Der Stern - 13.02.2020

(singke) #1
Jonathan Coe, Vertre-
ter der neuen Brexlit
(Literatur, die nach
dem Brexit-Referen-
dum entstand), ver-
webt in „Middle Eng-
land“ die Krise des
Landes mit der seiner
Helden. In den Familien von Benjamin,
einem Romancier ohne Roman, und
Doug, einem Labour-nahen Journalis-
ten, der sich für seinen Reichtum
schämt (den er seiner Frau verdankt),
wird gestorben und geheiratet. Coe
beschreibt den Zerfall mit so feinsin-
nigem Humor, dass die eigentlichen
Krisengewinnler bald feststehen: wir
Leser. (Folio, 25 Euro) 22222

ROMAN


Virginia Woolf will
sterben, aber sie hat
vergessen, sich Steine
in die Taschen zu
packen, und so steigt
sie zähneklappernd
wieder aus dem Fluss.
Beim nächsten Mal
weiß sie es besser. Michael Kumpfmül-
ler zeichnet – empathisch und doch
ohne Pathos – in „Ach, Virginia“
die letzten zehn Tage im Leben der
großen Schriftstellerin nach, in denen
sie ihr schweres, schönes, spannendes
Leben mit dem gnadenlosen Blick
einer Depressiven noch einmal auf-
scheinen lässt, um es schließlich in aller
Klarheit zu beenden. (Kiepenheuer &
Witsch, 22 Euro) 22222

ROMAN


Exotische Tiere,
Fossilien, anatomische
Studien, spiritistische
Fotografien – schon im


  1. Jahrhundert begannen
    die Menschen, die
    Wunder dieser Welt
    in Kuriositätenka-
    binetten auszustel-
    len, und machten dabei
    auch vor bärtigen
    Frauen und „Riesen“
    nicht halt. „Die Welt
    in der Wunderkammer“ –
    von der Illustratorin
    Delphine Jacquot
    und dem Historiker
    Alexandre Galand
    als Kinderbuch
    entworfen - ist ein
    faszinierender Band
    über die Lust am Staunen.
    (Gerstenberg, 22 Euro)


FOTOS: EMIL MALMBORG; GETTY IMAGES (2); ILLUSTRATION: DELPHINE JACQUOT


Patrick Svensson:
„Das Evangelium
der Aale“, übersetzt
von Hanna Granz,
Hanser Verlag,
22 Euro 22222

9 und 13 Jahre alt, gelegentlich zum Angeln.
„Aber nicht nach Aalen. Das ist seit 2007 in
Schweden verboten.“ Das letzte Land, in
das er seine Buchrechte verkaufte, war üb-
rigens Japan, erzählt er – dort werden 70
Prozent des weltweiten Aalfangs verspeist.
Wenn man heute ein Buch über Aale
schreibt, sagt Svensson, „wird es unaus-
weichlich ein Buch über den Klimawandel
und die Umweltzerstörung“. Der Aal näm-
lich verschwindet aus unserer Welt: „Wis-
senschaftler gehen davon aus, dass die
weltweiten Bestände seit den 70er Jahren
um 95 Prozent geschrumpft sind.“ Der sen-
sationelle Erfolg seiner
Erzählung hat Parallelen
zur „Geschichte der Bienen“
der Norwegerin Maja Lunde, beide erzäh-
len vom Verschwinden einer Art.
Der Vater hat den Roman seines Sohnes,
in dem er doch die Hauptrolle spielt, nicht
lesen können. Er war Asphaltbauer und
starb mit nur 60 Jahren an einem bösarti-
gen Tumor. „Der heiße Dampf des Teers
war in sein Inneres vorgedrungen.“
Bald wird Patrik Svensson viel unter-
wegs sein, auf Lesereise durch die Welt. Bei
der Zeitung hat er sich freistellen lassen.
In einem halben Jahr will er dann weiter-
sehen. Wann wird er seine Honorare auf
den Kopf hauen?
„Erstens kommt das Geld nur in Raten
an“, wiegelt er ab. „Zweitens bin ich nicht
plötzlich Zlatan-reich geworden“, so wie
Ibrahimović, der berühmte Fußballersohn
seiner Heimatstadt. „Eine Villa an der
Riviera können wir uns leider nicht leis-
ten.“ Eine Familienreise mit dem Schiff
dagegen, bis hin in die Sargassosee? – „Klar,
das wäre was!“

