Montag, 2. März 2020 INTERNATIONAL 3
In Jalalabad herrscht wie in anderenStädten Afghanistans eine Atmosphäre desvorsichtigen Optimismus. PARWIZ / REUTERS
Afghanistan tritt langen Weg zum Frieden an
Nach der Unterzeichnung eines Abkommens zwischen den USA und den Taliban ze ichnen sich bereits grosse Probleme ab
ULRIKE PUTZ,TOKIO
DieUSAunddieTalibanhabenamSams-
tag in der katarischen Hauptstadt Doha
ein historisches Abkommen für einen
Frieden in Afghanistan unterzeichnet.
Im Beisein des amerikanischenAussen-
ministers MikePompeo setzten Unter-
händlerderbeidenKonfliktparteienihre
Unterschriften unter ein Dokument, das
Afghanistan denWeg zumFrieden wei-
sen soll.Daraufhin brandete imKonfe-
renzzentrum des Sheraton-Hotels Bei-
fall auf .Angehörige der amerikanischen
Delegation und derAbordnung derTali-
ban, die achtzehn Monate lang um das
Abkommen gerungen hatten, schüttel-
tensichdieHände,einigeumarmtensich.
Der Vertrag sieht einen schritt-
weisen Abzug der nochrund13 000
am Hindukusch stationierten Amerika-
ner vor. Binnen 135Tagen soll die Zahl
der amerikanischen Soldaten auf 860 0
reduziert werden, derRest derTruppen
soll innerhalb der nächsten14 Mon aten
abziehen.Auch die verbliebenen nicht-
amerikanischen Nato-Truppen (Ende
2019 rund 6700Mann) sollen abge-
zogen werden.
Die Taliban verpflichten sich im
Gegenzug, internationalenTerrororga-
nisationen wie al-Kaidakeine Zuflucht
in Afghanistan zu bieten. Dieser Punkt
ist für die USA entscheidend, weil die
Anschläge von 9/11 einst von Afghani-
stan aus angeordnet worden waren.Wei-
ter haben sie sich dieTaliban einverstan-
denerklärt,inzehnTagenGesprächemit
Vertretern der afghanischenRegierung
über die politische Zukunft desLandes
zu beginnen.Die innerafghanischen Ge-
spräche werden vermutlich in Oslo statt-
finden.WährenddieTalibaninDohaihre
Unterschrift leisteten, traf der ameri-
kanischeVerteidigungsminister Mark
Esper in Kabul aufVertreter derRegie-
rung, um auch diese auf die Gespräche
einzuschwören.
Frauen fürchtendie Taliban
VorderUnterzeichnungdesAbkommens
hatten AussenministerPompeo und ein
Sprecher derTaliban betont, dass es sich
um einenFriedensplan unterVorbehalt
handle. Sollte eine Seite ihreAuflagen
nicht erfüllen, sei der Deal vomTisch.
Doch auch wenn sich dieVertragspart-
nermitMisstrauenbegegneten,herrschte
in Doha eine Atmosphäre des vorsichti-
genOptimismus:NachüberachtzehnJah-
ren Krieg in Afghanistan weckt das Ab-
kommen Hoffnung darauf, dass dasLand
undseinegeschundeneBevölkerungend-
lich denWeg zumFriedenfindenkönnen.
EinenVorgeschmack darauf, wie sich ein
Frieden anfühlenkönnte, haben die 35
Millionen Afghanen vergangeneWoche
erlebt,als dieTaliban inVorbereitung auf
das Abkommen von Doha und als Geste
desgutenWillenseineneinwöchigen,teil-
weisenWaffenstillstand einhielten.
Doch auch wenn sich wohl die aller-
meistenAfghanennichtssehnlicherwün-
schenalseinEndederKämpfe,bringtdas
Friedensabkommen nicht nur Erleichte-
rung, sondern auch neue Sorgen mit sich.
Viele, vor allem AfghanistansFrauen,
trauen denTaliban nicht und fürch-
ten, dass diese ihre Machtstellung aus-
nutz en werden, um erneut ein islamis-
tischesRegime zu etablieren.Während
derSchreckensherrschaftderTalibanvon
1996bis2001warenAfghanistansFrauen
faktisch entmündigt und zu einem men-
schenunwürdigen Leben verdammt.
