Der Stern - 13.02.2020

(singke) #1
Diese Woche: ILLUSTRATION: KATRIN FUNCKE/ART ACT/STERN
Professor Dr.
Friedrich Lübbecke,
ehemaliger internistischer
Chefarzt am Klinikum Uelzen

AUFGEZEICHNET VON BEATE WAGNER;

belastung kaputtgehen. Auch große Mus-
kelquetschungen nach einem Unfall oder
extremer Sauerstoffmangel, wie er bei
Verschütteten auftritt, können zur Rhab-
domyolyse führen. Doch unsere Patientin
lief weder Marathon noch hatte sie Quet-
schungen. Ihre Kleidung war in makel-
losem Zustand. Wir fanden auch keine
Hinweise auf eine Infektion, die Muskeln
schädigen kann. Die Rhabdomyolyse ist
eine lebensbedrohliche Krankheit: Zu viel
Myoglobin im Blutkreislauf schädigt die
Nieren, sodass man den Stoff im schlimms-

V


or Jahren wurde eine junge Frau
mit dem Rettungswagen in un-
sere Klinik gebracht. Die Unter-
suchung war schwierig, denn jede
Berührung tat ihr weh. Schnell
war klar: Die Schmerzen kamen

von der Muskulatur. Auffällig war, dass die


Frau sehr elegant gekleidet war. In ihrem


Kostüm wirkte sie wie eine Geschäftsfrau.


Sie war ohnmächtig auf der Straße liegend


gefunden worden, den Autoschlüssel in


der Hand. Im Notarztwagen war die Patien-


tin wieder ansprechbar. Den Kollegen zu-


folge hatte die Frau auffällig


schlechte Venen. Nur mit Mühe


war es ihnen gelungen, einen


Gefäßzugang zu legen. Als ich


die vielen Einstichstellen an


den Armen sah, führte ich es


auf die Punktionsversuche im


Notarztwagen zurück.


Ich bat die Patientin um eine

Urinprobe. Der Harn hatte eine


braunrötliche Farbe. Solch ein


„Blut-Urin“ ist typisch bei zwei


Krankheiten: einer Hämolyse,


wenn vermehrt rote Blutkör-


perchen zerfallen. Oder bei


einer Rhabdomyolyse – dabei


löst sich die Muskulatur un-


ter Schmerzen auf. Ersteres


konnten wir schnell ausschlie-


ßen: Die ausschlaggebenden


Werte im Blut waren normal.


Dafür war der Kreatininwert


erhöht. Solch ein Befund tritt


beispielsweise bei einer Nie-


renschwäche auf, bei Entzün-


dungen von Haut und Mus-


kulatur, Verbrennungen oder


schweren Muskelverletzungen.


Bei der Rhabdomyolyse wer-


den die Wände der Muskelzel-


len undicht und setzen deren


Inhaltsstoffe frei. Tatsächlich


waren Laborwerte, die auf eine


zerstörte Muskulatur hinwei-


sen, massiv erhöht – CK, LDH,


Kalium und vor allem Myoglo-


bin, das wir auch im Urin fanden.


Die Beschwerden passten zu unserer


Verdachtsdiagnose Rhabdomyolyse. Aber


was war der Auslöser? Das Krankheitsbild


ist extrem selten. Es kann bei Marathon-


läufern vorkommen, die zu wenig getrun-


ken oder zu wenig trainiert haben – und


bei denen die Muskeln unter der Extrem-


ten Fall per Dialyse aus dem Blut waschen
muss. Zudem können die freigesetzten
Kaliumvorräte aus den zerstörten Zellen
bedrohliche Herzrhythmusstörungen aus-
lösen. Wir begannen, die Frau mit einer
speziellen Infusion zu behandeln. Nach ein
paar Tagen war sie über den Berg.
Aber: Noch immer kannte ich nicht
den Auslöser des Muskelzerfalls. Kurz vor
der Entlassung setzte ich mich zu der
Patientin ans Bett. Irgendwann offenbar-
te sie mir, dass sie mit Heroin handele und
jede Lieferung persönlich auf ihre Güte
überprüfe. Und zwar auf sehr
spezielle Weise: Sie setze sich –
ohne selbst abhängig zu sein –
eine Injektion. Sei die Qualität
der Rauschgifts gut, müsse
sie sich sofort erbrechen – eine
Art Qualitätskontrolle des
Stoffes sozusagen.
Tatsächlich kennen Notfall-
mediziner einen ähnlichen
Zusammenhang: Verabreicht
man Patienten bei einer Nie-
ren- oder Gallenkolik ein Opi-
at, ein starkes Schmerzmittel,
müssen einige sofort erbre-
chen. Auch Heroin gehört zu
der Stoffgruppe der Opiate. Die
Patientin schien also zu den
Menschen mit einem empfind-
lichen Brechzentrum zu gehö-
ren. Diesmal aber hatte bei ihr
das Heroin statt zu Erbrechen
zu Schwindel und Ohnmacht
geführt. Wahrscheinlich hatte
sie sich verunreinigte Ware ge-
spritzt, und ein beigemischter
Stoff hatte die Rhabdomyo-
lyse in Gang gebracht. Als Arzt
unterliegt man der Schweige-
pflicht, ich durfte die Polizei
nicht informieren. Warum die
Frau selbst nicht süchtig ge-
worden war, weiß ich nicht.
Ich kann es mir nur so erklären,
dass sie sich nur allerkleinste
Dosen verabreicht hatte. Diese
Art der Qualitätskontrolle jedoch hat sie
vermutlich aufgegeben. 2

Eine Frau hat plötzlich starke Muskelschmerzen.


Ein Arzt entdeckt, womit das zu tun hat:


mit einer ungewöhnlichen Art der Qualitätskontrolle


Gefährliche Güteprobe


86 13.2.2020


DIE DIAGNOSE


GESUNDHEIT


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