Der Stern - 13.02.2020

(singke) #1

FOTOS: FILIP SINGER/REX/SHUTTERSTOCK; MARCEL KUSCH/DPA


zusammengehalten von Milliarden aus
dem Sozialetat und zwei starken Volkspar-
teien, fest verankert in ihren jeweiligen
Milieus. Zu ihren besten Zeiten, in den 70er
Jahren, brachten sie bundesweit mehr als
90 Prozent der Wähler hinter sich. Geblie-
ben sind SPD und Union davon gut die Hälf-
te. Käme es zu Neuwahlen in Thüringen,
SPD und CDU brächten es auf 21 Prozent.
Zusammen!
Volksparteien? Nicht mehr wirklich. In
Bayern, Baden-Württemberg, Sachsen und
Thüringen ist die SPD verzwergt. Der CDU
droht jenseits von Sachsen im Osten ein
ähnliches Schicksal. Und sie arbeitet kräf-
tig daran, den eigenen Verfall weiter zu be-
schleunigen. Der Kampf gegen die AfD sei
eine „Existenzfrage für die CDU“, sagt ein
Landesvorsitzender aus dem Osten. „Wenn
sich ihr Organisationsgrad erst verfestigt,
ist sie nicht mehr wegzukriegen.“
„Wir erleben das Ende der zweiten gro-
ßen Volkspartei in Deutschland“, sagt Sig-
mar Gabriel. Der Mann hat Expertise. Er
hat als SPD-Chef lange am Niedergang sei-
ner Partei mitgewirkt. Außerdem prophe-

zeit er bereits baldige Neuwahlen im Bund.
Sie wären nur konsequent. In den vergan-
genen zwei Jahren erlebte die Republik
eine politische Klasse, die permanent am
Abgrund wandelte. Stabil war nur die Lust
am Untergang – und der Wechsel des poli-
tischen Spitzenpersonals.
Man muss sich das in Erinnerung rufen:
Der Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU
und SPD wurde am 12. März 2018 unter-
zeichnet. Ausgehandelt von den Partei-
chefs Angela Merkel, Horst Seehofer und
Martin Schulz. Keiner ist mehr im Amt. Die
Nachfolger von Merkel und Schulz sind
auch schon wieder Geschichte. Andrea
Nahles und Annegret Kramp-Karrenbauer,
Vorsitzende für ein Jahr.
AKK und Nahles eint vieles. Beide Frau-
en hatten von Anfang an ein Autoritäts-
problem; beide waren nur Geduldete an
der Parteispitze. Beide machten Fehler, sie
standen unter Dauerfeuer aus den eigenen
Reihen – und waren ihm nicht gewachsen.
Die einzige Halbkonstante auf diesem
immer schneller rotierenden Personalka-
russell ist, noch immer, die Kanzlerin – die

zugleich aber das ganze Chaos mit ihrem
Rücktritt als CDU-Chefin maßgeblich mit
ausgelöst hat. Nur dass die Erosion der
Macht AKK stärker traf als Merkel selbst.
Stabilität? Das war einmal. Ein prospe-
rierendes Land erträgt es eine Weile, wenn
das politische Führungspersonal in toto
schwächelt. Allerdings sollte zu erkennen
sein, dass die Krise irgendwann einmal en-
det – und dass die Parteispitzen Wege aus
ihr finden könnten. Es fällt derzeit schwer.
Jetzt rächt sich, dass die etablierten Par-
teien seit der Reanimation der AfD durch die
Flüchtlingskrise nur eine Antwort auf die
Partei gefunden haben: Ausgrenzung –
ohne sich untereinander auf neue Optionen
zu verständigen. Eine Ausgrenzung, die den
eigenen Gestaltungsraum immer weiter
verengte, je stärker die AfD wurde. Kramp-
Karrenbauer wirkte in den Tagen von Erfurt
wie eine Verirrte, die den Ausgang aus einem
Labyrinth nicht mehr findet.
Da die Mehrheitsverhältnisse es vor allem
immer schwieriger machen, eine der übli-
chen Koalitionen zu bilden, erhält die AfD
eine ungeheure Verhinderungsmacht. 4

WIR BRAUCHEN


U ̈BERALL


MEHR RITTER-


LICHKEIT,


MEHR


ANSTAND“


Mann der Mitte: Nordrhein-Westfalens Ministerpräsident Armin Laschet


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