DerWegzumFrieden,deramSamstag
in Doha beschritten wurde, ist lang und
voller Hindernisse. Das ist allen Betei-
ligten bewusst.Da ist unter anderem die
Frage, ob dieTaliban-Kommandeure, die
den Frieden wollen,in derLage sein wer-
den,radikale Splittergruppen unterKon-
trolle zu halten. Die Taliban zahlen ihren
geschätzt 60000 Kämpfern einen guten
Sold,derdieFamilienderAufständischen
ernährt.Esdürfteschwierigwerden,diese
Männer,dievomKriegleben,zurNieder-
legung ihrerWaffen zu bewegen.
Deshalb besteht die Gefahr, dass der
ebenfalls in Afghanistan aktive Islami-
sche Staat zum Sammelbecken für von
der Taliban-Führung enttäuschteRebel-
len werdenkönnte. Im schlimmsten Fall
hätte das zurFolge, dass dieselben Män-
nerwieindenvergangenenJahrenAfgha-
nistan mit Gewalt überziehen – nur unter
anderer Flagge.
Das unmittelbar grösste Hindernis
zum Frieden ist jedoch die verfahrene
politischeLage in Kabul.Am 18. Februar
wurde der amtierende PräsidentAshraf
Ghani zum Gewinner der bereits im Sep-
tember abgehaltenen Präsidentschafts-
wahl erklärt.Sein Rivale, der amtierende
Regierungsgeschäftsführer Abdullah
Abdullah, akzeptiert dasResultat nicht
und bezichtigt Ghani derWahlfälschung.
Abdullah hat angekündigt, eine eigene,
rivalisierendeRegierung zu bilden.
Der Zwistkönnte den gerade unter-
zeichnetenFriedensplan schon in weni-
gen Tagen wieder gefährden. Denn so-
lange eskeine allgemein als legitim aner-
kannteRegierung in Kabul gibt,können
die vorgesehenen innerafghanischen Ge-
spräche mit denTaliban nicht beginnen.
Vermittler in Kabul arbeiten mit Hoch-
druck daran, die beiden verfeindeten
Männer zu einemKompromiss zu bewe-
gen. Eine Optionkönnte sein, wie in der
Vergangenheit eineRegierung der natio-
nalen Einheit zu bilden, bei derAbdullah
und andere prominente Kritiker Ghanis
mit hohenPosten versorgt und so ruhig-
gestellt werden.
Ghani sorgte amTag nach der Unter-
zeichnung des Abkommens zudem für
einen ersten Streit. Er erklärte vorJour-
nalisten,ein in derVereinbarung erwähn-
ter Gefangenenaustausch,dervorBeginn
der inner-afghanischen Gespräche statt-
findensollt e, sei keineVerpflichtung. Die
Freilassung von Gefangenenkönne Teil
des Dialogprozesses sein, aber nicht Be-
dingung für dessen Beginn.Das Abkom-
mensiehtvor,dassbiszum10.Märzbiszu
5000gefangeneTaliban freigelassen wer-
den sollen. Im Gegenzug sollen auch die
Taliban bis zu 1000Gefangene freilassen.
Triumphgefühleder Taliban
Für dieTaliban markiert das Abkom-
men von Doha ohne Zweifel einen Sieg.
Die Truppe, deren Grundausrüstung
vornehmlich aus altenToyota-Pick-up-
Trucks und Kalaschnikow-Gewehren be-
steht,hatesachtzehnJahrelanggeschafft,
der mächtigsten Armee derWelt zu trot-
zen.HeutekontrollierendieIslamisten
bis 50 Prozent Afghanistans..
