Neue Zürcher Zeitung - 02.03.2020

(avery) #1
Montag, 2. März 2020 SCHWEIZ 9

EinStreit um Coca-Cola


beschäftigtevor gut 70 Jahren die Schweizer Politik SEITE 10


Die Juristin Christine Kaufmann beklagt fehlende Regeln


für eine verantwortungsvolle Unternehmensführung SEITE 11


Weitere Coronavirus-Fälle am Wochenende bestätigt


Bis Sonntagabend werden 24 Ansteckungsfälle in 11 Kantonen verz eichnet


MICHAEL SURBER


Die Ansteckungen mit demCoronavirus
nehmen in der Schweiz täglich zu. Über
dasWochenende haben die Kantone
Bern,Wallis, Basel-Landschaft undFrei-
burg erste bestätigte Infektionen gemel-
det. AlsReaktion auf die Ansteckung im
Kanton Bern wurden zwei Klassen der
TechnischenFachschule in Biel und ihre
Lehrkräfte für 14 Tage unter Quaran-
täne gestellt. Die in Biel am Coronavirus
erkrankteFrau studiert an der Schule,
wie das kantonaleFührungsorgan am
Sonntag mitteilte. Im KantonFreiburg
ist ein 30-jähriger Mann aus dem Grey-
erzbezirk positiv getestet worden.Damit


sind bis Sonntagabend 24 Ansteckungs-
fälle in 11 Kantonen offiziell bestätigt.
Mit denFallzahlen steigt auch die
Angst vor massiven wirtschaftlichen
Folgen für die Schweiz. Die Aktien-
märkte haben bereits nach untenkorri-
giert. Mit demVerbot von Grossveran-
staltungen mit über 10 00 Menschen hat
der Bundesrat zudem einen ersten ein-
schneidenden Entscheid gefällt.
Ob dieLandesregierung zu weiter-
gehenden Massnahmen gezwungen sein
wird, ist noch offen. In einem Interview
mit dem «Sonntags-Blick» sagt Bundes-
rat Alain Berset (sp.), dieLandesregie-
rung behalte sich solche explizit vor: «Wir
wollen weitere Ansteckungen, so gut es

geht, in Grenzen halten.» Bis jetzt habe
man die Infektionsketten noch im Griff.
In Italien sei dies nicht mehr derFall.
«Das wollen wir so lange wie möglich
verhindern», sagt der Gesundheitsminis-
ter weiter. Bereits jetzt haben die vom
Bundesrat getroffenen Massnahmen er-
hebliche wirtschaftlicheKonsequenzen.
Vor allemVeranstalter von Grossevents
sowie die Gastronomie und die Hotelle-
rie sind vom Entscheid betroffen.
Wie die «Sonntags-Zeitung» berich-
tet, willWirtschaftsminister GuyPar-
melin nun einen Krisengipfel einbe-
rufen: «Für nächsteWoche plant Bun-
desratParmelin einen rundenTisch mit
Arbeitnehmern, Arbeitgebern und Kan-

tonen zumThema Coronavirus», sagt
sein Sprecher, UrsWiedmer.
Vor allem die Gewerkschaften sehen
jetzt schon akuten Handlungsbedarf
seitens derRegierung. Die Rede ist von
einemKonjunkturprogramm, das mit
Geld der Nationalbank finanziert wer-
den soll. Gewerkschaftsboss Pierre-Yves
Maillardhat auch schonkonkreteVor-
stellungen:«Es ist derMoment, um an
Zukunftsprogramme zu denken, etwa
im Bereich des Klimaschutzes.»Wei -
ter brauche es jetzt auch die klassischen
Instrumente eines Krisenprogramms:
Entschädigungen für die Direktbetroffe-
nen wie etwa Hoteliers, Veranstalter und
Zulieferbetreibe der Maschinenindus-

triesowie die Einführung vonKurz-
arbeit. Gemäss einer Umfrage der «NZZ
am Sonntag» gingen in mehreren Kanto-
nen bereits Gesuche aufKurzarbeit ein.
Auch vonseiten der Arbeitgeber heisst
es, man müsse nunVerwerfungen auf
dem Arbeitsmarkt vermeiden.
Derweilreagiert die Schweizer Be-
völkerung mehrheitlich gelassen – zu-
mindest was die Einschätzung der eige-
nen Gefährdung angeht: Lediglich acht
Prozent halten das Coronavirus für eine
persönliche Bedrohung. Dies zeigt eine
Umfrage des «Sonntags-Blicks».Dass
dasVirus für die Schweiz als Ganzes be-
drohlich werdenkönnte, daran glaubt je-
doch über die Hälfte der Befragten.

Was tun mit dem explosiven Erbe?


