Der Stern - 13.02.2020

(singke) #1

P.M.-INFOGRAFIK: RALF BITTER


U

Um vier Uhr morgens explodiert das Eis. Die endlo-
sen Gänge der „Polarstern“ liegen zu dieser Zeit ver-
waist. Alles schläft. Dabei kriechen das Tosen und
Kreischen in die Eingeweide des Schiffes, hinein in
die leeren Speiseräume, bis in die Betten auf den
Kammern. Draußen bäumt sich das arktische Eis auf
wie jemand, der mit aller Gewalt ums Überleben kämpft. Es drückt
den 12 000-Tonner nach vorn, zur Seite, nach hinten. Schollen
drängen aneinander, türmen sich zu meterhohen Bergen auf und
hinterlassen zerschlagene Trümmer, wo sie wieder auseinander-
treiben. Das Eis ächzt, röhrt und quietscht. Aus der Ferne dröhnt
ein dumpfer Schlag, wo die nächste Scholle zerbrochen ist.
Die Kraft des Meereises kannte David Wagner nur aus Geschich-
ten, als er am 20. September 2019 die „Polarstern“ in Tromsö be-
stieg. „Frag lieber meinen Chef“, hatte der 31-jährige Doktorand
im Hafen immer gesagt, wenn man sich nach seiner Arbeit erkun-
digte. Das geht jetzt nicht mehr, der Chef ist an Land geblieben.
Jetzt ist Wagner allein verantwortlich für Erfolg oder Misserfolg
seines Projekts: Für das Schweizer Institut für Schnee- und
Lawinenforschung wird der Deutsche Schnee in der zentralen Ark-
tis untersuchen. Der Beginn seiner Karriere. Seine große Chance.
Wagner ist ein besonnener Typ, der nicht leicht aus der Ruhe
zu bringen ist. Aber man merkt ihm deutlich an, wie
viel Respekt er vor der Expedition hat. Es ist seine
erste überhaupt – und die größte, die es in der
Geschichte der Menschheit je gegeben hat.
Die „Polarstern“, ein Koloss von 118 mal
25 Metern, soll ein ganzes Jahr lang an
einer Scholle durch den Arktischen
Ozean treiben. Die natürliche Drift
des Eises wird sie vorbei am Nordpol
tragen, bis zur Framstraße zwischen
Grönland und Spitzbergen. Rund um
das Schiff wird eine ganze For-
schungsstadt entstehen, mit Daten-
netz, Landebahn, Unterwassersonden
und hochhaushohen Messtürmen.
Etwa alle zwei Monate bringen chinesi-
sche, schwedische oder russische Eisbre-
cher Benzin, Lebensmittel und eine neue
Crew. Alles unter Führung des deutschen Alfred-
Wegener-Instituts und seines Flaggschiffs. 140 Millio-
nen Euro Kosten. 20 Nationen. 900 Experten an Land und an Bord.
Bei dieser Fahrt gibt es nur Superlative.

Schießtraining an Deck
Es wirkt wie ein letzter Kraftakt, mit dem die Forschergemeinde
das arktische Meereis endlich verstehen will. Die Erderwärmung
zerstört es, und das wirkt sich auch auf uns aus. Schon in 20 Jah-
ren könnte der Ozean im Sommer komplett eisfrei sein. Die Zeit
rennt den Forschern davon.
Während sich die „Polarstern“ durch das Nordpolarmeer
schraubt, eilt David Wagner mit gerunzelter Stirn Treppen rauf
und Treppen runter, hin und her zwischen der Werkstatt im
Schiffsbauch und seinem Kältecontainer im Heck. Ständig findet
er neues Equipment von einem der gut 60 Kollegen, wo er eigent-
lich sein eigenes aufstellen wollte. „Das ist mal blöd“, ärgert er
sich. Wagner kannte die Faustregel auf Forschungsschiffen noch
nicht: Wer zuerst kommt, ergattert den besten Platz – und der ist

