Der Stern - 13.02.2020

(singke) #1

Wieso, glauben Sie, sind immer mehr


Menschen einsam?


LAUBER: Das ist schon ein Großstadt-


phänomen. In der Großstadt ist vieles ano-


nym. Da fallen Menschen schneller durchs


Raster. Hier in Hamburg zum Beispiel sind


52 Prozent der Haushalte Singlehaushalte.


STAMM: Auch die Digitalisierung hat


enorme Auswirkungen. Wir leben in einer


Gesellschaft, die den Einzelnen größten-


teils nach Leistung und äußeren Merk-


malen beurteilt. Im Fernsehen laufen


Castingshows, in denen man andere be-


wertet – und oft auch abwertet. Bei Face-


book und Instagram ist es ähnlich. Da zählt


nur der Daumen nach oben.


LAUBER: Die Welt muss immer schön sein.


Dieser Performancedruck macht einsam.


Die Gespräche bei Ihnen sind anonym.


Haben Sie zu manchen Anrufern trotz-


dem eine persönliche Bindung?


STAMM: Es bleibt immer ein Abstand. Aber


es gibt Menschen, die kennt man, die mel-


den sich oft direkt mit ihrem Namen oder


greifen bestimmte Themen wieder auf.


Was sind das für Menschen, die so oft


mit Ihnen sprechen wollen?


LAUBER: Einsame. Und viele mit psychi-


schen Erkrankungen. Wir haben Anrufer,


deren Therapeuten gerade im Urlaub sind.


Menschen, die nachts aus Kliniken an-


rufen, weil in der Zeit keiner für sie da ist.


Wenn die psychologische Versorgung bes-


ser wäre, würden manche Leute sicherlich


nicht unsere Nummer wählen.


STAMM: Es gibt eine Frau, die Stimmen


hört. Mit der telefoniere ich extrem gern.


Sie erzählt immer, dass ihr diese Stimmen


befehlen, sich umzubringen. Sie ist nicht


wirklich einsam. Sie hat einen Partner. Der


weiß aber nicht so recht, wie er damit um-


gehen soll.


LAUBER: Sie meldet sich oft nachts. Dann


sind die Stimmen wohl besonders laut. Sie


hat schon viele Klinikaufenthalte hinter


sich wegen dieser Wahnvorstellungen.


Aber sie ist nie fordernd, nie aggressiv, nur


dankbar, dass sie jemanden erreicht, mit


dem sie reden kann.


So harmonisch verlaufen die Gespräche


sicher nicht immer.


LAUBER: Ja, es geht auch anders. Es gab ei-


ne Frau, die regelmäßig unglaubliche Be-


schimpfungen losgelassen hat. So schnell


konnte ich gar nicht „Telefonseelsorge“


sagen, da fing sie schon an zu schreien.


„Blöde Schlampe“ und dergleichen. Das


ging mal 30 Sekunden, mal eine Minute,


dann hat sie aufgelegt. Nach einer halben


Stunde rief sie manchmal wieder an, ganz


leise, mit ruhiger Stimme, und hat gefragt:
„Haben wir uns schon mal gesprochen? Ha-
ben wir uns gestritten?“ Dann konnte man
ganz normal mit ihr sprechen. Aber wenn
ihr das hilft, kann ich das auch aushalten.
Sind Beschimpfungen und Drohungen
alltäglich?
STAMM: Alltäglich nicht. Es kommt vor.
Ich hatte neulich einen, bei dem ich ge-
merkt habe: Der wartet nur auf eine Ge-
legenheit, um mir zu sagen, wie unfähig
ich bin. Da ging es nicht um mich. Da ging
es um Profilierung, um ein Ventil.
Was war Ihre Erwartung, als Sie bei der
Telefonseelsorge angefangen haben?
LAUBER: Ich bin ein Mensch, der gern eine
Lösung hat. Mit dem Anspruch bin ich hier
auch reingegangen: Menschen konkret
helfen zu wollen. Die Gespräche führen
aber nur sehr selten zu einer Lösung. Ich
verbessere nicht jedes Mal ein Leben.
STAMM: Wir sind keine Berater oder Thera-
peuten. Wir wollen keine Ratschläge geben.
Aber fordern das nicht trotzdem viele
Anrufer ein?
STAMM: Es passiert schon, dass jemand
gleich am Anfang bittet: „Sag mir, was ich
machen soll.“ Dann muss man den Leuten
klarmachen, dass sie die Spezialisten für ihr
Leben sind. Sie wissen viel besser, was die
Antworten auf ihre Fragen sind. Ich kann ih-
nen nur helfen, diese Antworten zu finden.
LAUBER: Wenn ich eine vermeintliche
Lösung im Kopf habe, muss ich mir be-
wusst machen: Das ist meine Lösung.
Nicht die Lösung des anderen. Wenn der
Gesprächspartner sich für einen anderen
Weg entscheidet, dann ist das seiner, und
dann ist das der richtige. Das war für mich
ein Lernprozess.
STAMM: Manchmal muss man auch nur
den Schmerz des Gegenübers aushalten.
Ich erinnere mich an den Anruf einer jun-
gen Frau mit Kind, ungefähr drei Jahre alt.
Ihr Partner ist bei einem Verkehrsunfall
verstorben. Sie kam aus der Trauer einfach
nicht heraus, und all ihre Freunde konn-
ten es nicht mehr hören. Da ging es nur da-
rum zuzuhören, ihr Mut zu machen. Und
zu sagen: Es wird wieder hell.
Haben Sie mal jemandem ganz konkret
geholfen?
STAMM: Es gab eine Frau, die schwer krank
war und häufig bei uns angerufen hat. Sie
wollte unbedingt sterben. Sie sprach seit
Monaten von nichts anderem. Dann er-
zählte sie eines Tages, was sie in ihrem
Leben noch gern erlebt hätte. Eine dieser
Sachen: einen Schmetterling schlüpfen
sehen. Da dachte ich: „Halt, halt, halt! 4

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