Nach beunruhigenden Filmaufnahmen von offenen Munitionskisten im Genfersee beraten Bund und Kanton, wie sie damit umgehen sollen


ANTONIO FUMAGALLI, LAUSANNE


Herbst 2019, Genfersee: 50 Meter tau-
chen dieVertreter einer französischen
Umweltschutzorganisation in dieTiefe,
150 Meter von einer Gasleitung und
einerTr inkwasser-Entnahmestelleent-
fernt.Was sie dabei entdecken, bewegt
sogar den Bundesrat zu einerReaktion:
«Neu ist, dass die Kisten auf dem See-
grund teilweise geöffnet sind und ihr In-
halt offen liegt», schrieb er in seiner Ant-
wort auf eine Interpellation, die bisher
unbeachtet blieb. Der Genfer Staats-
rat hatte bereits zuvor verlauten lassen:
«Die Entdeckung von vier offenen Kis-
ten stellt ein neues Element dar, das in
Betracht gezogen werden muss.»
Wenn sichRegierungen so äussern,
muss die Sache ernst sein. DieTaucher
der Organisation Odysseus 3.1 sind auf
demGrund des Genfersees auf Kisten
voller Munitiongestossen, die dort bereits
seitJahrzehnten lagern. Bis anhin gingen
jedoch sowohl die kantonalen wie auch
die nationalen Behörden davon aus, dass
sich dieRückstände «untereiner meh-
rereDutzend Zentimeter dicken Sedi-
mentschicht» befinden, wie Genfs Staats-
rat etwa 20 17 schrieb. Damit bestehekei-
nerlei Gefahr für die Bevölkerung.
Nun zeigen diespektakulären Unter-
wasseraufnahmen aber, dass mehrere
Granaten völlig ungeschützt auf dem
Grund des grössten Sees der Schweiz
liegen. In Genf fragt man sich seither,
wie viel Munition dort insgesamt liegt.
Und vor allem: Ist es – so wie es bis an-
hin stets propagiert wurde – sicherer, die
Munition auf dem Seegrund zu belassen,
oder muss sie geborgen werden?


Niemandweiss, wieviel und wo


Aus heutiger Sichtistes kaum nachvoll-
ziehbar, dass nicht mehr benötigte Muni-
tion währendJahrzehnten in den Schwei-
zer Seen «entsorgt» wurde – und das im
vollen Bewusstsein (siehe Infobox). Der
Genfersee ist dabei allerdings ein Spe-
zialfall: Anders als beim Brienzer-, beim
Thuner- und beimVierwaldstättersee
handelt es sich nicht um Bestände der
Armee, sondern um jene eines privaten
Unternehmens. Dieses war es auch, das
die Sprengköpfe imWasser versenkte.
Deshalb gibt es zum Genfersee deut-
lich weniger gesicherteFakten als zu den
Rückständen in den Deutschschweizer
Seen. Beispielhaft dafür steht,dass die
vermutete Menge Munition nicht einmal
annähernd geschätzt werden kann:Zwi-
schen 150 und 1 00 0 (!)Tonnen sollen
sich gemäss den offiziellen Zahlen auf
dem Grund des Genfersees befinden. Es
entzieht sich sogar derKenntnis der Be-
hörden,wodie Überreste genau liegen.


Ein Doktorat, über das die«Tribune
de Genève» berichtet hat, beleuchtet so
gut wie möglich die damaligen Hinter-
gründe. Demnach ist die Munition vor
allem zwischen1950 und1970 im See ver-
senkt worden, einzelne Bomben aller-
dings bereits in den1920erJahren. Die
Sprengköpfe wurden in Kisten einbeto-
niert, mit geeigneten Schiffen auf den See
gebracht und dort über Bord geworfen.
1962 verbot das zuständige Genfer
Departement dieVorgänge aufgrund
der «möglichen Auswirkungen auf
Fauna und Flora». Dies wurde offenbar
aber nochJahre danach nicht eingehal-
ten. In den1990erJahren entdeckten
Taucher die ersten Überreste. Die be-
unruhigendenAufnahmen der «nack-
ten» Munition machten nun abererst
die französischen Umweltschützer.
Die neuen Erkenntnisse veranlassten
das GenferParlament zu einer dring-
lichen Anfrage an die Kantonsregierung.
Diese gestand in ihrer Antwort zwar ein,
die Situation auf dem Seegrund bis an-
hin anders eingeschätzt zu haben und
weder Menge noch Art der versenkten
Munition zukennen. Sie versuchte aber
gleichzeitig, die Bevölkerung zu beruhi-
gen: «EineAuswirkung auf Mensch und
Umwelt ist bei weitem nicht erwiesen.»
Das Tr inkwasser werde regelmässig ana-

