Der Stern - 13.02.2020

(singke) #1
FOTOS: KATHRIN HARMS/LAIF; ANNEGRET HILSE/REUTERS

„ EXILANTEN IM


EIGENEN LAND“


H


err Professor Bolz, welche
Metapher fällt Ihnen zu dem
Wahldebakel in Thüringen ein?
Mir fallen vor allem Metaphern
ein, die man nicht wählen sollte:
Epochen- oder Zivilisationsbruch
zum Beispiel. Der Holocaust war
ein Zivilisationsbruch. Wer diesen
Begriff jetzt leichtfertig nutzt,
versündigt sich an denen, die wirk-
lich unter einem Zivilisationsbruch
zu leiden hatten. Ein bisschen
Abkühlung wäre sinnvoll.
Obwohl Thomas Kemmerich
sich von der AfD zum Minister-
präsidenten wählen ließ, von
Björn Höcke, den man ungestraft
Faschist nennen darf?
Es wäre entscheidend wichtig,
in der Auseinandersetzung mit
der AfD zu differenzieren. Es
gibt die unrettbar völkisch Blöden,
die absolut Wahnsinnigen, richtig.
Aber es gibt eben auch viele,
die es aus ganz anderen Lagern in
die AfD verschlagen hat. Die
Dämonisierung führt letztendlich
zu einer Tabuisierung der Themen,
für die die AfD steht – und nicht
zur Lösung der Probleme.
Wie würden Sie denn nennen,
was in Erfurt passiert ist?
Das war ein Coup. Und natürlich
war es ein Schock.
Auch ein heilsamer?
Wenn wir Glück haben: ja. Es zwingt
zum Nachdenken. Vor allem über
die Situation von Volksparteien,
die selber in die Minderheit geraten
sind und sich nicht einmal mehr
zusammen gegen die Extreme
von links wie rechts durchsetzen
können. Und darüber, warum
Traditionalisten und Konservative
sich in den neu formierten Volks-
parteien CDU und SPD nicht mehr
wiederfinden können.
Sind das politisch Heimatver-
triebene?
Das ist so. Wer aufgrund von
Alter oder Herkunft oder Bildung
mit der Geschwindigkeit nicht
mitgekommen ist, mit der sich die
Volksparteien gewandelt haben,
fühlt sich politisch heimatlos.
Konservative waren früher ganz
selbstverständlich in der CDU.

Sie erkennen ihre Partei aber
nicht wieder. Frau Merkel hat ja
unlängst wieder gesagt, dass
unser Leben ganz andere Züge
annehmen wird, als wir es gewohnt
waren. Wer da zu langsam oder
unwillig ist für den programmier-
ten Wandel der Gesellschaft, wird
zum Exilanten im eigenen Land.
Wo wird einer politisch heimisch,
der sagt: „Ich mache mir Sorgen
um die Zukunft: Wer schützt
meine Kinder vor Merkels totaler
Umgestaltung unserer Lebens-
formen?“ Das haben Sie mal
getwittert.
Viele möchten nicht dazu auf-
gefordert werden, das umzudefi-
nieren, was sie unter einem
schönen, guten und gelungenen
Leben verstehen. Junge Menschen
sind noch in der Identitätsfindung,
die tun sich leichter mit dem
Wandel. Für einen alten Mann wie
mich ist das viel, viel schwieriger.
Und, wo liegt eine neue Heimat?
Das ist im Moment nicht ganz
einfach für meinesgleichen. Seit
ich nicht mehr lehre, habe ich
relativ viel Kontakt mit sogenann-
ten normalen Leuten. Die schüt-
teln alle nur noch den Kopf.
Den meisten, die heute SPD oder
CDU wählen, geht es wie mir:
Sie wählen nach dem Prinzip des
kleinsten Übels – wo kann ich
mir noch am meisten Vernunft er-
hoffen? Die mangelnde politische
Identifizierung jener, die nicht
so schnell in die Zukunft rennen
wollen, ist ein sehr ernsthaftes
Problem.
Das heißt, Wasser auf die
Mühlen der AfD?
Die AfD wird auf viele Jahre ein
ständiger Stachel im Fleisch

