Der Stern - 13.02.2020

(singke) #1
Josef Saller (li.) hat selbst noch
nie bei der Telefonseelsorge
angerufen. Er überlegt aber,
ob er nicht vielleicht auf
die andere Seite wechselt. Bei den Recherchen
vor diesem Gespräch hörte er ständig: „Wir
freuen uns immer über neue Kolleginnen und
Kollegen!“ Dmitrij Leltschuk fotografierte

Das mit den Schmetterlingen, das krie-
gen wir hin!“ Ich hab kurz gegoogelt und
ihr ein, zwei Anbieter rausgesucht, die
Schmetterlingsraupen verkaufen. Ein paar
Wochen später stand in unserem Feed-
back-Buch, in dem wir Rückmeldungen zu
unserer Arbeit notieren, dass diese Frau
angerufen und sich bedankt habe. Die
Schmetterlinge würden jetzt durch ihre
Wohnung fliegen. Ein Mensch, der seit Mo-
naten über nichts anderes als den eigenen
Tod spricht, wird auf einmal aus diesem
Strudel rausgerissen! Das hat uns alle hier
wahnsinnig gefreut.
LAUBER: Bei mir war es eine Frau, die
während eines Nachtdiensts anrief. Sie war
völlig am Ende, hatte getrunken, Medika-
mente genommen, Herzrasen. Ich habe sie
gefragt, wieso sie keinen Krankenwagen
ruft. Sie hat gesagt: „Das schaffe ich nicht
mehr.“ Mit ihrem Einverständnis habe ich
das dann gemacht.
STAMM: Bei unseren Daueranrufern ist so
ein Erfolgserlebnis selten. Bei Leuten, die
nur einmal anrufen, hat man häufiger das
Gefühl: Da hat jetzt was klick gemacht.
Geben Sie im Gespräch auch etwas von
sich selbst preis?
LAUBER: Nur in seltenen Fällen, wenn es
wirklich hilft. Ich hatte mal eine Anruferin
mit einer dementen Mutter. Da habe ich
dann schon gesagt: „Ich kenne das Problem.“

STAMM: Es gibt Menschen, die wollen uns
regelrecht aushorchen. Da werde ich vor-
sichtig.
LAUBER: Entscheidend ist, dass die Distanz
gewahrt bleibt. Das ist kein Gespräch unter
Freunden. Das Gespräch behandelt nur
einen, und zwar den Anrufer.
Nehmen Sie die Probleme und Gespräche
oft mit nach Hause?
LAUBER: Manches spukt mir noch mal im
Gedächtnis herum, aber meistens kann ich
gut loslassen. Ganz am Anfang, als ich hier
in der Ausbildung war, habe ich gefragt:
„Wieso darf man die Arbeit denn nicht von
zu Hause aus machen?“ Heute ist mir das
völlig klar. Es ist wichtig, rauszugehen und
die Gespräche hier zu lassen.
STAMM: Ich hatte einmal ein Telefonat,
das mich sehr ärgerlich gemacht hat. Wie
der Anrufer mit mir gesprochen hat. In
der Supervision, die wir hier regelmäßig
machen, habe ich herausgefunden, dass ich
das aus der Beziehung zu meinem Vater
mitgenommen habe. Dieser bevormun-
dende Ton. Dass mir jemand sagen will,
wie ich mein Leben zu führen habe. Der
Anrufer hat eine Stelle in meinem Leben
berührt, die wund ist.
Hat die Arbeit Sie selbst über die Jahre
verändert?
LAUBER: Man entwickelt mehr Verständ-
nis für andere Lebenssituationen. Heute
Morgen zum Beispiel: Ich war einkaufen.
Ein junger Mann hat auf der Straße Maga-
zine verkauft. Als ich weitergegangen bin,
dachte ich kurz: „Mensch, so ein freund-
licher, netter Typ, wieso arbeitet der nicht?“
Der nächste Gedanke war gleich: „Wer weiß
schon, was für ein Päckchen der trägt?“
Vielleicht ist er gerade aus seiner Wohnung
geflogen oder krank oder was auch immer.
Das ist die Erfahrung von zwölf Jahren am
Telefon.
STAMM: Ich bin vorsichtiger geworden,
Menschen zu beurteilen. Vor allem zu
verurteilen. In unseren Köpfen wird ja
ständig alles gerastert und in Schubladen
gesteckt, Dinge, Menschen, Handlungen,
ganz automatisch. Wir lernen hier, hinter
diesen ersten Eindruck zu blicken. Ich habe
neulich mit einem jungen Mann gespro-
chen, 24 Jahre alt, Abitur, klang erst mal
nach Vorzeigesohn. Irgendwann stellte
sich heraus, dass er keinen Kontakt mehr
zu seiner Familie hat, seine Schwester will
nichts mehr mit ihm zu tun haben, seine
Mutter hat ihn nie gewollt und hat ihm das
auch sehr deutlich gesagt. Er hat genau
einen Freund. Lebt von Grundsicherung.
Geht davon aus, dass es keinen Platz auf

dieser Erde gibt, an dem er glücklich wer-
den kann. Wenn ich nur die Oberfläche
sehe, denke ich: Mensch, der kann doch!
Aber nein, der kann nicht.
Sie hören so viele Geschichten. Wie
wissen Sie, ob die alle stimmen?
LAUBER: Für unsere Arbeit ist es nicht
so wichtig, ob alles stimmt.
STAMM: Jedes Gespräch ist eine gewisse
Inszenierung. Wenn ich anfange, jeman-
dem zu misstrauen, kann ich nicht mehr
unvoreingenommen mit ihm reden.
Gibt es ein Telefonat, das Sie bis heute
begleitet?
STAMM: Einmal hatte ich eine Frau am
Hörer, die stark suizidal war. Wir haben
lange miteinander gesprochen, bis es ihr
irgendwann so gut ging, dass sie bereit war,
ins Bett zu gehen und am nächsten Tag
wieder aufzustehen. Das war ein unglaub-
lich intensives Gespräch.
Haben Sie oft Angst, dass Ihre Gesprächs-
partner sich etwas antun?
LAUBER: Der Satz „Ich will mich umbrin-
gen“ ist ein Signal, damit wir aufmerksam
werden. Und er wird leider häufig miss-
braucht. Diejenigen, die tatsächlich kurz
davor sind, sich das Leben zu nehmen,
haben oft nicht mehr die Kraft, bei uns
anzurufen.
STAMM: Als ich hier angefangen habe,
hatte ich gleich ein Gespräch mit einem,
bei dem ich Angst hatte, der könnte sich
etwas antun. In den Tagen danach habe ich
die Zeitung sehr aufmerksam durchsucht.
Das ist heute nicht mehr so. Die meisten
der Menschen, die hier anrufen, wollen
nicht sterben, sie wollen nur so nicht wei-
terleben.
Haben Sie schon mal ans Aufhören
gedacht?
LAUBER: Ich habe einmal kurz gezweifelt,
nach dem Ende der Ausbildung. Ob ich das
alles schaffe. Zum Glück bin ich dabei-
geblieben.
STAMM: Jein. Es ist natürlich eine Belas-
tung. Ich möchte aber nicht darauf verzich-
ten. Meistens gehe ich nach einer Schicht
dankbar nach Hause. Dankbar für mein Le-
ben. Und dankbar für das Vertrauen, das mir
fremde Menschen entgegenbringen. 2

„ICH BIN VORSICHTIGER


GEWORDEN, MENSCHEN


ZU BEURTEILEN – VOR


ALLEM ZU VERURTEILEN“


68 13.2.2020
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