lysiert,dabei sei «keine Anomaliein Zu-
sammenhang mit der Munition» fest-
gestellt worden. Der Genfer Staatsrat
bl eibt damit bei seiner früheren Ein-
schätzung: Die Bergung dränge sich
nicht auf, weil die Gefahr einerWasser-
verunreinigung gering sei und die not-
wendigen Tauchequipen erheblichen
Risiken ausgesetzt wären.
Im Dezember 20 19 wurde schliesslich
StänderatThomas Minder auf nationa-
ler Ebene aktiv. In seiner Interpellation,
die am Donnerstag im Ständerat trak-
tandiert ist, wollte er wissen, was der
Bund angesichts der gefährlichen Muni-
tion im Genfersee zu unternehmen ge-
denke.Der Bundesrat spielte denBall
nach Genf weiter, da «gewässerschutz-
rechtliche Massnahmen im Zuständig-
keitsbereich der Kantone» lägen. Weil
die Munition von einer Privatfirma
stamme und von ihr versenkt worden
sei, obliege es Genf, Untersuchungen zu
veranlassen und durchzuführen.
In dieser Hinsicht tut sich nun etwas
am westlichsten Zipfel der Schweiz.
«Wir können bestätigen, dass der
Kanton Genf dieAnalyse lancieren
möchte und dass wir mit demVerteidi-
gungsdepartement inKontakt stehen»,
schreibt das zuständige Genfer Depar-
tement auf Anfrage. Was dieskonkret

bedeutet, steht allerdings noch nicht im
Detail fest. Man wolle einen Kataster
erstellen,der genauere Angaben zum
Typ der Munition und zu deren Loka-
lisierung machen solle. Erste Schritte
sollen «in diesem Semester» stattfinden.
Dabei will der Kanton auch aufFach-
leute desVerteidigungsdepartements
(VBS) zurückgreifen. Dieses bestätigt,

dass Munitionsspezialisten aneinem
erstenRoundTable zumThema teil-
nehmen werden.

«ZielgebietGenfersee»


Ob weitere Massnahmen, insbesondere
die Bergung der Gefahrengüter, notwen-
dig sind, wird sich bei diesen Gesprä-
chen weisen. In Genf nimmt der politi-
sche Druck derweil zu: Eine aus denRei-
hen der SP stammende Motion verlangt
die «rasche und sofortige Sanierung des
Seebeckens». Weil die Munition zumin-
dest teilweise nicht zugedeckt sei, werde
ihr Inhalt aufgrund derKorrosion frü-
her oder später freigesetzt, was ein gros-
ses Risiko für die Umwelt, die Sicherheit
und die Gesundheit der Bürger darstelle.
DerVorschlag liegt derzeit auf demTisch
der Genfer Umweltkommission.
Der Bund befindet sich beim Spe-
zialfall Genfersee alsoineiner Neben-
rolle – wie auch ein Blick auf die of-
fizielle Übersichtsseite des VBS zum
Thema zeigt.Dort steht gleich zu Beginn
ein Satz, der in dieser Absolutheit nicht
stimmt: «Rund 80 00 Tonnen Munition
und Munitionsrückstände befinden sich
imThunersee,imBrienzersee und in
Teilen desVierwaldstättersees.» Die bis
zu 10 00 Tonnen Munition im Genfersee
werden mitkeinemWort erwähnt.
Darauf angesprochen, verweist das
VBS erneut darauf, dass die Bestände
vorwiegend von einem privaten Unter-
nehmen stammenund «die altlasten-
rechtliche Beurteilung damit den kan-
tonalenVollzugsbehörden obliegt». Die
Armee selbst habe nur einmal, imJahr
1954,«Luftangriffe mit dem Genfersee
als Zielgebiet» durchgeführt.Dabei sei
jedoch Übungsmunition verwendet wor-
den, diekeinen Sprengstoff enthalte.

In verschiedenen Schwei zer Seen wurde früher Munition versenkt – hier im Thunersee 1948/49. VBS /DDPS

In anderen Seen liegt noch mehr Munition


fum.· DerGenfersee ist bei weitem
nicht das einzige Schweizer Gewässer,
auf dessen Grund Munition lagert. Die
grösstenRückstände befinden sich im
Thuner- und imVierwaldstättersee, auch
im Brienzersee liegen HunderteTonnen.
Es handelt sich um nicht mehr benötigte
Materialien der Schweizer Armee,ins-
besondere aus dem ZweitenWeltkrieg,
die bis Mitte der1960erJahre insWas-
ser gelassen wurden. DieVersenkun-
gen waren auch eineFolge der ver-
heerenden Explosionen in derFestung
Dailly und den Gemeinden Mitholz und
Göschenen, die Ende der1940erJahre
fast zwanzigTodesopfer gefordert hat-
ten. 2 00 4 zeigten Untersuchungen des
Verteidigungsdepartements (VBS),

dass eine privateFirma im Zürichsee
zwischen1935 und1966 Munition «ent-
sorgt» hat.
2012 entschied das VBS, dass die
Munition bleiben soll, wo sie ist. Dies,
weil die Risiken undKosten einer Ber-
gung zu hoch seien.Der grössteTeil der
Objekte befinde sich unter einer 25 Zen-
timeter bis 2 Meter dicken Sediment-
schicht. Der Schwermetallgehalt imWas-
ser liege zudem im natürlichen Bereich.
Nun will es das VBS aber doch nochmals
genauer wissen: Es hat 20 19 im Brienzer-,
imThuner- und imVierwaldstättersee
Sedimentproben genommen und unter-
sucht. Der Analysebericht ist auf Anfang
2020 angekündigt – noch liege er aber
nicht vor, richtet das VBS aus.
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