Der Stern - 13.02.2020

(singke) #1
Andreas Hoidn-Borchers
(l.) und Axel Vornbäumen
mussten in den vergangenen
Tagen an einen Satz aus
der Chaostheorie denken: „Schon der
Flügelschlag eines Schmetterlings in Brasilien
kann in Texas einen Tornado auslösen.“
Mitarbeit: Tilman Gerwien, Jan Rosenkranz FOTO: HANNIBAL HANSCHKE/REUTERS

und lächerlich zu machen. Durch Kemme-
richs geheime Wahl hat die AfD CDU und
FDP in eine existenzielle Krise manövriert.
„In Thüringen jemanden so auf einen
Stuhl setzen, dass es in Berlin einem ande-
ren Stuhl die Beine abschlägt: Das taktische
Arsenal der AfD ist um eine feine Variante
reicher“, triumphierte Götz Kubitschek
nach dem Coup per Videobotschaft – da
hatte AKK ihren Rückzug noch gar nicht
angetreten. Kubitschek, Vordenker der
„Neuen Rechten“, gehört zu den wichtigs-
ten Ratgebern von Gauland und Höcke.
Was er von sich gibt, dient der AfD als
Richtschnur. Man hätte es wissen können.
Nun versucht die Partei sich an einer Wie-
derholung. Das Kalkül ist leicht zu durch-
schauen – und schwer zu kontern. Wählt die
CDU Ramelow nicht mit, geht es dem wie
Kemmerich: Er wäre dann Ministerpräsi-
dent von AfD-Gnaden und könnte die Wahl
nicht annehmen – Thüringen fiele endgül-
tig ins Chaos. Wählen ausreichend Christ-
demokraten Ramelow mit, verprellen sie
einen Teil ihrer Wählerschaft und machen
sich vor ihren eigenen Wählern angreifbar
als Steigbügelhalter eines Linken-Politikers.
Zu gewinnen gibt es dabei für sie nichts.
Zu verlieren dagegen sehr viel – weit mehr
als eine Vorsitzende. 2

Damit hatte sie das Problem erst herauf-


beschworen, das sie mit einem abendlichen


Ausflug nach Erfurt beseitigen wollte. In


fünf quälend langen Stunden ließen sich in


einem Erfurter Sitzungsraum die, nun ja,


Parteifreunde auch von Neuwahlen nicht


mehr überzeugen – zu groß war die Angst,


ihre Sitze zu verlieren. Als AKK mitten


in der Nacht auf der A 9 nach Berlin zu-


rückfuhr, war sie eine nach allen Regeln


der Kunst gedemütigte Parteichefin, die


erkennen musste: Erst kommt das Mandat,


dann die Moral.


Nicht nur deshalb taugen die turbu lenten

Tage von Erfurt als Lehrstück und Kemme-


richs kurze Karriere als Fanal. Sie sind


Beweis dafür, wie schnell es gehen kann in


der Politik, wenn man zu kurzsichtig han-


delt – „respice finem“, bedenke das Ende,


wie Merkel zu sagen pflegt.


Jetzt feixen die Falschen – und liegen da-

mit nicht einmal falsch. „Wir haben ein


Stück Geschichte geschrieben“, kann Thü-


ringens AfD-Landeschef Björn Höcke be-


haupten, ein ehemaliger Geschichtslehrer,


so weit nach rechts gedriftet, dass man ihn


ungestraft „Faschist“ nennen darf.


Und es ist noch längst nicht vorbei.


Kramp-Karrenbauer hat den Kampf um ihr


politisches Überleben aufgegeben, Chris-


tian Lindner kämpft noch.


Der FDP-Chef hat das Land zum zwei-


ten Mal in eine Krise gestürzt. Erst mit


seiner Weigerung, mit Union und Grünen


im Bund zu koalieren; einer Entscheidung,


die das politische Gefüge der Republik


nachhaltig beschädigt hat. Nun mit dem


mindestens fahrlässigen Treibenlassen


seiner Thüringer Parteifreunde.


Die Folgen für die FDP sind verheerend.
Bundesweit sackten die Liberalen in der
vergangenen Woche laut einer Forsa-Um-
frage von zehn auf fünf Prozent ab. Ein
Erdrutsch. In Hamburg, wo bald die
Bürgerschaft gewählt wird, werden FDP-
Wahlkämpfer angefeindet, Plakate der
Liberalen mit Nazi-Sprüchen beschmiert.
In Thüringen steht Kemmerich unter Poli-
zeischutz. „Es passiert nun genau das, was
die AfD bezweckt“, befürchtet das FDP-Vor-
standsmitglied Johannes Vogel, „die Eska-
lation der Debatte, die Bi-Polarisierung
des politischen Parteiensystems.“ Vogel
hätte gern „eine einheitliche Strategie
aller demokratischen Kräfte“ im Umgang
mit der AfD. Die ist in weiter Ferne.
Auch wie es in Thüringen weitergeht, ist
völlig offen. Möglich, dass Bodo Ramelow
noch einmal antreten und tatsächlich die
Mehrheit hinter sich versammeln kann –
und dass dies der nächste Pyrrhussieg wird.
Von Berlin aus hat Alexander Gauland sei-
nen AfD-Freunden in Thüringen bereits
dringend empfohlen, „das nächste Mal
Herrn Ramelow zu wählen, um ihn sicher
zu verhindern – denn er dürfte das Amt
dann auch nicht annehmen“.
Bloß Ironie? Oder blanker Zynismus?
Das ist fast schon egal. Es zeigt, wie einfach
ein AfD-Funktionär mit einer einzigen
Bemerkung ein ganzes Parlament in tak-
tische Geiselhaft nehmen kann.
Gaulands perfider Rat ist ein weiterer
Baustein jener „konstruktiv-destruktiven“
Strategie, mit der die AfD die Bundesrepu-
blik destabilisieren und Schritt für Schritt
unregierbar machen will. Einer dieser
Schritte: die CDU in die Enge zu treiben

WIR HABEN


EIN STÜCK


GESCHICHTE


GESCHRIEBEN“ (Höcke)



Männer des Skandals: Ministerpräsident Thomas Kemmerich, FDP, (l.) und Björn Höcke, AfD

44 13.2.2020

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