Neue Zürcher Zeitung - 02.03.2020

(avery) #1

Montag, 2. März 2020 Montag, 2. März 2020 ZÜRICH UNDREGION


gen, sorgt für zusätzliches Unverständ-
nis. AuchJasmin Gasser, dieAussteige-
rin, kann dies nicht verstehen. «Ich arbeite
seit fünfzehnJahren als Betreuerin. Noch
nie habe ich eine solcheKontrolle er-
lebt.» Bezeichnend sei zudem, dass der
Lebensmittelinspektorregelmässigvor-
beikomme – «und zwar unangekündigt».
Von anderen Kita-Angestellten hört man,
die Krippenleitungen würden sichauf die
Besuche derKontrolleure gezielt vorbe-
reiten oder sogar Anwesenheitslisten
nachträglich manipulieren.
Verstösse werden verhältnismässig
wenige festgestellt. Die Krippenaufsicht
des Kantons führte laut Zahlen des Zür-
cherRegierungsrates von 20 15 bis 20 19
gerade einmal195 ordentlicheKontrol-
len durch,einenkleinenTeil davon unan-
gemeldet.In 64 Fällen wurdenAuflagen
verfügt. Zudem ging dieAufsicht rund
50 Hinweisen auf mögliche Missstände
in Tagesfamilien oder Krippen nach. Da-
von erwies sich rund die Hälfte derVor-
würfe als gerechtfertigt. In einzelnenFäl-
len wurde die Bewilligung entzogen.
Bei der Stadt Zürich sieht es nicht
viel besser aus. Dort gingen vorletztes
Jahr 51 Meldungen von Angestellten
oder Eltern bei der Krippenaufsicht ein.
Sie führte 71Aufsichtsbesuche – man-
chedavon unangekündigt – sowie 76 an-
gemeldete Besuche imRahmen von Be-
willigungserneuerungen oder Neueröff-
nungen durch.Dabeiwurden 20Ver-
letzungen der Bewilligungsvorgaben
festgestellt. DieKonsequenzen waren
gering:Auflagen gab es nur in Einzel-
fällen, Ordnungsbussenkeine.
Wer die Kita-Situation in der gesam-
ten Schweiz betrachtet, dem zeigt sich un-

weigerlich ein tieferRöstigraben. In der
Romandie ist die frühkindlicheFörde-
rung ganz anders organisiert als in der
Deutschschweiz. Eltern bezahlen nur
rund einen Drittel derKosten für die Be-
treuung. Kanton und Gemeinden über-
nehmen denRest. ImWaadtland, inFrei-
burg und in Neuenburg tragen gar die
Unternehmen zurFinanzierung bei.Auch
im Kita-Alltag herrschen andere Bedin-
gungen. Der gesetzlich vorgegebene An-
teil an tertiär ausgebildeten Mitarbeite-
rinnen ist in den welschen Kantonen deut-
lich höher als in derrestlichen Schweiz.

Die Romands sind besser


Für viele Experten sind dieWestschwei-
zer Kantone deshalb einVorbild für die
deutschsprachige Schweiz. So auch für
Nadine Hoch. DieVizepräsidentin des
Netzwerks Kinderbetreuung Schweiz
und ehemalige Geschäftsleiterin des
Branchenverbands Kibesuisse kennt
die Kita-Branche seit bald dreissigJah-
ren. Blickt sie nach Zürich, ist ihrFazit
ernüchternd:«Vonallen Kantonen steht
Zürich als einer der schlechtesten da.»
Das hat zumTeil mit demRösti-
graben-Phänomen zu tun.Doch auch
im Deutschschweizer Vergleich ge-
hört Zürich zu den Schlusslichtern. Ei-
nigeVorgaben und bauliche Richtlinien
würden zu eng ausgelegt, monieren Kri-
tiker. Ein Beispiel: Nebst denToiletten
für Kinder undPersonal braucht es in
Zürich ein zusätzliches WC fürPerso-
nal ohne Betreuungsaufgaben. Das ist in
keinem anderen Kanton derFall.
Nadine Hoch sieht aber vor allem bei
der pädagogischen Qualität Handlungs-

