4 INTERNATIONAL Montag, 2. März 2020
Der neuePremierminister Muhyiddin Yassin (Mitte) vor seiner Amtseinführung. NAZRI RAPAAI / EPA
Eine turbulente Wende in Malaysia
MuyhiddinYassin bringt alte Koalition zu Fall und wird Premierminister
MANFRED RIST, SINGAPUR
Seit Sonntagmorgen hat Malaysia einen
neuen Premierminister. Er heisst Muhy-
iddinYassin, ist 72-jährig und gesund-
heitlich schwer angeschlagen. Und seine
Ernennung durch denKönig ist genauso
umstritten wie seine politischeLauf-
bahn: Es handelt sich nämlich um den
früheren Stellvertreter des wegenKor-
ruption angeklagten ehemaligenRegie-
rungschefs NajibRazak.
Putschaus den eigenenReihen
Malaysias Monarch, Sultan Abdullah
Ri’ayatuddin, hat Muhyiddin am Mor-
gen in aller Eile imKönigspalast ver-
eidigt und mit derRegierungsbildung
betraut. Mit der speditiven Bestimmung
einesNachfolgers für den letzteWoche
zurückgetretenen Mahathir Mohamad
solle die verworrene politischeLage
stabilisiert werden, liess derPalast ver-
lauten.Aber Malaysia steht eher unter
Schock:Dank derKoalition, die Muhy-
iddinYassin geschmiedet hat,kehrt die
2018 so schmachvoll abgewählte United
Malays National Organisation(Umno)
an die Macht zurück.
Das neueRegierungsbündnis umfasst
neben Umno auch diekonservativ-isla-
mischeParti Islam SeMalaysia (PAS).
Dazukommt diePartei Bersatu, die 20 16
von Mahathir und Muhyiddin gegrün-
det worden war. Mit der Minne zwischen
den zweiParteifreundenistes seit eini-
genTagen indessen vorbei: Muhyiddin
ist Mahathir in denRücken gefallen und
hat sichVerbündete im ehemals gegne-
rischen Umno-PAS-Lager ins Boot ge-
holt.Dazu gesellen sich weitereAbtrün-
nigeaus der altenKoalition, die derPar-
tei von Anwar Ibrahim angehörten.
Noch ist unklar, ob die neu for-
mierteKoalition über eineParlaments-
mehrheit verfügt. In der grossen Kam-
mer mit 222 Sitzen wären dazu 112 Ge-
folgsleute nötig. Falls es in den nächsten
Tagen zu einerVertrauensabstimmung
kommt,könnten Neuwahlen unumgäng-
lich werden.
In einem verzweifelten Versuch,
selbst noch einmal mit derRegierungs-
bildung betraut zu werden, ist Mahathir
am Samstag beimKönig vorstellig ge-
worden. Er habe genügendParlamenta-
rier hinter sich, reklamierte der 94-Jäh-
rige, der vor einerWoche das Handtuch
geworfen hatte. Mit einer Liste in der
Hand, die 114 Namen enthielt, hofften
Mahathir und seine altenKoalitions-
partner auf einen Sinneswandel des
Monarchen.Vergeblich. DerKönig, der
sich amVortag mit anderen Sultanen
beraten hatte, sah offenbar die Zeit für
einenWechsel gekommen.
Die alte Regierung war bloss 22
Monate im Amt. Sie wurde nach dem
überraschendenWahlsieg am 9. Mai
2018 vonMahathir ins Leben geru-
fen und beendete eine übersechsJahr-
zehnte dauernde Herrschaft der Umno,
die Malaysia seit der Staatsgründung
dominiert hatte.
Das Verdikt derWähler an jenem
- Mai war klar gewesen: NajibRazak
und seiner Clique,die den wirtschaft-
lichen Niedergang desLandes und den
Ruin des Staatsfonds 1MDB zu verant-
worten hatten und demokratischeRechte
immer stärker einschränkten, wurde das
Vertrauen entzogen. Mahathir, der mit
dem langjährigen politischen Häftling
Anwar Ibrahim ein Zweckbündnis gegen
Najib geschlossen hatte, sollte für einen
Neubeginn und fürReformen sorgen.
Weniger als zweiJahre später muss sich
die grosse Mehrheit in Malaysia betro-
gen vorkommen.