knapp. Noch nie war die „Polarstern“ so bepackt wie
diesmal.
Fünf Tage ist das Schiff unterwegs, als es hinter der
sibirischen Inselgruppe Sewernaja Semlja zum ers-
ten Mal auf Eis stößt: lose, brüchige Brocken, dazwi-
schen eine dünne, trübe Schicht. Wer Bilder von
majestätischen Eisbergen und Gletschern im Kopf hat, gewinnt
leicht den Eindruck, er sei im Bochum der Arktis gelandet. Alles
grau. Aber je mehr sich die Eisdecke schließt, desto bizarrere For-
men und Farben fallen auf: das Nilas-Eis, das sich wie dünne Fin-
ger ineinanderschiebt. Grease-Eis, das die Meeresoberfläche in
eine ölig-glänzende Membran verwandelt. Pancake-Eis, das aus-
sieht, als hätte jemand weiße Pfannkuchen im Meer gebacken.
In der Nacht steht ein Mann auf dem Arbeitsdeck. Er ist Poli-
zist und hat bei der Bundeswehr gedient, auf der Expedition ist
er für die Gewehre und die Sicherheit auf dem Eis zuständig. Wenn
er sich über die Reling beugt, wirkt selbst dieser gestandene Kerl
zaghaft. Keine vier Meter unter ihm beginnt die endlose Leere
des Eises. „Stell dir vor, du springst da jetzt runter und das Schiff
fährt weiter. Gruselig.“ Der Anblick ist abstoßend und anziehend
zugleich, wie der Sog eines Abgrunds.
Die Arktis ist bis heute ein fremder Ort auf unserem eigenen
Planeten geblieben. Wer hier überleben will, braucht
gute Ausrüstung, Kondition – und muss schießen
können. Die Expedition führt ins Land der Eis-
bären. Im Notfall bleiben nur Sekunden, um
die schnellen Räuber zu verjagen.
An Deck trainieren die Forscher, was
dann zu tun ist. David Wagner wiegt das
Jagdgewehr in den Händen, als hätte
er nie etwas anderes getan. Dann be-
ginnt der Drill: Magazin einlegen, mit
einem Hebelruck vorladen, anlegen,
zielen, entladen. Wenigen Forschern
gelingt das in einer einzigen fließen-
den Bewegung, Wagner bald schon.
Später wird er oft andere Teams als Eis-
bärenwächter begleiten. Eine Verantwor-
tung, auf die er jetzt noch wenig Lust hat.
„Nachts halte ich jedenfalls keine Wache!“, sagt
er. „Das können die Profis machen.“ Dann rechnet
er aus, wie weit das nächste Krankenhaus entfernt ist.
Hunderte Kilometer trennen die „Polarstern“ da bereits vom
nächsten Festland – dazwischen nichts als Wasser und Eiswüste.
Meereis ist anders als Landeis. Kein stabiler Untergrund liegt
darunter. Strömung und Wind treiben es durch das Nordpolarmeer,
zerren es auseinander und drängen es wieder zusammen. Es ent-
steht erst bei etwa –1,8 Grad Celsius, das Salz im Wasser setzt den
Gefrierpunkt nach unten. Beim Gefrieren muss das Eis das Salz
loswerden, wodurch sich Laugenkanäle bilden. Darum erscheint
Meereis nicht klar, sondern milchig. Erst seit Kurzem weiß man,
dass in den Kanälen hoch spezialisierte Mikroorganismen leben.
Lange Zeit haben Polarfahrer vor allem beschrieben, was sie
sahen und spürten: die Form der Schollen, die Struktur der Eis-
kristalle, den Widerstand, bei dem die Schneekruste dem Druck
einer Faust nachgibt. Jetzt sind präzise Messgeräte die wich tigste
Waffe der Forscher, wenn sie ins Eis vordringen. Auf der Scholle
werden ihre Instrumente in die Atmosphäre, in den Ozean, auf
und unter das Eis blicken. 4


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Svalbard
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Grönland
Position am 10. Feb. 2020
Seit Okt. 2019:
Drift mit Eisscholle
Route der
„Polarstern“
Geplante Drift
bis Oktober 2020
Station Nord
Station
Kap Baranow

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Nordpolarmeer
Nordpol
Start am 20. Sept. 2019
Tromsø
500 km
Der Weg der
„Polarstern“ von Tromsö
vorbei am Nordpol bis zur Framstraße
zwischen Grönland und Spitzbergen
13.2.2020 79

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