Der Stern - 13.02.2020

(singke) #1
Bert Gamerschlag kaufte
sein erstes Slater-Buch 1998
bei „Books for Cooks“ in London.
Heute besitzt er fast alle.
Er liebt die Buntheit der Rezepte und
die Frische ihrer Zubereitungen FOTOS: JONATHAN LOVEKIN; GETTY IMAGES

tüftelt und kocht für Food-Fotos.


Abends, sagt er, sei sein Hirn kaum


mehr als Quark. Dann schaut er fern.


Wo aber tut er das, wie sieht sein


Büro, wie sein Schreibtisch aus,


welche Werke enthält seine Hand-


bibliothek?


Slater lädt in sein Haus im Londo-

ner Stadtbezirk Islington und öffnet


freundlich die Tür. How do you do,


Händeschütteln, treten Sie ein und


schauen Sie sich ... Oha! Es sind


wahrscheinlich wenige Häuser auch


nur annähernd so durchästhetisiert


wie Slaters.


Zwar ist es eines, in dessen Ritzen

sich bis zu seinem Einzug noch Ge-


spenster hielten, wie er durchaus


mit Ernst erzählt. Das Gebäude sei


in der Vergangenheit einmal ein ka-


tholisches Siechenhaus gewesen


und habe viel Elend gesehen. Der


letzte Geist sei einem der Bauleute


in den Rücken gefahren und habe


von einem Chiropraktiker exorziert


werden müssen. Seitdem sei Ruhe.


So hat der Umbau jegliche Unord-

nung und früheres Leid gebannt.


Seinen Hang zur kargen Ästhetik


hat Slater niederländisch subli-


miert, seine Räume (soweit dem Re-


porter einsehbar) ähneln denen aus


den Bildern Jan Vermeers: Es ist dort


sehr still, sehr reduziert und (bis auf


den Laptop) frei von jeglichen


Geräten: kein Bildschirm, keine


Unterhaltungselektronik. Es fließt


ein honigfarbenes Licht, die Räume


werden von nichts anderem erhellt


als von Kohlefadenlampen.


Der erstaunlichste der Räume ist

das Schreibzimmer, das zugleich


Empfangszimmer ist – weiße Wän-


de, unbehandelte Dielen, naturlei-


nene Sitzmöbel und ein greiser


Perserteppich unter einem massiv


bronzenen Tisch. Keinerlei Rummel.


Größte Reinlichkeit. Nullkomma-


null Nippes. Schwerer Duft von


weißen Lilien.


Von den Kopfwänden des Raumes

füllt die eine ein sehr großer Spie-


gel. Davor sitzt Slater, Gesicht zu


ebendiesem Spiegel, auf einem le-


dernen Drehstuhl an einem wohl al-


ten Holztisch, in Japan aufgetrieben


und von dort herbeigeschifft. Der


Tisch trägt einen Laptop und neben


seinem nach Büttenpapier ausse-


henden und mit schwarzer Künst-


lerschrift ausgefüllten Notizbuch


nichts.


Und seine Bibliothek?

Er sagt, er habe keine. Na gut, ja
doch, sagt er und öffnet eine Tape-
tentür mit vielleicht 30 Büchern,
darunter „Jerusalem“ von Yotam
Ottolenghi, noch so einem Koch-
buch-Star aus London.
Braucht er denn keine Inspiration,
schätzt er nicht den Input anderer?
Er schätze die Arbeit anderer sehr
wohl, sagt Slater, aber er schöpfe sei-
ne Rezepte allein aus sich. „Ich weiß
nicht, wie mir die Ideen kommen“,
sagt er, „ich weiß nur, dass es so ist.“
Es fließe nur so aus ihm heraus und
müsse dies notwendig auch tun, denn
bis auf Schreiben könne er nichts und
sei auch nicht fest angestellt.
Ein derart ernsthafter Verfechter
des genialischen, allein aus sich und
klarer Einsamkeit schöpfenden, also
des romantischen Künstlers ward
lange nicht gesehen.
Beim Aufblicken vom Laptop er-
blickt er erst einmal sich selbst. So-
dann an der gespiegelten Rückwand
zwei Porträtbilder aus dem 17. Jahr-
hundert, Bildnisse eines niederlän-
dischen Paares mit protestantisch
schwarzer Kleidung und weißen,
plissierten Krausen. Vorfahren?
„Nein, ich habe mir die Porträts we-
gen ihrer künstlerischen Qualität
gekauft und dann erst festgestellt,
dass sie meinen Eltern extrem ähn-
lich sind.“

Slaters Eltern sind lang schon tot.
Er hatte drei. Es gibt wohl kaum
einen Rezepteschreiber, dessen Le-
ben so filmreif begonnen hat wie das
von Slater. In seiner Autobiografie
„Toast“ beschreibt er mit der Präzi-
sion Thomas Manns (in „Herr und
Hund“) und mit der Intensität
Vladimir Nabokovs (in „Erinnerung,
sprich“) den Verlauf von zehn
Lebensjahren, beginnend mit
seinem achten. Jedes Kapitel der
Charakterbildung und Selbstfin-
dung verbindet er mit einem (meist
schlecht zubereiteten) Gericht.
„Toast“ kam 2011 tatsächlich in die
Kinos, mit Helena Bonham Carter in
der Rolle der Stiefmutter. Die scheint
eine schlimmen Putze und Ord-
nungsfuchtel gewesen zu sein, die
der hilflose und überarbeitete Vater
in zweiter Ehe geheiratet hatte nach
dem frühen Tod der Gattin und Mut-
ter des kleinen Nigel. Die kulinari-
schen Fähigkeiten von Nigels leibli-
cher Mutter gingen über das Verbren-
nen von Toast nicht hinaus. Da war
die Putze und zweite Bettgefährtin
seines Vaters, Mrs Potter, zwar deut-
lich begabter, der Junge aber blieb ihr
fremd. Nigel fremdelte mit allem und
allen – mit Ausnahme von Josh, dem
jungen, Motorrad fahrenden Gärt-
ner mit dem nackten Oberkörper.
Mummy, Daddy, Mrs Potter – die-
se drei umgeben Slater bis heute, ihr
Geist ist spürbar in dem Haus, das
Slater allein bewohnt. Zwei blicken
auf ihn aus Porträtgemälden, die
dritte herrscht aus der Reinlichkeit
der Räume. Selbst Slaters private
Küche im Souterrain des Hauses ist
frei von jeglichen Utensilien, alles
ist verstaut, nichts liegt herum. Man
muss ihn bitten, den Kühlschrank
zu öffnen und die Speisekammer,
um einzusehen, dass dies nicht nur
Bühne ist, sondern bewohnt, belebt.
Wer die Bücher Slaters seit über 20
Jahren sammelt und wertschätzt,
tut dies nach so viel Einsichtnahme
noch mehr.
Slater ist kein Spaßbold und kei-
ne Fernseh-Rampensau, er ist ein
stiller, reflektierter Mann. Und bald
ist er, Blick auf den Flugplan, weg. 2

Slaters filmreife


Jugendjahre kamen


tatsächlich ins Kino


Der erste Band
von „Greenfeast“
erscheint am




    1. (DuMont,
      28 Euro); der
      zweite folgt
      im September.
      Links ein
      Frühlingsgericht
      mit grünem
      Spargel
      und Karotte




52 13.2.2020

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