MahathirskapitalesVersäumnis
Dass es zu diesemFiaskokommenkonnte,
hat zum einen mit der Schwäche des alten
Zweckbündnisses zu tun. Neben Maha-
thirsPartei Bersatu und Anwar Ibrahims
Keadilan umfasste dieses auch die chine-
sisch geprägte DemocraticActionParty
(DAP), die einen ausgesprochen säkula-
ren Kurs fährt und erstmals an derRegie-
rung beteiligt wurde. In derkonservativen
malaiisch-muslimischen Gesellschaft war
das vielen ein Dorn imAuge. Durch das
Ausspielen der ethnisch-religiösen Karte
durch Umno undPAS wurden Mahathir
und Anwar denn auch zunehmend zuVe r-
rätern der Malaien gestempelt.
Letztlichhataber Mahathir selbst
den Niedergang seinerKoalition zu ver-
antworten. Als Premierminister zögerte
er gegenüber Anwar Ibrahim: Obwohl
er sich stets als interimistischenRegie-
rungschef bezeichnete, der nach zwei
Jahren zurücktreten werde, weigerte er
sich standhaft, einen genauenTermin zu
nennen und Anwar klar und deutlich als
seinenNachfolger zu bezeichnen. In der
Folge begann AnwarsAutorität zu brö-
ckeln, seineWidersacher wurden stärker.
Als Chairman von Bersatu zögerte
Mahathir schliesslich bei der Diszipli-
nierung seinerPartei. Ihre malaiisch-
muslimischeBasis machte sie gegen-
überAvancen aus der Umno verwund-
bar, aus derenReihen die meisten Ber-
satu-Abgeordneten stammten; zu ihnen
zählt auch MuhyiddinYassin, der bis
2016 als stellvertretender Premierminis-
ter zumengsten Machtzirkel von Najib
gehört hatte. Als Mahathir vor einer
Woche ausFrustration über die Sezes-
sionsbewegung innerhalb seinerPar-
tei als Premierminister undParteichef
zurücktrat, liess sich Muhyiddin nicht
zweimal bitten.
Rückgängig machenkonnte Maha-
thir denFehler danach nicht mehr. Eine
neue Generation vonPolitikernsah
ihre Chance. Und die Umno winkte mit
Geld. Schliesslich blitzte Mahathir auch
beimKönig ab. Bei denRoyals, die er
seit den achtzigerJahren als degenerier-
tesPack und alsVerschwender bezeich-
net, war er nie beliebt.
DieFolgen für Malaysia sind gravie-
rend. Mit derWahl vor knapp zweiJah-
ren nahm die malaysische Bevölkerung
das Heft wieder in die Hand. Ein Stolz
auf diese demokratische Errungenschaft
fuhr damals durchsLand. Malaysia war
ferner drauf und dran, sich zu moderni-
sieren. Ethnische Scheuklappen wurden
abgelegt,religiös-konservative Strömun-
gen wurden eingedämmt, und das deso-
late Schulsystem stand vorReformen.
Mit Anwar Ibrahim, dem zweiten gros-
senVerlierer dieserMachtergreifung
durch die Hintertür, wird zudem einer
der fähigstenPolitiker geopfert.
Die Slowakei erleb t einen politischen Umbruch
Die RegierungsparteiSmer wird bei der Parlamentswahl nach 14 Jahren abgewählt
PAUL FLÜCKIGER,WARSCHAU
Dieerste Nationalratswahl in der Slowa-
kei nach demJournalistenmord vor zwei
Jahren hat die politischeLandschaft völ-
lig umgepflügt. Die bisherregierende
linkspopulistische Smer ist von 28 auf
18 Prozent (38 Sitze) abgesackt und
wird nach vierzehnJahren an der Macht
allerVoraussicht nach in die Opposition
gehen müssen. Die grosse Gewinnerin
derParlamentswahl vom Samstag ist die
ideologisch schwergreifbare, abereher
konservative Protestpartei «Gewöhn-
liche Leute und unabhängigePersonen»
(Olano) des Medienunternehmers Igor
Matovic. Siekonnte Smer mit 25 Pro-
zent (53 von150 Sitzen) auf den zwei-
ten Platz verweisen.
