Der Stern - 13.02.2020

(singke) #1
greifen der Parteispitze nach Erfurt war ein
weiterer Moment der Entfremdung.
Wann hat dieser Entfremdungsprozess
eigentlich angefangen? Und womit?
Mit Merkels Politik der offenen Arme
und Grenzen im Spätsommer 2015 – schon
mal nicht. Auch nicht, ein paar Jahre zuvor,
mit Griechenland und der Eurokrise, den
Geburtshelfern der AfD.
Der Riss in der Partei entstand weit frü-
her. Es begann damit, dass eine Ministerin
der CDU, Ursula von der Leyen, jene fort-
schrittliche Frauen- und Familienpolitik
machte, die ihre SPD-Vorgängerin zu rot-
grünen Zeiten nicht umsetzen durfte. Und
es setzte sich fort mit einer Parteichefin
Merkel, die den hessischen Bundestagsab-
geordneten Martin Hohmann nach einer
streng antisemitisch müffelnden Rede aus
der CDU schmeißen ließ. Hohmann hatte
behauptet, dass man „Juden mit einiger
Berechtigung“ ebenso als „Tätervolk“ be-
zeichnen könnte wie die Deutschen.
Für Merkel war das ein No-Go. In der
Union aber ballten viele die Faust in der
Tasche. War das nicht zu viel an Sanktio-

nen gegen einen der Ihren? In den Jahren
danach ging es Schlag auf Schlag. Und in
der Union fragten sie sich: Wofür stehen
wir noch? Atomkraft, Wehrpflicht, das
Nein zu Abtreibung, Frauenquote und
Schwulenehe – in der Ära Merkel kam
Konservativen in der CDU vieles ab-
handen, was sie an ihre Partei gebunden
hatte. So viel, bis ihnen am Schluss ihre
Partei abhandenkam. Sie erkannten sich
nicht wieder.
So etwas nennt man: Identitätskrise.
Man muss noch einmal für einen Mo-
ment Revue passieren lassen, mit welcher
Wucht allen voran Angela Merkel in der
vergangenen Woche aus Südafrika auf die
Kür von Kemmerich reagierte. Merkel mel-
dete sich als Kanzlerin. Aber sie tat es auch
von einem höheren Autoritätslevel aus.
Quasi aus jenem Olymp, für den in ihren
Augen in Krisensituationen AKK ganz of-
fensichtlich das Format nicht hatte.
„Unverzeihlich“ nannte Merkel die Wahl.
„Unverzeihlich“ steht auch in der Erklärung
des Koalitionsausschusses der Berliner Gro -
Ko vom Wochenende. „Unverzeihlich“ – das

ist eine nie da gewesene Kategorie in der Be-
wertung machtpolitischer Vorgänge. Sag
mir: Wie hältst du es mit der Moral?
In Berlin versuchten sie wie mit einem
Hochdruckreiniger die kontaminierte poli-
tische Kultur zu säubern. Und konnten
dabei besichtigen, wie eine irrlichternde
CDU-Vorsitzende sich mit immer bizarre-
ren Vorschlägen aus der Umklammerung
ihrer sturen Parteifreunde in Thüringen zu
lösen versuchte. Am Ende regte AKK sogar
an, SPD oder Grüne, in Thüringen jeweils
nur mit einstelligen Prozentergebnissen
in den Landtag gekommen, sollten doch
einen Kandidaten zur Ministerpräsiden-
tenwahl aufstellen – quasi als Zeichen
für die Einigkeit in der demokratischen
Mitte. Die CDU würde ihnen dann schon
zur Macht verhelfen. Es war ein Offenba-
rungseid, politisch, taktisch, intellektuell.
Hinzu kam, dass AKK die Thüringer CDU
selbst erst so richtig in die Bredouille
gebracht hatte – indem sie strikt auf einen
Parteitagsbeschluss pochte und eine Zu-
sammenarbeit mit der Linken ebenso
kategorisch ausschloss wie mit der AfD. 4

ICH STEHE


DAFU ̈R, DASS


DER WEG


DER CDU


KORRIGIERT


WIRD“



Mann der Moneten: Friedrich Merz, Hoffnungsträger der Konservativen in der CDU

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