Der Stern - 13.02.2020

(singke) #1
Bernhard Albrecht initiierte einen
Appell gegen das Diktat der Ökonomie in
Krankenhäusern (stern.de/aerzteappell). Als
Sandra Steh Frieda fotografierte, war diese
gerade auf den Kopf gefallen – und eher unleidlich

nach schwerem Verkehrsunfall eingeliefert worden, 12 der
16 Intensivbetten seien dann besetzt gewesen, die restlichen
vier gesperrt – weil die Klinik sich streng an eine Empfeh-
lung hält, wonach eine Intensivpflegekraft maximal zwei
Patienten versorgen soll. Auf der Notaufnahme wurde Frieda
nach wenigen Minuten von einer Krankenschwester ge-
sehen, die die Dringlichkeit der Behandlung mithilfe eines
Computerprogramms einschätzte. „Triagierung“ heißt die-
ses heute in Notaufnahmen übliche Verfahren, es stammt
aus der Kriegsmedizin. Friedas Fieber war nicht mehr so
hoch, sie bekam besser Luft. „Ja, sie brauchte ein Beatmungs-
bett“, sagt Reiter, „aber nicht sofort, das gab uns die Zeit,
andere Kliniken zu suchen.“ In der Notaufnahme hängt eine
Liste mit den Durchwahlen teilweise weit entfernter Kran-
kenhäuser wie Garmisch, Landshut und Traunstein. „Wir
müssen leider oft Patienten weit weg verlegen, weil es in ganz
München keine Betten gibt“, so Reiter. „Das kostet Nerven
und Zeit, die in der Patientenversorgung fehlt.“ Oft telefo-
niere der Arzt eine Stunde. Da die Situation überall in
Deutschland eskaliert, stellte die Fraktion Die Linke Anfang
2019 eine Anfrage ans Bundesgesundheitsministerium. Im
Antwortschreiben heißt es lapidar, „eine strukturelle Unter-
versorgung mit Kinderkliniken und Fachabteilungen für
Kinder- und Jugendmedizin ist nicht gegeben“. Für den
Pädiater Florian Hoffmann von der Deutschen Interdiszipli-
nären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin ist das
Hohn: „Der Minister bezieht sich auf gemeldete ‚Planbetten‘.
Von denen gibt es ja genug. Nur belegen können wir sie halt
nicht wegen des allseits bekannten Personalmangels.“
Friedas Odyssee dauerte lang. Zunächst sagte eine ande-
re Münchner Kinderklinik die Aufnahme zu, doch vor Ort
entpuppte sich alles als Missverständnis – die Ärzte hatten
nicht mit einem Kind gerechnet, das auf die Intensivstation
musste. Hektik brach aus, Friedas Zustand verschlechterte
sich, eine Krankenschwester löste schließlich den Reanima-
tionsalarm aus, Ärzte und Schwestern der Intensivstation
eilten herbei. Frieda wurde vorübergehend auf einer Nor-
malstation untergebracht, um zur Ruhe zu kommen. Dann
die Erlösung: Im 80 Kilometer entfernten Augsburg gab es
ein Bett. Bis ein Kindernotarzt frei war, der den Transport
begleiten konnte, verging noch mal viel Zeit. Acht Stunden
nach Beginn ihrer Odyssee traf Frieda schließlich in der
Notaufnahme des Universitätsklinikums Augsburg ein.

Elisabeth Zattler ist immer noch wütend. „Nicht auf die
Schwestern und Ärzte. Ich habe ja gesehen, wie denen die
Köpfe geraucht haben. Aber sie können ja kein Intensivbett
herbeizaubern. Am Ende hatte Frieda einfach Glück. Es gibt
andere Kinder, die sind noch schwerer krank und haben
einfach keine acht Stunden mehr.“
Dass Kinder wegen des Notstands auch sterben könnten,
ist ein Tabu. Alex Rosen bricht damit: „Natürlich passiert das,
und ich habe es selbst an mehreren Kliniken schon erlebt.“
Oft riefen kleinere Krankenhäuser bei den großen an und
fragten nach Intensivbetten für Kinder in kritischen Zustän-
den – krebskranke Kinder mit schlechtem Blutbild, beat-
mungspflichtige Kinder oder solche mit Infektionen, die nicht
auf Antibiotika ansprächen. „Wir müssen sie vertrösten. Ein-
mal, ich erinnere mich wie heute, riefen wir schon am nächs-
ten Tag an, weil ein Bett frei wurde, da sagte die Kranken-
schwester, das Kind hat die Nacht leider nicht überlebt.“

K


önnte der Pflegekräftemangel in München be-
hoben werden, wenn mehr Stellen ausgeschrie-
ben würden? „Wir würden sofort einstellen, wenn
wir Bewerber hätten, aber die gibt es nicht“, sagt
Karl-Walter Jauch, Ärztlicher Direktor der Uniklinik. Gerade
in München, wo die Mieten explodieren, können sich viele
Menschen das Leben nicht mehr leisten. Eine langfristige
Lösung sieht Jauch in der Zusammenlegung von Kliniken –
ein Vorschlag, den Gesundheitsökonomen derzeit für die
ganze Republik fordern. „Wir haben in München allein sie-
ben Neugeborenenabteilungen, alle mit Personalmangel“,
so Jauch. „In Stockholm, gleich großes Versorgungsgebiet,
reicht eine einzige.“
Anläufe, die Kinderheilkunde über die umstrittene Fallpau-
schalen-Vergütung hinaus besser zu finanzieren, scheiterten
bislang. „Wir haben an Bundesgesundheitsminister Jens Spahn
appelliert, dass man da was tun muss, dass Deutschland das
einzige Land ist, in dem die Vergütung ausschließlich über Fall-
pauschalen erfolgt“, sagt Ingeborg Krägeloh-Mann, Präsiden-
tin der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedi-
zin. Spahn aber habe das schnell vom Tisch gewischt mit dem
Argument, andere Länder machten auch anderes anders.
Der Chefarzt der Hauner-Klinik, Christoph Klein, hofft,
dass eine bestmögliche kindermedizinische Versorgung
künftig auch eingeklagt werden kann. In einer Allianz mit
36 anderen Uni-Kinderkliniken und weiteren Verbündeten
setzt er sich dafür ein, dass das in der UN-Kinderrechtskon-
vention festgelegte „Recht des Kindes auf das erreichbare
Höchstmaß an Gesundheit“ im Rechtssystem Beachtung
findet. „Es ist an der Zeit, nicht nur durch Gespräche und
Argumente, sondern auch mithilfe der Rechtsprechung
diesen Ansatz in Deutschland nach vorn zu bringen.“
Frieda hat ihre Odyssee gut überstanden. Schon nach
wenigen Tagen war ihr Infekt abgeklungen. „Danach haben
wir einen großen Entwicklungsschub bei ihr erlebt“, sagt die
Mutter. „Tagsüber braucht sie keinen Schlauch mehr, jetzt
wollen wir probieren, auch auf die nächtliche Beatmung zu
verzichten.“ Vielleicht also werden die Maschinen bald aus
Friedas Leben verschwinden. Vielleicht stehen ihr glück liche
und unbeschwerte Kinderjahre bevor. 2

Dass Kinder wegen des Notstands


sterben könnten, ist ein Tabu


Wieder genesen
Nach dem Infekt
machte Frieda
einen Entwick-
lungsschub:
Sie braucht nun
keinen Sauerstoff-
schlauch mehr

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