(^) bleiben, erst recht nach Thüringen.
Aber sie wird trotzdem relativ
schnell an ein Limit stoßen. Wir
haben in Deutschland eine zivile
Kultur entwickelt. Es gibt bei uns
eine viel größere Empfindlichkeit
gegenüber Rechten und Rechts-
populisten als in anderen Ländern.
Das ist eine Stärke von uns.
Interview: Andreas Hoidn-Borchers
Der Philosoph Norbert Bolz über die politische
Heimatlosigkeit der Konservativen
Thüringen war dabei nur die neueste, ver-
heerendste Variante.
„Die demokratischen Parteien müssten
den Mut aufbringen, auch neue, ungewohn-
te Verbindungen einzugehen, um zu ver-
hindern, dass die AfD zu Macht gelangt“,
sagt der Berliner Historiker Michael Wildt.
Doch in der CDU tut man sich schwer mit
derart neuem Denken. Wildt hält Bodo Ra-
melow trotz seiner Mitgliedschaft in der
Linkspartei nicht für einen Kommunisten



  • sondern „für absolut bürgerlich. Und die
    AfD ist definitiv keine bürgerliche Partei.“
    Die CDU könnte es ähnlich zerreißen wie
    die SPD unter und nach Gerhard Schröder.
    Der Prozess ist bereits voll im Gange.
    „Konservative erkennen ihre Partei nicht
    wieder“, sagt der Philosoph und Medien-
    wissenschaftler Norbert Bolz.
    Nicht von ungefähr verzeichnete in den
    Chaostagen nach Erfurt die konservative
    „Werteunion“ einen dreistelligen Mitglie-
    derzuwachs – an „guten Tagen“ waren es
    nach Auskunft von Werteunion-Chef Ale-
    xander Mitsch sonst allenfalls fünf bis sie-
    ben. Schnittmengen zur AfD sind in der
    Werteunion übrigens durchaus gewünscht.
    Man fühlt sich bürgerlich verbunden.
    Auch und gerade im Kampf gegen links.
    Wie sehr die Werteunion mit ihrem
    Schmusekurs gegenüber den Rechtspopu-
    listen für innerparteilichen Zorn sorgt, zeigt
    das Beispiel des früheren CDU-General-
    sekretärs Ruprecht Polenz. Der fordert
    inzwischen ganz offen von seiner Partei,
    „die poröse Flanke zur faschistischen AfD
    zu schließen“ – durch einen Parteiaus-
    schluss der Werteunionisten.
    Eine Volkspartei driftet auseinander.
    Und die Heimatlosen suchen eine neue
    Heimstatt. Hans-Georg Maaßen beispiels-
    weise, früherer Verfassungsschutzchef und
    prominentestes Mitglied der Werteunion,
    kann und will nicht verstehen, warum die
    AfD „dämonisiert“ wird. „In Erfurt hat eine
    nach demokratischen Regeln der Landes-
    verfassung einwandfreie Wahl stattgefun-
    den. Dieses Wahlergebnis hätte von allen
    respektiert werden müssen.“ Dass nicht
    alles, was legal ist, auch legitim ist, will er
    nicht akzeptieren.
    Da ist er nicht allein. Eine Wahl ist eine
    Wahl, argumentieren nicht wenige im Frei-
    staat, wo die AfD der CDU allemal wesens-
    näher ist als eine Linke, die von vielen im-
    mer noch als notorischer SED-Nachfolger
    gesehen wird. Warum sollte folglich ein
    FDP-Ministerpräsident, auch wenn er mit
    den Stimmen der AfD an die Macht gekom-
    men ist, schlechter sein als ein Linker?
    Maaßen nennt Ramelow „einen in der
    Wolle gefärbten Kommunisten“ und ist
    überzeugt davon, dass der Linke mit seinen
    Sozialisten jederzeit großes Unheil anrich-
    ten könne. Das, wenngleich erfolglose, Ein-


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