ZÜRICH UNDREGION Montag, 2. März 2020 Montag, 2. März 2020
Bei den Kitas
läuft etwas
falsch
Wenig Lohn, wenig Perspektiven, keine Anerkennung:
Die Arbeit als Kinderbetreuerin ist ein Knochenjob.
Und die Branche ist am Limit. Zürich stellt das
Schlusslicht dar, die Romandie macht es besser.
LENA SCHENKEL, FLORIAN SCHOOP,
NILS PFÄNDLER
Jasmin Gasser hat genug. Sie verlässt
einen Beruf,den sie eigentlich liebt.
EinenJob, der erfüllend ist – und gleich-
zeitig frustrierend. DieFachfrau Kinder-
betreuung ist 33Jahre alt und gehört in
ihrem zarten Alter bereits zum alten
Eisen. «Die einzige Mitarbeiterin, die
an meinem Arbeitsort älter ist als ich,
ist die Kita-Oma», sagt sie bei einemTr ef-
fen in Zürich. Gasser ist nicht allein. In
den meisten Kindertagesstätten fehlt es
an erfahrenenFachkräften. Die Branche
wird dominiert von jungenFrauen, auch
von vielen Praktikantinnen, die für einen
kleinen LohnGrosses leisten müssen.
Doch dies ist nur eines von vielen
Problemen, mit denen sich Gasser und
ihre Berufskolleginnen herumschla-
gen müssen. Denn Kita-Angestellte
sind nicht nur schlecht bezahlt, es fehlt
ihnen auch an beruflichen Zukunftsper-
spektiven und an gesellschaftlicher An-
erkennung. «Wenn du jemandemsagst,
du seist eineFabe, eineFachperson Be-
treuung,dann interessiert daskeinen.»
Man müsse dafür kämpfen, wahrgenom-
men, ernst genommen zu werden, denn:
«Viele denken, wir würden einfach ein
bisschen ‹herumbäbele›. Aber wir sind
kein Mutterersatz, wir leisten professio-
nelle frühkindliche Erziehung.»
Jasmin Gassers Branche steht gerade
imFokus der Öffentlichkeit. Recherchen
des Online-Magazins «Republik» über
mutmasslich desolate Arbeitsbedingun-
gen bei Globegarden, der grössten Kita-
Kette der Schweiz, haben die Bevölke-
rung in den letzten Monaten aufgerüttelt.
DieRede war von vergessenen Kindern,
vonBabys, die vomWickeltisch fielen,
von zu wenig Essen auf demTeller.
Die Bestürzung war gross. Denn, so
fragte man sich, kann es wirklich sein,
dass dieKleinsten, die eigentlich am
meisten Schutz benötigen, so schlecht
behandelt werden?Dass der Zürcher
Sozialvorsteher Raphael Golta (sp.)
später sagte, Globegarden falle weder
positiv noch negativ auf, dieKette be-
findesich somit imMittelfeld, lässt tief
blicken. Es zeigt, dass in dieser Branche
etwas grundlegend falsch läuft.
Wir haben Gespräche geführt mit
Experten,Kinderbetreuerinnen,Aus -
steigerinnen und Branchenkennern.Da-
bei erhärtete sich derVerdacht, dass in
den Schweizer Kitas akuter Nachhol-
bedarf besteht. Zu lange ist praktisch
nur auf Quantität gesetzt worden, zu
lange wollte man einfach den immensen
Bedarf an Betreuungsplätzen abdecken.
Die Qualität blieb dabei auf der Strecke.
Besonders brisant ist, dass der Kanton
Zürich in dieser Entwicklung eines der
Schlusslichter darstellt.
In den Gesprächen zeigt sich ein Bild
von einer Branche, die schnell gewach-
sen ist, vielleicht zu schnell.Von einem
Sektor, dem dieFachkräfte fehlen und in
welchem es ausserordentlich vieleAus-
steigerinnengibt,Aussteigerinnen wie
Jasmin Gasser.
Deutlich mehr Betreuungsplätze
Dabei benötigen die Kitas in der Schweiz
dringend gut ausgebildeteFachkräfte–
vor allem auch in der Stadt Zürich. Hier
ist es in den vergangenenJahren zu einem
regelrechten Boom gekommen. Gab
es 2008 noch 210 Kitas, waren es 20 18
schon deren 329. Die Zahl der Betreu-
ungsplätze hat sich innert zehnJahren
nahezu verdoppelt, von 5543 auf 10 860.