Dass die USA bereit waren, denTali-
ban durch das Abkommen von Doha
internationale Legitimation zuzugeste-
hen, ist mit der grossen Kriegsmüdigkeit
in Washington zu erklären. Der ameri-
kanischen Öffentlichkeit ist längst nicht
mehr vermittelbar, warum die USA am
Hindukusch in einem so verlustreichen
wie teuren Krieg stehen. Seit die USA
2001 einmarschierten, um nach den An-
schlägen von 9/11 den von denTaliban
beherbergten Usama binLadin zu jagen,
sind etwa 2300 amerikanische Soldaten
gefallen, 20 600 wurden verwundet. Die
Kosten für denWaffengang beliefen sich
auch 2018 und 2019 auf immer noch rund
40 Milliarden Franken proJahr.
Der amerikanische Präsident Donald
Trump war 2016 mit demWahlverspre-
chen angetreten, den längsten Krieg der
USA zu beenden und dieTruppen aus
Afghanistan heimzuholen. Angesichts
des schleppenden Fortgangs derVer-
handlungen und im Licht der 2020 an-
stehenden Präsidentschaftswahl erhöhte
Washington vergangenesJahr den Druck
auf dieTaliban. 2019 warf dieamerikani-
sche Armee7423 Bomben aufAfghani-
stan ab – die höchste Zahl seit 2006, als
das Pentagon die entsprechendenDaten
zu erheben begann. Seit dem Einmarsch
der USA wurden mindestens eine halbe
Million Afghanen getötet oder verwun-
det. Millionen wurden durch den Krieg
vertrieben.
Erdogan geht in Idlib aufs Ganze
Die Türkei hat ihre Offensive gege n das Asad-Regime verstärkt – und Russland faktisch den Krieg erklä rt
CHRISTIAN WEISFLOG, BEIRUT
Die Türkei verurteilte die syrische Of-
fensive in Idlib während Monaten mit
scharfenWorten, liess ihren Drohungen
aber nieTaten folgen.Viele Menschen in
der syrischenRebellenprovinz verloren
deshalb ihre in die türkischeSchutz-
macht gesetzten Hoffnungen. Und sie
glaubten auch dem türkischen Präsiden-
ten Recep Tayyip Erdogan nicht, als er
vor wenigenWochen mit Krieg drohte,
sollten sich dieTruppen des syrischen
Präsidenten Asad bis EndeFebrua r
nicht zurückziehen. Die Zweifler hatten
sich getäuscht:Am Sonntag lief das Ulti-
matum ab, und Ankara rief offiziell die
Offensive «Frühlingsschild» aus.
Türkei setztKampfdrohnen ein
Damit stellt dieTürkei ihrVorgehen auf
eine Stufe mit früheren Offensiven in
Nordsyrien: «Euphratschild» 2017, «Oli-
venzweig» 2018 und «Friedensquell»
- DieseInvasionen richteten sich im
Gegensatz zur laufenden Operation je-
doch nicht direkt gegen syrischeRegime-
Truppen, sondern gegen die vonKurden
kontrollierten Gebiete. Sie geschahen zu-
dem im Einvernehmen mitRussland.
Gemäss dem türkischenVerteidi gungs-
minister Hulusi Akar begann die Offen-
sive «Frühlingsschild» bereits nach dem
syrischen Luftangriff vom Donnerstag,
bei dem in Idlib 36 türkische Soldaten ge-
tötet worden waren.Ankara geht mittler-
weile davon aus, dass an der Operation
auch russische Kampfjets beteiligt waren.
Seither hat dieTürkei ihre Schützen-
hilfe für die islamistischen und jihadis-
tischenRebellengruppen in Idlib deut-
lich verstärkt. Im Einsatz sind nun auch
Kampfdrohnen. «Rund 1200 syrische
Soldaten, eine Drohne, acht Helikopter,
103 Panzer, Dutzende Haubitzen und
drei Flugabwehrsysteme wurden neutra-
lisiert», sagteVerteidigungsministerAkar
am Sonntag. Diese Zahlen sind vermut-
lich stark übertrieben. Die Syrische Be-
obachtungsstelle für Menschenrechte
(SOHR) schätzt die Zahl der seit Don-
nerstag getötetenRegime-Soldaten auf
zirka120.DochzweifelloskonnteAnkara
denschnellensyrischenVormarschbrem-
sen und AsadsTruppen an einigen Or-
ten auch zurückdrängen. Der bisher
grösste Erfolg war dabei dieRückerobe-
rung von Sarakeb, einem zentralenVer-
kehrsknoten entlang denFernstrassen
zwischen den GrossstädtenDamaskus,
Aleppo undLatakia.