Matovic hat inzwischen allen demo-
kratischen bisherigen Oppositions-
parteien angeboten, einem breit abge-
stützten Mitte-rechts-Bündnis unter
seinerFührung beizutreten.Dazu zählt
die rechtspopulistische Partei «Sme
Rodina» (8,2 Prozent, 17 Sitze), die wirt-
schaftsliberalePartei «Freiheit und Soli-
darität» (SaS) (6,2 Prozent, 13 Sitze) und
die neue Bürgerpartei «Za l’udi» (5,
Prozent, 12 Sitze) des ehemaligen Staats-
präsidenten Andrei Kiska. DieVierer-
koalition würde zusammen über 95 von
150 Sitzen verfügen, was ihr die Mög-
lichkeit gibt, dieVerfassung zu ändern.
Ideologisch schwer zu fassen
Ganz knapp gescheitert ist die Bürger-
aktivisten-Koalition «PS-Spolu» (6,97%)
von Staatspräsidentin Zuzana Caputova,
der Umfragen wesentlich mehr Stim-
men vorausgesagt hatten. Auch imFall
derrechtsextremen«Volkspartei Unsere
Slowakei» (LSNS) desPolitikers Marian
Kotleba hatten sich die Umfragen nicht
bewahrheitet. Statt massiv zuzulegen,
verzeichnete dieLSNS gegenüber 20 16
leichte Stimmenverluste und kam auf7, 9
Prozent (17 Sitze).
Die stark fragmentierteParteien-
landschaft in der Slowakei hatte einen
langenRegierungsbildungsprozess be-
fürchten lassen.Dazu dürfte es nun laut
dem slowakischenPolitologenRadovan
Geist nichtkommen. Igor Matovic werde
die neue Mitte-rechts-Koalition wenig
kompromissbereit aus einerPosition
der Stärke führen, Streitigkeiten seien
deshalb programmiert, erklärt Geist
im Gespräch. DerPolitologe vergleicht
den Olano-Chef mit dem ukrainischen
PräsidentenWolodimir Selenski. Er sei
ideologisch schwer zu fassen, populis-
tisch, aber eher proeuropäisch. Mato-
vics 2010 gegründetePartei ist ganz auf
ihren Gründer ausgerichtet, von partei-
interner Demokratie hält dieser ähnlich
wenig wieJaroslaw Kaczynski inPolen
undViktor Orban in Ungarn.
In Bratislava wird nun erwartet, dass
die neueRegierung den von der abge-
wählten Smer ernanntenPolizeichefund
die Oberstaatsanwaltschaft im Nach-
gang zum MordprozessJan Kuciakrasch
auswechselt. Zudem dürfte eine Son-
derstaatsanwaltschaft mit weitreichen-
denKompetenzen fürKorruptionsver-
gehen nach demVorbildRumäniens ge-
schaffen werden. Diese neue Strafver-
folgungseinheit soll dieVerquickung
vonPolitik, Geschäfts- und Unterwelt
aufbrechen. Der Sumpf wird im laufen-
den Prozess gegen den mutmasslichen
Hintermann des Mordes am Investiga-
tivjournalistenKuciak, den Immobilien-
hai MarianKocner, deutlich erkennbar.
NeuerWind inder EU-Politik
DerPolitologe Geist sagt, es werde nun
wichtig sein, obKocnersVerbündete
und kleinerelokale Oligarchen sich Zu-
gang zur neuenRegierungsmannschaft
verschaffenkönnten oderob sie am kla-
ren Wählerwillen nach einer Erneue-
rung abprallten. Geist schliesst nicht aus,
dass es zu Strafverfahren gegen frühere
Smer-Funktionärekommenkönnte.
Ein andererWind dürfte in Brati-
sl ava auch in der EU-Politik wehen:
Olano mag einerechtspopulistischePar-
tei sein, die meisten ihrer potenziellen
Regierungspartner sind aber klar EU-
freundlich.
