «nackt» an die Urnekommt.
Ein ähnlich spannendesFinale ist im
Seilziehen um die Überbrückungsleis-
tungen möglich. National- und Stände-
rat wollen in dieser Session abschlies-
send entscheiden, ob ältereLangzeit-
arbeitslose mehr finanzielle Unterstüt-
zung vom Staat erhalten. DieVorlage
steht im Zusammenhang mit der Begren-
zungsinitiative derSVP, die zurKündi-
gung derPersonenfreizügigkeit mit der
EU führen würde. Weil die Abstimmung
am17. Mai stattfindet, soll die gesamte
Differenzbereinigung zum Sozialausbau
in ein- und derselben Session durchge-
zogen werden. Der Ständerat hatte die
Vorlage im Dezember unerwartet stark
gestutzt. Doch im Nationalrat hat nun
eine breite Allianz von Grünen bis FDP
einenKompromiss ausgehandelt, der
gute Chancen haben dürfte.
Dasselbe gilt für einen anderen gros-
sen Brocken: DieRevision des CO 2 -Ge-
setzes ist nach missglücktem Start mitt-
lerweile gut unterwegs. DieVersion, die
der Ständerat letzten Herbst beschlos-
sen hat, dürfte nun auch im Nationalrat
ohne grundlegende Änderungen durch-
kommen. Nach der «grünenWelle» bei
denWahlen 20 19 und der Neupositionie-
rung der FDP ist eine solide Mehrheit zu
erwarten.Auch hier dürfte das Stimm-
volk das letzteWort haben, da mit einem
Referendum derSVP zurechnen ist.
Öffnung derEhe
Daneben steht in dieser Session auch ge-
sellschaftspolitisch eineWeichenstellung
bevor: Nach jahrelangenVorgeplänkeln
entscheidet der Nationalrat über die
«Ehe für alle» – die Öffnung der Ehe für
gleichgeschlechtlichePaare. Im Grund-
satz ist eine Mehrheit für das Anliegen
absehbar. Es sind vor allemSVP-Ver-
treter, die sich nach wie vor gegen die
Öffnung wehren. Umstritten ist aber die
Kinderfrage: Sollen lesbischePaare in
der Schweiz offiziell Zugang zur Samen-
spende erhalten? DerVorentscheid in
derKommission war knapp, derAus -
gang im Nationalrat unsicher.