Dank der türkischen Unterstützung
hätten die syrischenRebellengruppen in
den vergangenen sechsTagen insgesamt
23Ortschaftenzurückero bert,schreibtdie
SOHR.Die staatliche syrische Nachrich-
tenagentur Sana bestätigte am Sonntag
denAbschusszweiersyrischerKampfjets
durch türkische Streitkräfte. Die Piloten
konnten sich angeblich mit dem Schleu-
dersitzrett en. Gleichzeitig hätten türki-
sche Drohnen mehrere syrische Luftwaf-
fenstützpunkte angegriffen, berichteten
oppositionsnahe Medien.
Verlustemeldeteauchdielibanesische
Schiitenmiliz Hizbullah, die inSyrien an
der Seite des Asad-Regimes kämpft. Be-
reits in den vergangenenWochen waren
in Südlibanon mehrere «Märtyrer» be-
erdigt worden. Nun seien acht weitere
Kämpfer inSyrien getötet worden,bestä-
tigte eine anonyme Quelle innerhalb des
Hizbullah gegenüber der libanesischen
Tageszeitung«The Daily Star».
Die grosseFrage ist nun jedoch, wie
Russland auf die verstärkte Offensive
der Türkei reagiert. Die syrische Armee-
führungkündigteamSonntagdieSchlies-
sung desLuft raums überIdlib an: « Jedes
Flugzeug, das den syrischen Luftraum
verletzt, wird abgeschossen.» Zumindest
einetürkischeDrohnewurdeamSonntag
wohl vom Himmel geholt.Ein gänzliches
Flugverbot wirdDamaskus aber vermut-
lich nur mit russischer Hilfe durchsetzen
können. Dies wiederum hiesse, dass rus-
sische Kampfjets undRaketen türkisches
Fluggerät abschiessen müssten.Es würde
endgültig Krieg zwischen Moskau und
Ankara herrschen.
Putinunte r Zugzwang
Noch scheint dieTürke i zu hoffen, ein
solches Szenario vermeiden zukönnen.
Sein Land werde nur syrischeRegime-
Truppen angreifen, erklärte Akar am
Sonntag. «Wir suchenkeine Konfron-
tation mitRussland. Unser Ziel ist es,
die Massaker desRegimes zu stoppen.»
DieTürkeierwartevonRusslandjedoch,
seinen Einfluss zu nutzen, um die An-
griffe des Asad-Regimes zu stoppen. In
dieser türkischenForderung steckt viel
Wunschdenken.Ohne die massive russi-
scheUnterstützungausderLuftundteil-
weise auch am Boden wäreAsad in Idlib
gar nie so weit gekommen. Trotz unein-
geschränkterLufthoheitbrauchtenseine
Truppen zehn Monate, um dieVerteidi-
gungslinien derAufständischen zu bre-
chen.Allein seit Dezember wurden rund
300 Zivilisten durch Bomben getötet,
die unter anderem auch Spitäler, Schu-
lenundMärktetrafen.ÜbereineMillion
Menschen flüchteten vor denRegime-
Truppen an die türkische Grenze und
liessen ihre Städte praktisch leer zurück.
Russland hat diesekompromisslose
Kriegsführung mitgetragen und es Asad
damit erst ermöglicht, eine ernsthafte
politische Lösung auszuschliessen.Für
Damaskus und Moskau ist jeder einTer-
rorist,dernichtmitihnenist.Undsosagte
derrussischeAussenministerSergeiLaw-
row imFebruar: «Der Sieg über denTer-
rorismus in Idlib ist unausweichlich.»
Die Türkei trägt an der gegenwärti-
gen Situation allerdings eine Mitschuld.
Ankara hatte Moskau und Damas-
kus im sogenannten Sotschi-Abkom-
men 2018 unter anderem versprochen,
die radikalsten Gruppierungen in Idlib
aus einer Pufferzone zu entfernen.Doch
Erdogan wollte oderkonnte dem Asad-
Regime diesen Gefallen nicht machen.
Schliesslich dienten ihm islamistische
Rebellengruppen auch dazu, syrische
Kurdengebiete zu erobern.
Ob nun nochRaum fürKompro-
misse besteht, wird sich zeigen müs-
sen. Entscheidendkönnte ein für Don-
nerstag oderFreitag geplantesTreffen
zwischen Erdogan und Putin sein.