bedarf: «DieVorgaben sind mickrig, im
Kanton Zürich ganz besonders.» Sie for-
dert, dass dieVergabe von öffentlichen
Geldern künftig an Qualitätskriterien
gekoppelt wird und dieVorgaben zum
Betreuungsschlüssel und zurAusbildung
desPersonals erhöht werden.
Hinzukommt, dass in Zürich dieVer-
antwortung für die Krippenaufsicht bei
den Gemeinden liegt und nicht beim
Kanton. Das gehört in der Schweiz
zurAusnahme und wird nicht nurvom
Branchenverband, sondern auch von
zahlreichen Experten kritisiert. «Für
die grossen Städte sind dieKontrollen
kein Problem», sagt Branchenkennerin
Nadine Hoch. «Viele kleine Gemeinden
sind aber überfordert.»
Ändern wird sich daran nichts – im
Gegenteil: Die Situation wirdsich bald
noch zusätzlich verschärfen.Voraussicht-
lich ab dem1. Juli diesesJahreskönnen die
GemeindendieKontrollen nicht mehr wie
bisher an den Kanton delegieren, sondern
müssen dieAufsicht selbst übernehmen.
Hört man sich in der Kita-Szene um,
wird die Kritik der Expertin geteilt.
Auch die gelernte Fachfrau Betreu-
ung für KinderJoanna Müllerkennt
die Schwachpunkte ihrer Branche. Die
25-jährige zierlicheFrau mit den lan-
gen blonden Haaren spricht mit leiser
Stimme in einem gmögigen Bieler Dia-
lekt. In scharfemKontrast dazu stehen
dieWorte, die sie wählt, wenn sie über
die Kita-Branche spricht: Den Einsatz
der zahlreichen Praktikantinnen und
Praktikanten bezeichnet sie etwa als
«Ausbeutung Minderjähriger».
Müller selbst ist über ein einjähri-
ges Praktikum in den Beruf eingestie-

ge n. Ihr damaliger Chef stellte der jun-
genFrau eine Lehrstelle inAussicht–
aber nur, wenn sie nochmals ein Prak-
tikumsjahr anhänge. Erst als Müller mit
ihremWeggang drohte, konnte sie ihre
Ausbildung direkt beginnen.
Blickt sie heute auf diese Zeit zu-
rück, sagt sie: An gutenTagen habe es
«gfägt». Dann sei sie abends noch im
Bett gelegen und habe vollerTaten-
drang Entwicklungsberichte geschrie-
ben, Projekte oder Elterngespräche
vorbereitet. An schlechten aber sei sie
entkräftet,resigniert gewesen, habe die
Kinder den ganzenTag frei spielen las-
sen. Abends sei sie oft weinend nach
Hause gekommen, habe lange gedacht,
es läge an ihr, an ihren hohen Ansprü-
chen, an ihrem Ehrgeiz.
Dass es nicht nur ihr so gehe, habe
sie spätestens beim erstenKontakt mit
«Trotzphase»realisiert. So nennt sich
eine Gruppe gegenwärtiger und ehema-
liger Kinderbetreuerinnen. Diese schloss
sich 20 16 zusammen, um ihrenFrust zu
kanalisieren. Die Gruppe setzt sich in
erster Linie für mehr Anerkennung und
mehr Lohn ein.«Trotzphase» wird vom
Verband desPersonals im öffentlichen
Dienst (VPOD) unterstützt, ist aber for-
mell unabhängig.
Müller und ihre Mitstreiterinnen for-
dern nebst unangekündigtenAufsichts-
kontrollen und einemtieferen Betreu-
ungsschlüssel auch einen GAV und
ein Ende des Praktikantenwesens. Am
Ende müsse jedoch die frühkindliche
Betreuung ins öffentliche Bildungs-
system eingebunden werden, fordert
Müller. Nur so sei eine hohe Qualität
und eine ausreichendeFinanzierung ge-
währleistet.Für sie ist klar:«Wir müs-
senals Gesellschaft einen Grundsatz-
entscheid fällen:Wollen wir einen Hüte-
dienst oder eine nachhaltige, entwick-
lungsfördernde Betreuung für unsere
Kleinkinder?» Kitas seien schliesslich
keine Spielhallen, wo man die Kinder
einfach insBällebad abgebe.

Lob dem Praktikum


Doch es gibt in der Branche auch weni-
ger alarmistische Stimmen. Manche Kin-
derbetreuerinnen verteidigen etwaauf
Anfrage die Praxis des Praktikanten-
wesens. Dies sei auch heute noch eine
gute Möglichkeit, um einen Einblick in
den Berufsalltag zu gewinnen. Es gebe
eine Menge Berufsanwärterinnen mit
falschen Erwartungen an denJob. Viele
stellten sich die Arbeit einfacher vor.
Selbst die Arbeitsbedingungen wer-
den nicht von allen angefragten Kinder-
betreuerinnen als prekär bezeichnet. Sie
seien zwar anspruchsvoll, aber zu bewäl-
tigen. Schliesslich dürfe man sich halt
nicht alles gefallen lassen. Überhaupt
gebe es in der Branche auch positive
Entwicklungen. DieAusbildung etwa
sei professioneller geworden, die Löhne
tief, aber höher als auch schon.
Auch die Kita-Expertin und Szene-
kennerin CatherineWalter-Laager be-
richtet von guten Beispielen.Während
ihrer Tätigkeit für die Stadt Zürich sei
sie immer wieder vorbildlich geführ-
ten Einrichtungen mit hochmotivierten
Mitarbeiterinnen begegnet.Abergene-
rell gelte:Von Bern bis Zürich, aber
auch von Berlin bisWien sei die Situa-