Im vergangenen Sommer präsen-
tierte Stadtrat Golta die Zahlen die-
ser«stolzen Entwicklung», wie er es
nannte. Für gut 80 Prozent der Stadt-
zürcher Kinder imVorschulalter stehe
ein Kita-Platz zurVerfügung; der Anteil
subventionierter Plätze betrage rund 40
Prozent. Von einem «Meilenstein» und
einer «schweizweitenVorreiterrolle»
der Stadt Zürich war dieRede.
Was das Sozialdepartement damals
eher beiläufig erwähnte:Die Qualität
dieses «Erfolgsmodells» lässt noch zu
wünschen übrig. Probleme wie Überbe-
legung wurden nur kurz angesprochen.
Auf den quantitativenAusbau müsse
nun noch ein qualitativer folgen,resü-
mierte Golta ganz zum Schluss. «Eine
minimale Qualität erfüllen aber alle»,
hiess es amRand der Medienveranstal-
tung auf Nachfrage. EineAussage, die
damals schon zu denken gab – lange vor
demFall Globegarden.
Ist Globegarden also nur die Spitze
des Eisbergs? Eine, die es wissen muss,
ist CatherineWalter-Laager. Die Erzie-
hungswissenschafterinwar von 2011 bis
2016 in der Stadt Zürich für dieFrüh-
förderung und die Qualitätsverbesse-
rung in den Kindertagesstätten zustän-
dig. Als wir die 50-Jährige in einem Café
am Zürcher Hauptbahnhof zum Ge-
spräch treffen, will sie sich nicht spezi-
fisch zur gegenwärtigen Situation äus-
sern. Dies scheine ihr unangebracht.
Dennoch sagt sie zumFall Globegarden
gleich zu Beginn: «Die Missstände haben
mich überhaupt nicht überrascht.»
Walter-Laager forscht und lehrt
als Professorin in Graz. Siesagt: In
der gesamten Branche herrschten an-
spruchsvolle und herausfordernde
Arbeitsbedingungen, und dies bei
eher schlechter Entlöhnung. Im gan-
zen deutschsprachigenRaum gebe es
einenFachkräftemangel. Entsprechend
schwer sei es für die Betreiber, geeigne-
tesPersonal zu finden. «Hinzukommt
der finanzielle Druck», sagt sie.
DieFolge: Die Hälfte aller Kita-An-
gestellten in der Schweiz hat laut dem
Branchenverband Kibesuissekeine ab-
geschlosseneAusbildung. Studien zeigen
lautWalter-Laager deutlich:Jeschlech-
ter qualifiziert das Kita-Personal, desto
schlechter die pädagogische Qualität.
Doch selbst unausgebildetesPerso-
nal wird in den sogenannten Betreuungs-
schlüssel eingerechnet. Dieser legt fest,
wie viele Kinder eine Kita-Mitarbeiterin
maximal gleichzeitig betreuen darf. Das
kann dazu führen, dass eine ausgebildete
Fachangestellte zusammen mit einem
Teenager im Praktikum eine Gruppe von
elf Kleinkindern betreut.«Angestellte in
Ausbildung in den Betreuungsschlüssel
einzurechnen, ist im Bildungssystem un-
üblich und auch nicht sinnvoll», sagt Pro-
fessorinWalter-Laager.
So nimmt die Negativspirale ihren
Lauf: Spätestens, wenn kurzfristig je-
mand ausfällt, kann der Betreuungs-
schlüssel gar nicht mehr eingehalten
werden –Arbeitslast,Verantwortung
und Zeitdruck werden grösser. Der zu-
nehmendeWettbewerb unter den Ein-
richtungen sorgt für zusätzlichenKos-
tendruck sowie längere Öffnungszeiten
und längere Arbeitstage. Eskommt zu
Burnouts, häufigen Stellenwechseln und
Berufsausstiegen. Ob es sich dabei um
kleine Kitas oderKetten handelt, macht
laut den angefragten Expertinnen und
Branchenkennern in Bezug auf die
Arbeitsverhältnissekeinen Unterschied.
Für die Überprüfung der Qualität in
Kitas ist die Krippenaufsicht zuständig.
Doch diese steht in der Kritik. Zu lasch
sei sie, zu zahm.Dass dieKontrolleure
in Zürich ihre Besuche vorab ankündi-
Vielerorts ist die Qualität in Kitas auf der Strecke geblieben. In Zürich hatdas unter anderem auch den Grund, dass die Krippenaufsicht versagthat. KARI N HOFER / NZZ
Der zunehmende
Wettbewerb unter den
Einrichtungen sorgt für
zusätzlichen
Kostendruck sowie
längere Öffnungszeiten
und längere
Arbeitstage. Es kommt
zu Burnouts, häufigen
Stellenwechseln und
Berufsausstiegen.
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