Der Stern - 13.02.2020

(singke) #1
Rolf-Herbert Peters (l.),
stern-Reporter, berichtet
seit Jahren über den
Kampf um die Braunkohle.
Fotograf Matthias Jung hat die Zerstörung
der Dörfer dokumentiert

ben – um sie abreißen zu können. Die al-
lermeisten der ehemals circa 820 Einwoh-
ner haben ihre alten Heime bereits „besen-
rein“ übergeben, wie es der Kaufvertrag
verlangt, und sind weggezogen. Sie haben
die Rollläden heruntergelassen oder Plas-
tikblumen in die Fenster gestellt, um Plün-
derer davon abzuhalten, die teuren Kup-
ferleitungen aus den Wänden zu reißen.
Vor vielen anderen Gebäuden stehen
Container, aus denen regennasse Sofas und
Betten staken. Die Leute nennen sie „RWE-
Särge“. In ihnen beerdigen sie ihr altes Le-
ben. Die Metzgerei Wimmers hat längst ge-
schlossen, die Bäckerei Gillrath, und auch
der Wirt vom Keyenberger Hof hat gerade
dichtgemacht. Im Kindergarten, in dem Da-
vid früher spielte, sind die Fenster zuge-
mauert. Viele Verstorbene wurden bereits
auf den Friedhof von Neu-Keyenberg um-
gebettet, einer gesichtslosen Neubausied-
lung, die RWE im Norden der Stadt Erkelenz
angelegt hat, zu der die Dörfer gehören.
Keyenberg stirbt einen langsamen Tod.
David sagt, der psychische Druck, dem
die Verbliebenen ausgeliefert sind, sei im-
mens. Nicht alle Bürger sind begeistert von
der Vorstellung, dass hier bald die Aktivis-
ten einfallen und den Ort besetzen könn-
ten. Nicht alle wollen sich retten lassen.
Manche Einheimische schreckt der Ge-
danke, RWE könnte nach ihrer Vertreibung
die Dörfer am Ende doch stehen lassen
und ihre Häuser an Fremde verkaufen.
Einer hat David auf der Straße angeschrien:

„Dir ham sie wohl ins Gehirn geschissen!“
Seine Großeltern, sagt er, die mit ihm auf
dem Hof leben, beteten darum, sterben zu
dürfen, bevor sie umsiedeln müssen.

N


icht weit entfernt von der Kirche liegt
der Bauernhof von Heinz-Josef Amend.
Der 79-Jährige steht neben seinem
grünen Traktor, einem Hanomag Perfekt
400 von 1963. An der Scheunenwand dane-
ben hängt ein Schild: „Einen alten Baum
verpflanzt man nicht.“ Amend sagt: „Das
gilt auch für Menschen, die gehen sonst ka-
putt.“ Ende des Jahres muss er sein 4500
Quadratmeter großes Anwesen RWE über-
lassen. Dann wird er mit seiner Enkelin in
einen Neubau nach Neu-Keyenberg ziehen.
Er hat Tränen in den Augen und sagt leise:
„Ich geh nicht gern hier weg!“
Schon vor über dreißig Jahren habe er
mit seiner Frau, die schon lange tot ist, in
Fackelzügen gegen die drohende Räumung
demonstriert. „Wir haben damals ‚Oh Hei-
mat, wie bist du so schön‘ gesungen, ich war
62 Jahre im Kirchenchor. Da steckten die
heutigen Aktivisten noch in den Pampers!“
Im heißen Sommer 2018 sind ihm im Gar-
ten die Brombeeren verbrannt. Er kann
nicht fassen, warum nicht längst Schluss
ist mit der Kohle. Würde er es begrüßen,
wenn die Rebellen Keyenberg besetzten?
„Die sollen kämpfen, wir haben auch ge-
kämpft. Aber die kommen wohl zu spät.“
Er schaut hinauf zu einem Schwalben-
nest an der Scheunendecke: „Was die wohl

machen, wenn die Scheune nicht mehr
steht?“ Dann will er weiterarbeiten. Der
Traktor muss durch den TÜV. Und am
Nachmittag wird auch noch ein alter
Freund beerdigt, auf dem Friedhof von
Neu-Keyenberg – „Autounfall, so schnell
kann’s gehen!“ Wieder füllen sich seine
Augen mit Tränen. Er schüttelt den Kopf:
„Ich geh nicht gern hier weg!“
In Erkelenz sitzt Rainer Merkens im lila
Hemd im Tagungsraum der regierenden
CDU. Er ist Vorsitzender des Braunkohle-
ausschusses im Stadtrat und nicht nur
politisch ein Schwergewicht. Auch er lebt
am Rande des Lochs, kämpft seit seiner Ju-
gend gegen die Bagger: „Ich habe geheult
wie ein Schlosshund, als die Bund-Länder-
Entscheidung zum Kohleausstiegsgesetz
fiel.“ Ausgerechnet seine Partei hat seine
Heimat für den Kohlekompromiss aufge-
geben – RWE darf die Dörfer noch abbag-
gern, so die Regierungsvereinbarung.
Was würde passieren, wenn die Rebellen
Erfolg hätten wie im „Hambi“ und die Dör-
fer stehen blieben? Merkens zuckt mit den
Schultern. „Wir müssten wohl nach Jahren
des Verfalls ein riesiges Sanierungspro-
gramm starten, die Infrastruktur wieder-
herstellen.“ Die Orte müssten neu besie-
delt werden, ein paar Leute würden wohl
zurückkommen. Das berge Chancen, auch
wirtschaftlich. „Aber dafür brauchten wir
auch sehr viele Fördermittel.“ Der Kampf
ginge weiter. Merkens wirkt zermürbt: „So
oder so: Und wenn ich 120 Jahre alt werde,
werde ich das Thema nie mehr los.“
In Keyenberg löst sich der Tross der Re-
bellen auf. Fürs Erste. Am 8. März soll der
nächste Dorfspaziergang stattfinden, sie
hoffen auf viele Tausend Teilnehmer. Im
August zündet die nächste Eskalationsstu-
fe, eine „mehrtägige Massenaktion zivilen
Ungehorsams“. Philosoph David freut sich
auf seine Zukunft in Keyenberg, es gibt so
viel zu retten: „Es gibt immer einerseits
das, was die Politik entscheidet, und ande-
rerseits das, was die Zivilgesellschaft will.“
Dann packt er das gelbe Andreaskreuz in
den Kofferraum. 2

NICHT ALLE DORFBEWOHNER WOLLEN SICH RETTEN LASSEN


Die Toten dürfen nicht ruhen. Die ersten wurden bereits nach Neu-Keyenberg umgebettet


60 13.2.2020
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