Neue Zürcher Zeitung - 02.03.2020

(avery) #1

Montag, 2. März 2020 ZUSCHRIFTEN 7


PETER BAUZA

FOTO-TABLEAU

Das Gift


in unseren Adern 1/


RaphaelFobister ist einer der etwa 970 Einwohner
des Grassy-Narrows-Reservats in der kanadischen
Provinz Ontario. Er gehört zum indigenenVolk der
Asubpeeschoseewagong, bekannt unter dem Namen
Grassy NarrowsFirst Nation. Insgesamt zählen zu
dieserVolksgruppe knapp1600 Personen.Fobister,
einer der früheren Anführer desReservats, hat eine
schwere Pigmentstörung, Diabetes, Demenz und
leidet unter einemTaubheitsgefühl in den Glied-
massen sowie einem ständigen Klingeln im Ohr. Es
sind dieFolgen einer Quecksilbervergiftung,
verursacht durch eine örtliche Chemiefabrik, die in
den sechzigerJahren ihre Abfälle in einem Fluss in
der Umgebung entsorgte. Auf dieseWeise gelangten
10 Tonnen Quecksilber insWasser und belasteten
sowohl dieFische als auch das Grundwasser. Die
Folgen dieser Umweltverschmutzung sind beträcht-
lich: Etwa 90 Prozent der Einwohner des Grassy-Nar-
rows- und des benachbartenWhite-Dog-Reservats
weisen noch heuteSymptome auf, die auf eine
Quecksilbervergiftung zurückzuführen sind.Auch die
Arbeitslosigkeit in derRegion ist gestiegen. Nachdem
festgestellt worden war, dass dieFische zu stark mit
Quecksilber belastet sind, legte dieRegierung von
Ontario1970 die örtlichenFischereibetriebe still,
wodurch viele Indigene, die bis dahin vor allem von
der Fischerei und vomTourismus gelebt hatten,
arbeitslos wurden. DerFotografPeter Bauza hat die
Reservate und ihre Einwohner besucht. Entstanden
ist dabei die Arbeit«The Poison in ourVeins».

«Geg enderter» Jesus?


«... et homo factus est.» Der katholi-
scheTheologeJan-HeinerTück würde
diesen Satz aus dem Credo wohl fol-
gendermassen übersetzen: «Und [Jesus]
ist Mann geworden.»In der NZZvom



  1. Februar2020 kritisiert er Bischof
    Franz-Josef Bode, der geäussert haben
    soll,«Jesus sei nicht Mann, sondern
    Mensch geworden». «Aber ist das
    Mannsein (.. .) irrelevant?», fragtTück
    und unterstellt dem mutigen Bischof
    aus Osnabrück, er wolle sich bei «einer
    um Geschlechtergerechtigkeit ringen-
    denTheologie» anbiedern. Doch argu-
    mentiertTück theologisch sauber? Sein
    Verweis auf die gnostischeVersuchung,
    Jesu Menschsein in Zweifel zu ziehen,
    ist nämlich genau das Gegenteil von
    dem, was Bode intendiert.Jesus wird
    nicht ein «Scheinleib» untergejubelt
    oder übergezogen,sondernes wird sein
    volles, komplettes Menschsein prokla-
    mie rt. Jesus hingegen auf sein Mann-
    sein zureduzieren, wird trotz Beschnei-
    dung und trotz demPersonalpronomen
    «er» dem Sohne Gottes nicht gerecht.
    Hat dennJesus nicht zeit seines irdi-
    schenDaseins die typische Männerrolle
    transzendiert und die ungeschriebenen
    Gesetze, wie sich ein Mann seiner Zeit
    zu verhalten hatte, munter gebrochen?
    Nicht nur warenJüngerinnen in seinem
    Gefolge, Frauendie ersten Zeugen sei-
    ner Auferstehung, nein, er hat auch un-
    befangen mit nichtjüdischenFrauen ge-
    sprochen. Sein Umgang gerade mit von
    der Gesellschaft verworfenenFrauen ist
    legendär und schliesslich vorbildhaft ge-
    worden. Die nochimmer in denRollen-
    klischees ihrer Zeit verhafteten Männer


mussten dies manchmalkopfschüttelnd
zur Kenntnis nehmen. Nein, das Mann-
sein war fürJesus kein Problem, denn er
war eben ein Mensch.
Vielleicht aber wollte derWiener
Theologe mit seinem Artikel bloss sei-
nenAufruf zurWiedereinführung des
Festes der BeschneidungJesu wieder-
holen (NZZ 29. 10.18). Er hat zuRecht
an dasJudeseinJesu erinnert und be-
zeichnetJesu Beschneidung in einer ge-
lungenenWendung als eine «Schnitt-
stelle» zwischenIsrael und der Kirche.
Bode genderistische und gnostischeTen-
denzen unterzuschieben, die dasJude-
seinJesu infrage stellten, ist hingegen
starkerTobak!
Jean Pierre Bünter, Hombrechtikon

Eine weniger


knackige Schlag zeile


Dank dem«Tabubruch» einer jungen
SVP-Politikerin seien die Spitexkosten
in Aarburg halbiert worden, macht uns
derTitel des Artikels glauben (NZZ




