Der Stern - 13.02.2020

(singke) #1

FOTO: GENE GLOVER/STERN


geworden ist, hat noch immer viel mit der
Angstgesellschaft Ost zu tun, mit Minder-
wertigkeitsgefühlen und harten Brüchen.
Oft geht es dabei um politische Zugriffe
schon zu DDR-Zeiten, die ein Nicht-
ankommen nach 1989 verursacht haben.
Das sind letztlich gestaute Traumata. Die
finden in der AfD einen Ort und eine Stim-
me. Endlich wird man wahrgenommen,
endlich gehört, endlich ist man wer.
Dann ist der Rechtsruck ein Symptom für
angestauten Frust?
Die Rechten haben Erfolg damit, dass sie die
Zeit nach 1989 zur Niederlage umerzählen
und durch das Schüren von Ressentiments
und die Betonung des Nationalismus eine
Gemeinschaft zusammenschweißen. Da
wird das einstige Ostkollektiv neu beatmet
und ein neues „Wir“ geschaffen. Mit der
starken Osmose zwischen Teilen der Lin-
ken und der AfD formiert sich etwas
Altbekanntes: Abwehr des Fremden, Aus-
grenzung, Hybris, Fundamentalistisches.
Was genau meinen Sie mit Ostkollektiv?
Eine Art seelisches Binnenklima, zu dem
auch die unverarbeiteten Erfahrungen
zweier Diktaturen gehören. Auf den Na-
tionalsozialismus folgte in der DDR die
SED-Diktatur. Diese doppelte Last wurde
nie aufgearbeitet. Die Angst, die in den
Knochen steckt; der Schmerz, das Ver-
drängte und Weggedrückte. Das hockt
seit Generationen in den Familienge-
schichten und wird verbissen beschwie-
gen. Auch die Gewalt wird verleugnet, die
immer da war. Die kam ja nicht erst nach
dem Mauerfall.
Es gibt Gedenkstätten, es gibt das Sta si-
Archiv. Man kann sich doch über alles
informieren.
Die Fakten sind alle da. Wir wissen alles,
was nötig ist, und wissen es doch nicht.
Die Aufarbeitung hat das Binnenkollektiv
Ost nicht erreicht. Ich spreche jetzt flächig,
aber das geht nicht anders, um es greifbar
zu machen: Die vielen Traumata des eins-
tigen DDR-Kollektivs blieben unaufgelöst.
Wenn man bedenkt, wie lange die alte
Bundesrepublik sich mit ihrer Diktatur-
geschichte beschäftigt hat – das war im
Osten nicht. Der Holocaust lag im gesell-
schaftlichen Eisschrank. In der DDR gab es
offiziell keinen Antisemitismus, keinen
Rassismus. Es gab keine Erinnerungskul-
tur, keine konkreten Geschichten. Die NS-
Zeit wurde genauso verdrängt wie die
Kriegsgeschichten der Familien. Es ging
nicht um die Unfähigkeit zu trauern, son-
dern um eine staatliche Verunmöglichung
zu trauern. Das hatte Folgen. Der Osten ist
noch immer eine versiegelte Gesellschaft.

