Der Stern - 13.02.2020

(singke) #1

M


it Pflichten ist das so eine
Sache. Wer sie erst noch vor
sich hat, spürt meist keine
große Lust dazu. Sie dann tat-
sächlich zu erfüllen ist oft
weniger schlimm, Hauptsa-
che, man hat einmal damit angefangen. Und sie erfüllt
zu haben schafft oft große Zufriedenheit, manchmal
sogar Stolz. Das wenigste, was man dann sagt, ist: „Es
hat einem nicht geschadet!“
Doch wenn es nicht schadet oder sogar stolz macht,
warum müssen die Pflichten dann immer weniger wer-
den? Seit Deutschland im Jahr 2011 die Wehrpflicht aus-
setzte, wird auch dem männlichen Bundesbürger nach
der Schulzeit nur noch eine einzige staatliche Pflicht
abverlangt, nämlich Steuern zu zahlen. Ansonsten ist
man nun pflichtenfrei, darf alles vom Staat verlangen,
aber der Staat von einem selbst möglichst nichts.
Warum das so ist, ist schwer zu sagen. Denn dass kei-
ne Pflichten zu haben das allgemeine Glück mehrt, ist
kaum zu glauben. Immanuel Kant, der ein großes Herz
für Pflichten hatte, wurde nie müde zu sagen, welch gro-
ße Zufriedenheit damit einhergehe. Macht man sich
damit schon nicht zwangsläufig glücklich, so doch auf
jeden Fall glückswürdig.
Die Frage, was ein erfülltes Leben ist oder sein könn-
te, erlaubt viele unterschiedliche Antworten – meist
sind sie mit der Vorstellung einer Vita activa verbun-
den, einem tätigen und sozial erfüllten Leben. Einsam-
keit, Tatenlosigkeit und Lethargie, ja selbst unausge-

setzte Zerstreuung und permanente Lusterfüllung
werden gemeinhin nicht als „Erfüllung“ angesehen. Nur
was mit sozialen Anstrengungen, mit Mühe und Ver-
antwortung einhergeht, wird als „Lebensleistung“ gou-
tiert und als Sinnstiftung reflektiert und genossen.
Was also spricht dagegen, statt des nicht mehr zeit-
gemäßen Wehrdienstes ein Soziales Jahr für jede und
jeden 18-Jährigen einzuführen? Eines, das Völker ver-
bindend am besten in einem europäischen Nachbarland
absolviert wird? So lernt auch der Dachdeckerlehrling
Französisch oder Polnisch und nicht nur der Erasmus-
Student.
Noch viel wichtiger wäre die Einbeziehung all jener
Menschen, die heute in Deutschland im statistischen
Durchschnitt von 63 Jahren in den sogenannten „Ruhe-
stand“ treten als Rentner oder Pensionäre. Für sie wäre
ein zweites Soziales Jahr angebracht. Denn wer heute in
Rente geht, lebt oft noch über 20 Jahre – bei einer Ge-
sundheit, die im Vergleich zu früheren Generationen
durchschnittlich viel besser ist. Die medizinische Ver-
sorgung, die gesündere Ernährung und vor
allem der Wandel einer Industrie- in eine Dienstleis-
tungsgesellschaft haben dies ermöglicht. Noch nie in
der Geschichte hat es so viele gesunde, vitale und be-
lastbare Rentner und Pensionäre gegeben wie heute in
der westlichen Welt. Etwa 1,5 Millionen Rentner kom-
men jedes Jahr dazu, nicht eingerechnet die Zehntau-
sende von Pensionären.
Viele dieser sogenannten Senioren kümmern sich
unter anderem um ihre Kinder und Enkelkinder; eini-
ge sind sozial engagiert und/oder in einem Ehrenamt
tätig. Doch diejenigen, die sich in die Gesellschaft ein-
bringen und sich um das Allgemeinwohl verdient ma-
chen, sind gleichwohl eine Minderheit. Der größere Teil
engagiert sich jenseits des Privatlebens für nichts. Auf
der anderen Seite wächst die Zahl der älteren Menschen,
die sich einsam fühlen und die darunter leiden, nicht
mehr gebraucht zu werden. Auch der Übergang vom Be-
rufsleben in den (zuvor oft ersehnten) Ruhestand fällt
vielen schwer.
Ein zweites Soziales Jahr mit etwa 15 Stunden in der
Woche – das entspricht drei halben Tagen – wäre für
viele Menschen ein Segen und erst recht für die Gesell-
schaft. Wer in eine andere Lebenswelt hineinriecht und
einen sozialen Beitrag leistet, erlebt das bestätigende
Gefühl der Nützlichkeit. Er lernt Neues kennen und
bringt sich selbst in diesen neuen Kontext ein.
Auf diese Weise kann es im Kant’schen Sinne zu sinn-
stiftenden Erfahrungen kommen. Rentner und Pen-
sionäre können die wertvolle Erfahrung machen, ihr
Wissen weiterzugeben und gebraucht zu werden, ob-
wohl sie dies freiwillig oft nicht tun würden – sei es
aus Bequemlichkeit, Verdrängung oder weil sie nicht
wissen, für was sie sich entscheiden sollen und wie so
etwas anzustellen sei.
Selbstverständlich wird derjenige, der körperlich oder
psychisch dazu nicht imstande ist, von der Pflicht be-
freit. All die anderen aber tragen bei zum sozialen
Frieden, zur Toleranz, zur Sinnstiftung und dem Ver-
ständnis der Generationen füreinander. Ihr Einsatz
wäre ein wichtiger Schritt auf dem Weg zu einer neuen
Bürgerkultur, einem neuen Gesellschaftsvertrag! 2

PLÄDOYER


FÜR DIE PFLICHT


62 13.2.2020

KOLUMNE


AUF DEM WEG NACH MORGEN


Richard David Precht


An dieser Stelle schreiben im wöchentlichen Wechsel unsere Kolumnisten
Luisa Neubauer, Richard David Precht, Harald Welzer und Aleida Assmann

Der 55-jährige Philosoph ist
Honorarprofessor und hat mehrere
Bestseller geschrieben

FOTO: PETER RIGAUD
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