Frankreichs
Regierung greift
zum Holzhammer
Parlamentarische Beratung über
die Rentenreformwird abgekürzt
NINA BELZ,PARIS
Das französische Kabinett ist am Sams-
tag zu einer Sondersitzung zusammen-
getroffen.Dabei ging es primär um den
Umgang mit dem Coronavirus. Auch in
Frankreich ist die Zahl der Infizierten
in den vergangenenTagenrasch ange-
stiegen und liegt inzwischen bei 130 be-
stätigtenFällen. Die Minister stimmten
allerdings auch einem wichtigen und un-
gewöhnlichen Schritt zu, um die umstrit-
teneRentenreform voranzubringen.
Die Beratungen über das entspre-
chende Gesetz haben in der Assemblée
nationale vor zweiWochen begonnen.
Doch siekommen kaum vom Fleck. Die
Opposition, allen voran die linke Bewe-
gungLaFrance insoumise, hatte 41 000
Änderungsanträge für die 65 Artikel ein-
gereicht. In zweiWochen wurden daher
in 115 Stunden Sitzung nur gerade sieben
Artikel besprochen. Den Zeitplan einzu-
halten, den dieRegierung sich gesetzt
hatte, schien unmöglich. Premierminis-
ter Edouard Philippe kündigte daher ei-
nige Stunden nach der Kabinettssitzung
denRückgriff auf einenVerfassungspara-
grafen an, der auch als nukleareWaffe
der Gesetzgebung bezeichnet wird: Er
erlaubt, ein Gesetz ohne Abstimmung
in der Nationalversammlung als ange-
nommen zu betrachten.Damit wolle er
einer Nichtdebatte ein Ende setzen, sagte
Philippe, der eine mutwillige Obstruktion
einer Minderheit beklagte, welche die
Institutionen lähme.
Gefahr lauert nicht im Parlament
Philippe greift zumersten Malauf diese
Option zurück, doch ist er nicht der erste
Regierungschef, der davon Gebrauch
macht. MichelRocard, von1988 bis
1991 Premierminister, wandte den Arti-
kel 28- mal und damit fast systematisch
an, und auch ManuelValls nutzte ihn zwi-
schen 20 14 und 20 16 insgesamt 6-mal.
Für dieRegierung enthält derRück-
griffauf Artikel 49.3 ein Risiko. Er er-
laubt den Abgeordneten, innert 24 Stun-
den einen Misstrauensantrag zu stellen.
ZweiParteien taten dies amWochen-
ende umgehend; die Abstimmungen
darüber werden am Dienstag statt-
finden.Dadie Bewegung von Emma-
nuel Macron in der Assemblée nationale
über einekomfortableMehrheitverfügt,
die überdies hinter derRentenreform
steht, hat dieRegierung zumindest auf
dieser Ebene nichts zu befürchten.
Das Risiko liegt vielmehr ausserhalb
desParlaments. DieRentenreform wird
von gewissen Berufsgruppen und einem
grossenTeil der Gewerkschaften nach
wie vor erbittert undkompromisslos be-
kämpft. Die Chance, dasses erneut zu
Blockadenkommt und diese wieder an
Zulauf gewinnen, istreell.
Verhandlungen gehen weiter
Doch auch die parlamentarischen Bera-
tungen sind nichtabgeschlossen. Ende
April steht das Gesetz auf derTages-
ordnung des Senats, in dem dieRegie-
rungsparteikeine Mehrheit hat.Auch
ist es nicht möglich, die kleine Kammer
mit Artikel 49.3 zu übergehen.Lautdem
Premierminister werden die Senatoren
nicht die ursprünglicheVersion des Ge-
setzes vorgelegt bekommen, sondern
eine, inder eine Vielzahlder Ände-
rungsanträge berücksichtigt würde.
Überhaupt war Philippe bemüht, den
Eindruck zu vermeiden, jeglicher Dia-
log sei beendet: Die Beratungen mit den
Gewerkschaften über dieFinanzierung
des neuen, einheitlichenRentensystems
würden weitergehen, sagteer.
DieRentenreform sieht vor, dass die
42 verschiedenenRentenkassen inFrank-
reich zu einer einzigen zusammengeführt
werden. EinPensionsbezug vor dem ge-
setzlichenRentenalter 62 soll nicht mehr
vomArbeitgeber, sondern aufgrund ein-
heitlicher Kriterien bestimmt werden.
Angesichts der aussergewöhnlich lange
andauernden Proteste hat dieRegie-
rung gegenüber mehreren Berufsgrup-
pen Zugeständnisse gemacht.