    1. 20). Überhaupt sei im Gesund-
      heitswesen «brutal viel Luft drin», wird
      der Geschäftsführer des Unternehmens
      zitiert, das nun die Spitexleistungen für
      die Gemeinde erbringt. Bei genauerem
      Lesen ist dann allerdings nicht von einer
      Halbierung derKosten dieRede, son-
      dern bloss von einer Halbierung der
      Gemeindebeiträge. DieKosten werden
      aber mehrheitlich nicht von der Ge-
      meinde, sondern von denPatientinnen
      undPatienten und derenVersicherun-




gen getragen, von einer Halbierung der
Kosten ist man also weit entfernt.Das
zu sagen, wäre jedoch weniger knackig
als Schlagzeile und weniger grossartig
als Leistung. Und warum übrigens soll
es «brutal» sein, wenn Luft drin ist?Das
erlaubt ja immerhin das Atmen.
PeterVoll, Bern

Die Gemeinde Aarburg entzieht dem
Gemeinnützigen Frauenverein (tönt
irgendwie verstaubt) den Leistungs-
auftrag für Spitexdienste und überträgt
ihn einem privaten Anbieter(tönt mo-
dern-dynamisch), welcher die Defizit-
deckungskosten für die Gemeinde hal-
biert (Detail: nicht die Gesamtkosten
an sich). Nach anfänglicherVerunsiche-
rung seien Angestellteund auchKunden
zufrieden.Tönt gut und ist es vielleicht
auch. Die Ersparnisse würden nicht auf
dem Buckel der Angestellten erzielt,
Zitat: «nicht mit Lohndumping.. ., son-
dern mit mehr Effizienz.» Schön. Spa-
ren kann man aber auch mit Kleinpen-
sen, für diekeine Beiträge an die zweite
Säule bezahlt werden, bei derWeiter-
bildung desPersonals, mit Nichtbetei-
ligung an derAusbildung neuerFach-
kräfte (Lehrlinge); und wie ist «Spitex-
personal steht dort auf Abruf bereit»
(Zitat) zu verstehen? So weit diePer-
sonalseite. Auf Kundinnenseite, denke
ich, bleibt das Angebot gleich (Nacht-
und Wochenenddienst, Kinderspitex,
Psychex), ist ja gesetzlich vorgegeben.
Doch halt: Die Gemeinde zahlt nicht
mehr an die hauswirtschaftlichen Leis-
tungen. Macht für dieKundinnen neu
50 statt 23Franken pro Stunde für Hilfe
bei Kochen,Waschen, Putzen. Zur Not
können da «die Ergänzungsleistungen

die hauswirtschaftlichen Services finan-
zieren» (Zitat). Und Millionärinnen
(davon gibt’s anscheinend in Aarburg
ein e ganze Menge) sollten ja sowieso
nicht von Gemeindesubventionen pro-
fitieren. Nicht alle Spitexleistungsbezü-
ger sind ergänzungsleistungsberechtigte
AHV-Bezüger. Wie macht das jetzt eine
Jungfamilie, deren Mutter (normaler-
weise) Pflege zu Hause benötigt, wenn
sie die Haushaltshilfe nicht bezahlen
kann?Dann ist Spitex an sich fragwür-
dig. Grundsätzlich finde auch ichWett-
bewerbsinnvoll, bei gleichen Bedingun-
gen.DerArtikel lässt dazu vorerst ein
paarFragen offen.
Francesco Lanzicher, Mettendorf

Beten


für SVP-Politiker


Gut, weist Simon Hehli (NZZ 25. 2. 20)
auf das geradezu groteske Verhal-
ten einzelnerSVP-Politiker hin.Das
Coronavirus soll derSVP helfen, die
Begrenzungsinitiative durchzuboxen.
Ausländerkönnten jaVirusträger sein.
Im Universitätsspital Zürich (USZ)
stammen sie aus allenLändern der EU.
So trifft man im Herzzentrum des USZ
Assistenzärzte aus Italien oderPolen
und Oberärzte aus Deutschland.Das A-
Spital USZ funktioniert bestens, nicht
zuletzt dank gutem Zugang zu auslän-
dischen Mitarbeitenden auf allen hier-
archischen Stufen. Es hat wenig Sinn,
in das guteSystem mitKündigungs-
drohungen einzugreifen. So bleiben

uns englischeVerhältnisse mit langen
Wartezeiten vor Operationen erspart.
Auch in den übrigenLändern hat die
Schweiz bei besonders heiklen Eingriffe
und der Ärzteausbildung einen guten
Ruf. Dank cleverenAustauschverträgen
ist auch derWeg unsererJungärzte und
-ärztinnen insAusland, beispielsweise in
die USA, offen. Bleibt zu hoffen, dass
SVP-Politiker nie ernsthaft krank wer-
den, sonst müssen wir sie in unser Ge-
bet einschliessen. Aber Gott seiDank
wehren sich jetzt auch die Gewerk-
schaften gegen die Gefahr vonrechts
aussen und helfen kräftig mit, dieSVP-
Initiative zu bekämpfen.
Martin A. Liechti, Maur

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