Der Stern - 13.02.2020

(singke) #1

Frau Lauber, Herr Stamm, Sie hören


sich seit Jahren die Probleme anderer


Menschen an. Ehrenamtlich, neben dem


Job. Wieso machen Sie das?


LAUBER: Als meine Kinder groß waren,


erinnerte ich mich an einen Satz, der in


meinem Zeugnis aus der ersten Klasse


gestanden hatte: „Sie bemuttert gerne


ihre kleiner geratenen Mitschülerinnen.“


Bis heute ist es in meinem Freundes-


kreis so, dass sich viele, die ein Problem


haben, an mich wenden. Ich kann also


offensichtlich gut zuhören. Das wollte


ich nutzen, um mich einzusetzen für


andere.


STAMM: Für mich gehört das einfach dazu.


Ich habe vorher über 30 Jahre Kinder- und


Jugendarbeit gemacht. Das ist bereichernd,


auch für einen selbst. Man taucht in Wel-


ten ein, von denen man sonst nichts mit-


bekommen würde.


Sie wissen nie, was in einer Schicht auf


Sie zukommt, mit welchen Schicksalen


Sie konfrontiert werden. Wie bereiten


Sie sich vor?


LAUBER: Gar nicht, man muss sich über-


raschen lassen. Vorbereitung hieße ja,


dass man gedanklich in eine bestimmte


Richtung gehen würde. Dadurch würde ich


mich einengen.


STAMM: Ich versuche, vorher den Kopf


freizubekommen. Wenn ich von der Arbeit


komme und mich noch an einer Sache ver-


beiße, gehe ich erst eine Runde spazieren.


Sonst bringe ich zu viel von mir mit.


Wie läuft das typische Gespräch?


STAMM: Es gibt grob zwei Arten von


Gesprächen: die mit Menschen, die regel-


mäßig anrufen und einfach erzählen, für


die es Routine ist. Und die mit Menschen,


die sich zum ersten Mal bei uns melden.


Die sind viel vorsichtiger. Da kommen die


üblichen Fragen: „Ist es wirklich anonym?“,


„Wird der Anruf aufgezeichnet?“


Und wie ist der typische Anrufer?


STAMM: Viele sind, wenig überraschend,


über 55. Es gibt aber auch Jugendliche.


Letztens hatte ich nachts einen jungen


Mann am Apparat, der mit dem Auto


seiner Eltern geblitzt worden war. Ich hab


ihn gefragt: „Wissen Ihre Eltern denn, dass


Sie sich den Wagen ausgeliehen haben?“ Da


F


kam nur: „Ich hab noch gar keinen Führer-
schein. Ich bin noch nicht 18.“
LAUBER: Es sind immer noch mehr Frau-
en. Aber die Zahl der Männer steigt. Frü-
her waren die wenigen, die sich gemeldet
haben, oft Sexanrufer. Die lenkten das Ge-
spräch relativ schnell auf intime Themen
und wurden anzüglich. Heute nehmen
Männer unser Angebot häufiger und ernst-
hafter an. Das liegt auch daran, dass sich
unsere Gesellschaft verändert hat.
Dass Geschlechterrollen zunehmend
aufgebrochen werden?
LAUBER: Die Gesellschaft ist offener ge-
worden.
STAMM: Das zeigt sich auch an den häufi-
geren Anrufen von diversen Menschen, die
sich nicht eindeutig als Mann oder Frau
begreifen. Da geht es um Identität, um eine
Suche nach sich selbst und einen Platz in
der Gesellschaft. Viele wollen einfach nur
ihre Geschichte erzählen und dadurch
etwas loswerden.
Ist dieses Bedürfnis, etwas loszu-
werden, der Hauptimpuls der meisten
Anrufer?

LAUBER: Wenn jemand von Problem zu
Problem zu Problem springt, frage ich oft:
„Was kann ich denn eigentlich für Sie tun?“
Viele antworten: „Ach, mir tut’s schon gut
zu reden.“
Klingt nach viel Einsamkeit.
LAUBER: Das ist ein zentraler Punkt
unserer Arbeit. Einsamkeit kann natür-
lich viele Ursachen haben. Manche
Menschen benehmen sich so, dass sie
irgendwann alleine sind. Die meisten
können aber nichts dafür. Viele werden
einfach so alt, dass sie irgendwann übrig
bleiben.
STAMM: Aber auch bei den Jungen fehlen
manchmal Freunde, die bereit sind zuzu-
hören.
LAUBER: Oder sie schämen sich, gewisse
Dinge im Freundeskreis zu teilen. Ich habe
einmal mit einer Frau gesprochen, die Ehe-
frau und Mutter ist und in dieser Konstel-
lation auch weiterleben wollte. Tief in sich
fühlte sie sich aber als Mann. Trotzdem war
sie fest entschlossen, das nicht mit ihrem
Umfeld zu besprechen. Das ist auch eine
Form von Einsamkeit.

„DIE WELT MUSS IMMER


SCHÖN SEIN. DIESER


PERFORMANCE-DRUCK


MACHT EINSAM“


66 13.2.2020

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