Der Stern - 13.02.2020

(singke) #1
„Gentleman Jack“ war der Spitzname,
den man Anne Lister in der englischen
Grafschaft Yorkshire verpasste.
Die Gutsherrin betrieb ein Kohleberg-
werk, war Globetrotterin, Intellektuelle
und dreiste Verführerin. Mitte des


  1. Jahrhunderts völlig ungewöhnlich
    für eine Frau. In der BBC/HBO-Serie
    ist die „erste moderne Lesbe“, wie es
    heißt, eine faszinierend selbstsichere
    Provokateurin (toll: Suranne Jones),
    die mit der Kamera schäkert und
    diese historische Romanze aufreizend
    zeitlos macht (auf Sky). 22222


SERIE


M’Barek, Lau, Rojinski: Allein die
Starbesetzung macht Lust auf
„Nightlife“, die neue Komödie von
Simon Verhoeven. Doch während der
Münchner Regisseur mit seinem
Vorgänger „Willkommen bei den Hart-
manns“ gekonnt Zeitgeist, Humor und
Relevanz vermählte, wirkt das Schick-
sal eines Barkeeper-Duos, das vom
eigenen Laden träumt und Ärger mit
Drogenhändlern bekommt, etwas
bemüht. Dafür machen Nebenfiguren
wie Nicolas Ofczarek als Gangster-
Grantler einiges wett. 22222

Der richtige Film zur richtigen Zeit.
Selten war diese Aussage so zutreffend
wie für „Bombshell“. Während in New
York täglich neue Details der sexuellen
Beutezüge von Harvey Weinstein
verhandelt werden, widmet sich das
fulminante Drama einem anderen
prominenten #MeToo-Fall. Die Geschichte
um den Chef des konservativen News-
Senders Fox ist bei uns zwar kaum
bekannt, aber genauso bestürzend.
Und Charlize Theron, Margot Robbie
und Nicole Kidman – sehr blond –
spielen sehr gut. 22222

KINO


FOTOS: ANNETTE RIEDL/DPA; HILARY B GAYLE; MATT SQUIRE/HOME BOX OFFICE; COURTESY PARAMOUNT


Wehe, wenn er losgelassen:
Das gilt in „Sonic the Hedgehog“
nicht nur für den Titelhelden,
einen blauen Igel mit überirdischen
Beschleunigungskräften. Sondern
auch für Jim Carrey als seinen Ver-

folger. Die Verfilmung eines Video-
spielklassikers lässt trotz Effekt-
feuerwerk noch genug Pausen für
die Geschichte einer Freundschaft.
Familienunterhaltung mit Herz –
und viel Tempo. 22222

weile entdecke ich in jedem, der sich mir
nähert, eine Möglichkeit, dazuzulernen.
Eine verblüffende Entwicklung.
Ach, wissen Sie, „woke“ zu sein, also ein kri-
tisches Bewusstsein zu entwickeln, ist
heute zur Mode geworden und wird gern
für den eigenen Lebensstil missbraucht.
Ich dagegen hatte mehrere Erleuchtungen
und glaube an eine Ganzheit. Alles, was ge-
schieht, gehört zu uns. Ich habe für mich
eine Persönlichkeit erschaffen, die in die-
ser Welt funktioniert. Aber ich erträume
mich auch immer wieder aufs Neue.
Jim Carrey ist nur eine Ihrer Rollen?
Jim Carrey war wundervoll und hat viel
Spaß gemacht. Aber ich will
nicht mehr unbedingt dieser
Typ sein. Ich spiele mit dem
Publikum. Ich sage: Ich mache mich für
euch zum Narren, weil ich euch so liebe.
Nicht Jim steckt in dieser Figur, diese Fi-
gur steckt in Jim. Dieses Hotel steckt in Jim.

Bevor Carrey noch auf die Idee kommen
könnte, gemeinsam Gemüse einzukaufen
oder den Berliner Platzregen zu genießen,
schnell die abschließenden Fragen.

Sie sind offenbar gesund und munter. Ist
das nicht schlecht für die Kunst?
Eine weitverbreitete Annahme, die ich
nicht teile.
Früher wollten Sie mit Ihren Gags Ihre
kranke Mutter trösten.
Elend kann dich motivieren, etwas zu
erschaffen. In der Kreativität steckt vor
allem das Verlangen, wahrgenommen
zu werden. Künstler erschaffen Avatare
von sich selbst, eine unübersehbare
Präsenz, die süchtig macht. Man kann sich
zum Affen machen und trotzdem selbst-
bewusst und arrogant auftreten. So war
ich auch mal – und bin darüber zynisch
geworden.
Sind Sie so glücklich, wie Sie wirken?
Glück ist nur ein Zustand. Wie das Wetter.
Eine Wolke, die vorüberzieht. Es gibt eine
Zufriedenheit, egal, wie die Welt um dich
herum sich gerade zeigt. Gerade ist es grau
in Deutschland. Aber ein Teil von mir weiß,
dass nur einen Kilometer höher das Son-
nenlicht leuchtet.

Sagt der Mann, der Jim Carrey war. Und
kurz glauben wir selbst daran.

Irrwisch, der seine Untergebenen nachäfft
und an die Wand quatscht. Und der einen
eigenen Tanzstil kreiert.

Mr Carrey, erleben wir gerade Ihr Come-
back als Clown?
Ich sehe das anders. Es gibt in mir offenbar
einen Knopf, durch den ich meine Lust am
Herumalbern einschalten kann. Meine ko-
mödiantische Seite ist aus dem Gehege
ausgebrochen und darf wieder frei herum-
rennen.
Haben Sie diese Narreteien vermisst?
Vermissen ist das falsche Wort. Ich bin im-
mer auf der Suche, und diese Rolle passt
momentan gut zu meinem
Gemütszustand. Ich habe
eine ziemlich anstrengende
Zeit hinter mir, die ich zum Teil auch schon
in Kunst verwandelt habe.
Sie litten unter Depressionen, hatten die
Erkenntnis, wie Sie selbst sagten, dass
Reichtum und Ruhm keine Glücksbrin-
ger sind.
Ich fühle mich gut erholt und heiter. Ich
wollte immer schon vor allem mir selbst
etwas beweisen, habe dann aber gemerkt,
dass Erfolg nicht erfüllend ist. Das Einzi-
ge, was zählt, ist das Jetzt.
Im Jetzt führen wir gerade ein Interview
in einem Hotelzimmer.
Früher hatte ich alles und konnte alles tun.
Nun schätze ich die Verbindung zu
Menschen. Die Begegnungen, die Orte.
Ich bin letzte Nacht durch Berlin gelaufen
und habe die Stadt genossen. Und habe in
meinem Kopf selbst die Regentropfen in
Diamanten verwandelt.

Carrey spricht mit glimmenden Augen
und seliger Miene. Man möchte ihn
manchmal anstupsen, um ihn aus seiner
Erweckung zu wecken. Doch wie er da
freundlich sitzt, sich immer weiter nach
vorn lehnt, fällt es schwer, ihn nicht als
wahrhaftig zu erleben.

Solche Spaziergänge hätten Sie früher
nicht unternommen?
Bestimmt nicht.
Weil Sie zu berühmt waren?
Das dachte ich zumindest. Ich hatte Angst,
Fremde könnte mich etwas fragen und mir
dadurch etwas wegnehmen. Ich lebte an
einem sehr ungemütlichen Ort. Mittler-

Von Matthias Schmidt

13.2.2020 107
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