Der Stern - 13.02.2020

(singke) #1
Der Schlauch, an dem das Leben der einjährigen Frieda Zatt-
ler hängt, ist 15 Meter lang und mit einem Pflaster an ihrer
Nase festgeklebt. Er reicht vom Sauerstofftank neben dem
Leiterbettchen in ihrem Schlafzimmer bis zum Wohnzim-
mer, wo sie mit Bauklötzen spielt. Alle paar Minuten ertönt
ein schriller Signalton, wenn der Blutgassensor an ihrem
rechten Zeh Sauerstoffmangel registriert. Wo immer im Haus
die Mutter Elisabeth gerade ist, stürzt sie herbei. Elisabeth
Zattler hat sich daran gewöhnt, dass es daheim oft klingt wie
auf der Intensivstation, wo Frieda ihr Leben maschinell
beatmet begann. Ihre Lunge ist seit der Geburt zu klein –
eine Wachstumsstörung, Ursache unbekannt. Wie sie sich
weiter entwickeln wird, weiß niemand vorherzusagen.
Frieda hat kurze rote Locken und aufmerksame blaue
Augen, mit denen sie den Besucher anstrahlt. Immer wie-
der kämpft sie sich an der Sofakante hoch, versucht zu ste-
hen. „Bald kann sie laufen“, sagt Mutter Elisabeth, und die
Kinderärztin Nina Sellerer nickt: „Sie entwickelt sich völlig
normal.“ Sellerer ist beim Interview dabei, das Thema liegt
ihr am Herzen: Kinderkliniken-Notstand. Im vergangenen
Oktober geriet Frieda in große Gefahr, weil es in ganz Mün-
chen kein Bett auf der Intensivstation für sie gab.
Ihre Geschichte wirft ein Schlaglicht auf den Niedergang der
Kinderheilkunde, die viel kostet, kaum Profite abwirft und des-
halb kaputtgespart wird. Das Hauptproblem ist ein akuter Pfle-
gekräftemangel. Deutschlandweit mussten in den vergange-
nen Jahren große Kliniken wie die Medizinische Hochschule
Hannover, die Charité in Berlin oder die Uniklinik Düsseldorf
bis zur Hälfte ihrer Intensivbetten „sperren“. Am Haunerschen
Kinderspital, Teil der LMU-Uniklinik München, wo Frieda ab-
gewiesen wurde, ist es jedes vierte. Und auch auf den übrigen
Kinderstationen des Hauses fehlen so viele Mitarbeiter, dass
aktuell etwa 90 von 181 Betten nicht belegt werden können.
Die Ursachen sind komplex. Eine zentrale Rolle spielt der
hohe ökonomische Druck, unter dem Krankenhäuser heute
stehen. Sie müssen Gewinne oder zumindest „schwarze
Nullen“ liefern. In den Bilanzen sind Pflegekräfte nur ein Kos-
tenfaktor, Ärzte hingegen Renditebringer, denn sie führen
jene „Prozeduren“ durch, die Geld bringen – in der Logik des
Abrechnungssystems nach „Fallpauschalen“ alles von der
Spritze über Magenspiegelungen bis hin zu großen Opera-
tionen. Und so wurde bei den Pflegekräften in den vergange-
nen Jahrzehnten kräftig gespart. Diejenigen, die blieben,
kollabieren vor Stress. „Etliche überlegen, ihren Beruf aufzu-
geben, obwohl sie eigentlich sehr motiviert sind“, sagt die
Medizinethikerin Christiane Woopen, die kürzlich für eine
Studie bundesweit Mitarbeiter von Kinderkliniken befragte.
Das Haunersche Kinderspital ist die größte Kinderklinik
Münchens. Hier behandeln hoch qualifizierte Spezialisten
Extremfrühchen und kleine Patienten mit seltenen Krank-

heiten aus ganz Deutschland. Baulich aber ist das Kranken-
haus ein Relikt. Es steht sinnbildlich für das Versagen von
Landespolitikern, dringend notwendige Investitionen in
marode Kliniken zu bewilligen. So fehlt in der Radiologie
ein Kernspintomograph, die räumlichen Gegebenheiten
seien laut Klinikumsleitung „suboptimal“. Täglich bringen
deshalb teure Krankentransporte Kinder in die Erwachsenen-
radiologie, die in einem anderen Gebäude liegt – ebenso
wie die Geburtshilfeklinik, die in modernen Krankenhäusern
wegen des vielen Hin und Hers über Fahrstühle erreichbar
wäre.
Dort kam Frieda vor knapp 17 Monaten zur Welt. Leber,
Magen und Darm lagen außerhalb der Bauchhöhle – ein gro-
ßer Nabelschnurbruch. Ein Foto unmittelbar nach der
Geburt zeigt, wie acht Hände in grünen OP-Handschuhen
an der Neugeborenen hantieren, um sie in ein Plastik-
beutelchen zu stecken und so vor Infektionen zu schützen.
So brachte man sie in den Vorraum, wo die Eingeweide
unter Narkose sofort in einen sterilen Verband gepackt
wurden. Dann wurde sie in die Kinderklinik gebracht – mit
Arzt begleitung in einem Rettungswagen der höchsten Aus-
stattungsklasse mit intensivmedizinischen Geräten. Im
Schritttempo fuhr er über die Pflastersteine, erinnert sich
Vater Matthias, der zu Fuß hinterherging. „Die inneren
Organe waren ja nur vom dünnen Bruchsack umgeben,
der hätte bei jedem Ruckeln platzen können.“
Irgendwann sollen Kinderklinik und Geburtshilfe aus der
Münchner Innenstadt an den Uniklinik-Campus Großha-
dern umziehen. Die Bayerische Staatsregierung, zuständig
für Krankenhausinvestitionen, bewilligte 125 Millionen
Euro, weitere 20 Millionen aber sollte die Uniklinik aus eige-
nen Mitteln aufbringen. Eigene Mittel – woher? Die Kinder-
klinik schickte ihre Mitarbeiter in die Innenstadt, wo sie in
der Fußgängerzone an Infoständen um Spenden bettelten.
In Kleidergeschäften und Wirtshäusern lagen Broschüren
und Tischaufsteller aus – trotzdem wurden nur drei Millio-

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