FOTO: HECKER/SAUER/BLICKWINKEL
So setzt sich das Bild eines Querschnitts durch die Hocharktis
zusammen – eines, das die Wissenschaft dringend nötig hat. Denn
die Arktis verändert sich schneller, als die Modelle der Forscher
vorhersagen können. Gute Vorhersagen werden im Klimawandel
aber immer wichtiger: Wenn der Gefrierschrank der Erde taut,
verändert das die Ströme von Luft und Wasser auf dem Rest der
Erde. Stürme in Europa und Kältephasen in Florida – all das
können Folgen der Erwärmung der Arktis sein.
Weil hier oben alles so eng zusammenhängt, verstärken sich Ver-
änderungen gegenseitig. Wenn etwa Meereis schmilzt, gibt es mehr
offenen, dunklen Ozean. Der absorbiert mehr Strahlung und heizt
die Atmosphäre auf – was zu noch weniger Eis führt. Solche Rück-
kopplungseffekte sind typisch für die Arktis. Und weil viele von
ihnen noch unbekannt sind, vermasseln sie die Vorhersagen der
Forscher. Deshalb ist es so wichtig, dass sie vor Ort Daten sammeln.
Nach tagelanger Suche auf Satellitenbildern und mit dem Heli-
kopter haben die Forscher nicht die ideale, aber die stabilste Schol-
le gefunden, die den Sommer überdauert hat. Kleiner als geplant,
dafür besitzt sie einen Kern aus massiven, alten Presseisrücken.
„Unsere Festung“ taufen ihn die Forscher. Zwei Wochen nachdem
sie Tromsö verlassen hat, macht die „Polarstern“ daran fest. Im Ma-
schinenraum verklingen die Antriebswellen mit einem Seufzer.
Die Sonne schafft es jetzt kaum noch über den Ho-
rizont. Orange-rot-lila glimmt der Sonnenunter-
gang den ganzen Tag am Himmel. Sein Licht
zeichnet Muster in die raue Oberfläche aus
Eiskristallen und Schneehügeln. Wissen-
schaftler stecken auf der Scholle Felder
ab für ihre Forschungsstationen wie
Goldsucher ihre Claims.
Der Platz auf der 2,5 mal 3,5 Kilo-
meter großen Scholle ist begehrt.
Fünf Stationen sollen darauf entste-
hen. Allein in der Met City, der Stadt
für die Atmosphärenforschung, ver-
teilen sich Dutzende Instrumente um
einen 11- und einen 30-Meter-Turm, die
Windströmung untersuchen.
David Wagner will die Scholle am liebs-
ten so, wie sie jetzt ist: unberührt und weit.
Er und seine Kollegen werden beobachten, wie
sich die Schneedecke unter Wind, Sonne und Wolken
verändert. Die Stelle, die er jetzt aussucht, bleibt der Referenz-
punkt für das ganze nächste Jahr.
Auf langen Beinen stapft Wagner in seinem roten Überlebens-
anzug durchs Eis, etwa 400 Meter vom Schiff entfernt. Manchmal
versinkt sein Fuß in einem verborgenen Spalt. „Mh, vielleicht lie-
ber woanders lang“, sagt Wagner dann und blickt suchend über
die funkelnde Eisfläche. Es ist so still, dass einzelne Geräusche
ganz laut klingen: ein Reißverschluss. Der gleichmäßige Atem.
Das Aneinanderscheuern der Beine im Polaranzug.
„Wer seid ihr, und was macht ihr da!“, schimpft es plötzlich aus
dem Funkgerät, das an Wagners Brusttasche klemmt. „Äh, wie-
so? Wir suchen das Messfeld aus. Das war so abgesprochen“,
erklärt Wagner der Stimme von der Kommandobrücke. „Nein,
ihr seid in meinem Gebiet!“, schaltet sich der Chef des Atmosphä-
renteams ein. „Ihr lauft direkt über meine Fläche!“, beschwert
sich ein weiterer Eisforscher über Funk. Ein Streit entspinnt sich
zwischen den Kollegen. Wagner hört zu wie jemand, der weiß,
dass er im Recht ist. Das den erfahreneren Kollegen zu sagen,
wagt er nicht.