Seit 1914 weiß die Welt immerhin ein
bisschen mehr über die merkwürdigen
Tiere. Damals entdeckte der dänische Mee-
resbiologe Johannes Schmidt, nachdem er
den Atlantik fast zwei Jahrzehnte lang in
Sachen Aalforschung durchsegelt hatte,
„zwei Larven, die nur neun Millimeter lang
waren“. Seither nehmen wir an, dass die Kin-
derstube der Aale in der Sargassosee liegt,
nordöstlich von Kuba und den Bahamas.
Beweisen konnte auch Schmidt dies nicht.
Wie schön aber auch: „Wir brauchen unse-
re Rätsel, sie treiben uns an. Wenn es keine
mehr gibt, können wir uns gleich hinlegen
und sterben“, sagt Svensson.
Es habe ihn von Kindheit
an fasziniert, „dass alle Aale
diese Reise antreten müssen – von der fer-
nen Sargassosee mit dem Golfstrom bis in
die Flüsse Schonens und wieder zurück an
ihren Ursprung“. Jetzt, da er älter sei, könne
er diese Wanderung auf sich selbst projizie-
ren, „als Wunsch, zu verstehen, warum man
zu dem geworden ist, der man ist“.
Sobald in Schweden jemand das Wort Aal
ausspreche, sagt Svensson, würden viele an
Günter Grass denken. „Das ist in Deutsch-
land auch so, oder?“ Jawohl. Wer je die Ver-
filmung der „Blechtrommel“ gesehen hat,
wird nicht vergessen, wie ein Fischer an
einem Strand bei Danzig zuckende Aale
aus dem Pferdekopf hervorzieht. Aale sind
unheimlich. Sind halb Fisch, halb Schlan-
ge, mal im Bodenschlamm verborgen, mal
in den Tiefen der Meere unterwegs – und
dann ist da noch die Sache mit ihrem Ster-
ben. „Es war unangenehm und gleichzei-
tig faszinierend zu sehen, wie der Fisch in
der heißen Pfanne meiner Mutter zuckte
und weiter zu leben schien“, erzählt Svens-
son. „Leben und Tod waren von da an eine
relative Sache für mich.“
Als Kind aß er Aal nur, wenn es sein
musste. „Als Erwachsener weiß ich den Ge-
schmack zu schätzen. Aber aus Prinzip darf
ich ihn natürlich nicht essen.“ Zwar geht
auch Svensson mit seinen beiden Söhnen,

Von Dirk van Versendaal

Halb Fisch,
halb Schlange:
der Aal

13.2.2020 109

Exotische Tiere,
Fossilien, anatomische
Studien, spiritistische
Fotografien – schon im


  1. Jahrhundert begannen
    die Menschen, die
    Wunder dieser Welt
    in Kuriositätenka-
    binetten auszustel-
    len, und machten dabei
    auch vor bärtigen
    Frauen und „Riesen“
    nicht halt. „Die Welt
    in der Wunderkammer“–
    von der Illustratorin
    Delphine Jacquot
    und dem Historiker
    Alexandre Galand
    als Kinderbuch
    entworfen ist ein


9 und 13 Jahre alt, gelegentlich zum Angeln.
„Aber nicht nach Aalen. Das ist seit 2007 in
Schweden verboten.“ Das letzte Land, in
das er seine Buchrechte verkaufte, war üb-
rigens Japan, erzählt er – dort werden 70
Prozent des weltweiten Aalfangs verspeist.
hihbl

Seit 1914 weiß die Welt immerhin ein
bisschen mehr über die merkwürdigen
Tiere. Damals entdeckte der dänische Mee-
resbiologe Johannes Schmidt, nachdem er
den Atlantik fast zwei Jahrzehnte lang in
Sachen Aalforschung durchsegelt hatte,
idi illil

Halb Fisch,
halb Schlange:
der Aal
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