tion sehr herausfordernd.«Doch wäh-
rend unsere Nachbarländer mitAusbil-
dungsoffensiven und Investitionen auf
denFachkräftemangelreagieren, unter-
nimmt die Schweiz beschämend wenig»,
sagt die Professorin.
Tatsächlich werden in der Schweiz
deutlich weniger öffentliche Gelder
für die frühkindliche Betreuung aus-
gegeben als in vielen anderenLändern.
Ein Grund dafür sind die zahlreichen
privaten Anbieter. Die Ausgaben betra-
gen hierzulande nicht einmal 0,2 Prozent
des Bruttoinlandprodukts. Der OECD-
Durchschnitt liegt bei 0,8 Prozent.Das
zeigt eineStudievon 2017, basierend auf
Daten aus demJahr 2013.
«Ausgerechnet jenes Land, das
hohenWert auf eine flächendeckende
Grundversorgung legt und noch ins ab-
gelegenste Dorf eine unrentablePost-
autostrecke unterhält, will sichkeine
qualitativ hochstehende Kinderbetreu-
ung für alle leisten», resümiertWalter-
Laager. In derFamilienpolitik liege die
SchweizJahrzehnte zurück. Hier werde
immer noch so getan, als seien Kinder
ein «Hobby ihrer Eltern».
Doch die ausserfamiliäre institutio-
nelle Betreuung seikeinRandphäno-
men. «Die Entwicklung ist gesellschaft-
lich so gewollt und auch sinnvoll», sagt
die Erziehungswissenschafterin. So wür-
den beide Elternteile auch während der
frühenFamilienphase ins Berufsleben
integriert undkönnten ihre berufliche
Identität erhalten.
«Dann muss man als Gesellschaft
aber auch die Qualität gewährleisten»,
fordertWalter-Laager. Dazu gehörten
ein tieferer Betreuungsschlüssel, höhere
Löhne und bessereAusbildungen. Mit
anderenWorten: massiv mehr Investitio-
nen. «Ob das Geld vom Staat oder von
derWirtschaftkommt, spielt letztlich
keineRolle. Klar ist: Die Elternkönnen
es nicht stemmen.»

Keine Perspektiven


Auch der Branchenverband Kibesuisse
fordert mehr finanzielle Mittel für die
institutionelle frühkindliche Betreuung.
Um die pädagogische Qualität zu ge-
währleisten, brauche es in erster Linie
einenParadigmenwechsel.«Wer in der
familienergänzenden Bildung, Betreu-
ung und Erziehung direkt mit Kindern
arbeitet,soll über eine pädagogische
Ausbildung verfügen», heisst es dort.
Insgesamt müsse die frühkindliche Be-
treuung alsTeil der Bildungspolitik an-
erkannt und finanziell auch so behan-
delt werden.
DieForderung nach besserenRah-
menbedingungen kommt auch vom
Schweizerischen Arbeitgeberverband
(SAV). Er erarbeitet derzeit einPosi-
tionspapier für eine verbesserteVerein-
barkeit vonFamilie und Beruf. Darin
appelliert derVerband zwar auch an
die Arbeitgeber, familienfreundlicher
zu sein. Doch seineForderung ist klar:
«Der Staat muss dieRahmenbedingun-
gen sicherstellen und finanzieren – und
zwar inForm von steuerlichen Anrei-
zen und finanziell attraktiven Betreu-
ungsangeboten.» Die Investitionen zahl-
ten sich gleich mehrfach aus. Doch es
liege an derPolitik,Veränderungen an-
zustossen.
Die Politik ist sich aber uneins.
Zwar sind sowohl im Kantons- als
auch im Stadtparlament ganzeVo r-
stosspakete zumThema hängig. Die
Forderungen könnten jedoch unter-
schiedlicher nicht sein: Bürgerliche
wollen mehr Deregulierung und
steuerlicheEntlastungen für Eltern,
Links-Grünverlangt mehr staatliche
Kontrollen und Subventionen sowie
höhereAusbildungsstandards.
Falls sich künftig etwasan der Situa-
tion in den Kinderkrippen ändern sollte,
kommt das fürJasmin Gasser zu spät.
Zwar arbeitet sie noch 40 Prozent auf
ihrem Beruf. Doch sie hat sichentschie-
den, die Kinderbetreuung zu verlassen–
und macht gerade eine vierjährigeAus-
bildung zur Pflegefachfrau. «Für mich
definitiv eineTr aumbranche, doch halt
auch eine, die ebenfalls mit Missständen
zu kämpfen hat. Aber es ist immerhin
mal etwas Neues.»
Gasser betont, dass sie nicht wegen
der Kinder gehe. Was ihr fehle, seien
Zukunftsperspektiven. «Ich wollte mich
weiterentwickeln, weiterbilden.» Doch
mit 33Jahren hat die jungeFrau be-
reits sämtliche lohnenden Möglichkei-
ten durchgespielt.

Vielerorts ist die Qualität in Kitas auf der Strecke geblieben. In Zürich hatdas unter anderem auch den Grund, dass die Krippenaufsicht versagthat. KARI N HOFER / NZZ

«Wir müssen als
Gesellschaft einen
Grundsatzentscheid
fällen:Wollen wir einen
Hütedienst oder eine
nachhaltige,
entwicklungsfördernde
Betreuung für unsere
Kleinkinder?»

JoannaMüller
FachfrauBetreuung für Kinder

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