Dabei ist Wagners Forschungsfeld eines der wichtigsten auf der
Expedition: Schnee ist eine der großen Unbekannten der zentra-
len Arktis. Bisher gibt es kaum Daten über ihn – obwohl er wahr-
scheinlich eine bedeutende Rolle dabei spielt, wie Meereis wächst
und vergeht. Im Frühjahr und Sommer fängt er Sonnenstrahlen
ab. Wird er zu schwer, kann er dünnes Eis nach unten drücken, so-
dass es geflutet wird – der einzige Weg, wie Meereis von oben
wachsen kann. Wie der Wind ihn zu Dünen auftürmt, bestimmt
mit, wo sich zuerst Schmelztümpel bilden.
Vor allem fehlt der Schnee in den Berechnungen aus der Fern-
erkundung. „Vieles, was wir über das Meereis wissen, verdanken
wir Satelliten“, sagt Gunnar Spreen, der als Eisforscher für die Uni
Bremen mit an Bord ist. Die können genau zeigen, wie weit sich
die Eisdecke zurückgezogen hat: über 40 Prozent im Sommer seit
- Andere Eigenschaften wie Eisdicke aber können die Forscher
viel genauer aus dem Weltraum ableiten, wenn sie wissen, wie
Schnee darauf wirkt. „Für meine Eismessungen brauche ich die
Daten von David dringend“, sagt Spreen.
Eine Woche später gleicht die Scholle einer Baustelle im
Niemandsland des Eises: Hämmer klingen auf Metall, Kettensä-
gen fräsen kreischend Löcher ins Eis – bei mittlerweile
minus 20 Grad. Unermüdlich arbeiten sich die
Menschen vor, breiten sich aus, errichten ihre
Menschenstadt. An deren Rand funkelt die
„Polarstern“, ein Heim in einer Umgebung,
die töten kann. Den Polarfahrern bietet
sie eine warme Kammer, die sie sich zu
zweit teilen, und vier Mahlzeiten am
Tag – auf Salat, frisches Gemüse und
Obst, Milch und Eier müssen sie aller-
dings schon bald verzichten. Es gibt
eine Bar, einen Fitnessraum und einen
Pool. Auch wenn niemand darin
schwimmt. Freizeit haben die Forscher
kaum: Wenn der Tag auf dem Eis endet,
wird bis in die Nacht der nächste vorbe-
reitet. Aber kein Wissenschaftler muss
putzen, einkaufen, kochen, all die Dinge, die
den Alltag im Rest der Welt bestimmen. Im Auf-
enthaltsraum liegen Ausdrucke von Nachrichten, die
keiner liest. Die Forscher kennen nur eine Aufgabe, einen Gedan-
ken: den Erfolg der Expedition.
Jede Spur kann die Ergebnisse verfälschen
Quer über die Scholle ziehen sich jetzt armdicke orangefarbene
Strom- und Datenkabel auf Metallstativen, die Wirbelsäule des
Forschungscamps. Daneben verläuft ein zweispuriger Pfad – die
Straße für die Schneemobile. Wie emsige Tiere ziehen sie von
einem Punkt des Eiscamps zum nächsten. Sieht man genau hin,
blitzen an den Rändern der Straße farbige Punkte: ein Stück grü-
ne Schnur, schwarze Plastikkrümel. Gefrorene braune Klumpen,
die einen Film auf der Haut hinterlassen, wenn man sie zerreibt
- Öl von den Schneemobilen.
Die Forscher haben das größte Interesse daran, das Eis nicht zu
beeinflussen. Jede Spur, die sie hinterlassen, kann die Ergebnisse
verfälschen. Doch so sehr sie sich bemühen – die Scholle hat sich
bereits gewandelt. Sogar das Schiff selbst ist ein Problem. Die 4
Unter dem Mikroskop zeigt sich
das Grundmuster des Schneekristalls –
ein sechseckiger Stern
80 13.2.2020