Warum wirkt das bis heute nach, 30 Jah-
re später? Es gibt doch bestimmt Ost-Mil-
lenials, die sich mit den Eltern an einen
Tisch setzen und sagen: Erzählt mal.
Klar, das neue Selbstverständnis heißt:
reden, reden, reden. Aber was wird denn ge-
sagt, geklärt, aufgelöst? Die Ost-Milleni-
als reden sich oft genug in eine Pitti-
platsch-Variante der DDR hinein. Es gibt
gerade bei den Jungen eine neue „Identi-
tät Ostdeutschland“. Warum auch nicht?
Aber die bleibt ohne historischen Boden.
Wie sonst wäre erklärbar, dass bei den
Landtagswahlen im Osten vor allem die
Generationen ohne Diktaturerfahrung die
AfD ermöglicht haben? Woher kommt die-
se Gewaltaffinität, woher der Populismus?
Wie kann man das lösen?
Der Erfolg von AfD und Pegida ist auch ein
Symptom für das, was wir nicht angeschaut
haben. Wenn man das Opfergefühl be-
dient, das die Rechten aufrufen, geht man
ihrer Strategie auf den Leim. Der Westen
reagiert noch immer verschreckt auf den
toxisch braunen Osten und verliert dabei
wichtige Zeit. Dabei geht es um Konfron-
tation statt um Gleichgültigkeit. Dazu ge-
hört auch, Hass und Rassismus als das zu
benennen, was es ist. Der Thüringer Super-
GAU ist mehr als eine Lehrstunde. Es wird
dabei nicht den einen großen Plan A geben,
der alles löst. Es braucht eine strategische
Allianz der Mitte, Konzepte der Parteien,
die die suchende Mitte stabilisieren. Da-
rum braucht es letztlich auch mehr politi-
sche Bildung, endlich historische Fakten
an den Schulen, endlich wieder mehr For-
schung zum Osten an den Unis, kurzum:
das Komplettprogramm. 2
Interview: Andrea Ritter

Union und FDP in Thüringen sehen sich
als Vertreter eines bürgerlichen Lagers,
dem extreme Parteien von rechts und
links gegenüberstehen. Aber ist nicht der
bisherige Ministerpräsident Bodo Rame-
low von den Linken der Bürgerlichste
von allen?
Das politische Tohuwabohu in Thüringen
ist auch ein Ergebnis der Fehlpolitik von
Bodo Ramelow: viel Gewurschtel, Stillstand,
wenig Neues, nichts Ungewöhnliches, kurz-
um zu wenig politische Gestaltungskraft
und damit am Ende viel Auftrieb für die
AfD. Eine starke Wählerwanderung in Thü-
ringen besteht zwischen den Linken und
der AfD. Dahinter steckt etwas, das poli-
tisch verstanden werden muss: Es geht
um Diktaturaufarbeitung, um politische
Bildung und endlich um offensive Ausei-
nandersetzungen.
Was haben die Wahlergebnisse von heu-
te mit der Diktaturgeschichte der DDR
zu tun? Könnte man nicht einfach sagen:
Die etablierten Parteien verlieren im
Osten, weil die anderen auf populistische
Themen setzen?
Sicher haben wir Populismus in der gan-
zen Welt. Aber der Osten hat deutlich an-
dere Zahlen und auch ein anderes Radika-
lisierungspotenzial. Die Spitze der AfD, oft
aus dem Westen kommend, benutzt den
Osten als politisches Experimentierfeld.
Sie weiß, wie wenig da geklärt ist, wie we-
nig Diskurs es noch immer gibt und was
da unter der Oberfläche liegt wie dicke
Eiterpickel. Mit der langen Gewaltkonti-
nuität in Ostdeutschland gehen wir nach
wie vor nicht politisch um. Das politisch
Extreme schlägt medial für drei Tage auf.
Das Systematische dahinter blinzeln wir
uns jedoch immer noch weg.
In Ihren Büchern haben Sie sich immer
wieder mit der DDR-Geschichte und der
Nachwendezeit beschäftigt. Wie blicken
Sie heute auf das geeinte Deutschland?
Was ich bei meinen Lesungen zu meinem
aktuellen Buch „Umkämpfte Zone. Mein
Bruder, der Osten und der Hass“ wahr-
nehme, ist ein verunsichertes, suchendes,
aufgeschrecktes Land. Es gibt auch eine
neue Fremde zwischen Ost und West, ein
neu aufgelegtes Spaltungssyndrom. Dem
Osten geht es erstmals gut, es gibt kaum
Arbeitslosigkeit, die Infrastruktur ist
bestens, aber die Stimmung mies. Ton und
Bild finden hier nicht zusammen.
Wenn es den Menschen gut geht – was
steckt dann hinter dem Erfolg der
Rechten?
In AfD und auch in Pegida steckt vieles.
Warum das im Osten zum Sickersystem

DER OSTEN IST


NOCH IMMER


EINE VERSIEGELTE


GESELLSCHAFT“



13.2.2020 47
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