Der Stern - 13.02.2020

(singke) #1
FOTO: MUSTAFAH ABDULAZIZ

Bei aller Liebe, der Portier des Viel-Sterne-


Hotels konnte nicht ahnen, dass es sich bei


dem jungen Mann, der vor der goldenen


Drehtür seinen markenlosen Rollkoffer aus


dem Kofferraum hob, um einen Superstar


handelte. Um einen Weltklassemusiker,


einen Jahrhundertkünstler, um einen un-


erschrockenen Vorkämpfer und politischen


Mahner, um den Mann der Stunde sozusa-


gen, um „igorpianist“, den Twitter-König.


Allegro con brio


Seine Lederjacke war an diesem Nachmit-


tag kohlenstaubgrau, der Pullover aschig,


schlackeschwarze Hose, die Strickmütze


im Ton des regennassen Asphalts. Zwi-


schen Hannover und Hamburg habe sich


einer vor den ICE geworfen, Personenscha-


den. Deshalb würde er eventuell minimal


zu spät kommen, simste er höflich, er be-


eile sich. Immer bisschen Drama, immer


Spannung. Aber dann war er doch über-


pünktlich und zog seinen Koffer fröhlich


ins Café des Hotels. Der normalerweise eil-
fertige Portier bemerkte ihn nicht einmal.
Denn erst wenn Igor Levit spielt und
spricht, kommen die Farben. Wenn er sei-
ne klugen Augen in der Goldrandbrille an-
knipst, wenn er mit großen Zähnen lächelt
wie ein Heizstrahler und die Umgebung in
Licht taucht. Wenn er aus dem Stand und
noch kaum, dass er sitzt und einen Filter-
kaffee bestellt hat, loslegt, monologisiert,
anklagt, Fragen stellt und die Antworten
gleich mitgibt, wenn er das Tagesgesche-
hen referiert, zitiert, kommentiert. Wenn
er zur Entlastung seltsame Witze erzählt;
wenn er an der Zitronenscheibe im Was-
serglas nuckelt, bis sie aufgibt.
Igor Levit verschwendet sich an die Welt.
Er verschwendet sich im Reden und im
Spiel. Er erscheint wie einer, dem wenig
Zeit bleibt; keinen Moment will er verpas-
sen, kein Buch auslassen, keinen Aufreger
missen. Ja, er ist ein großer Pianist mit
außergewöhnlicher Poesie und außerge-

wöhnlichem Talent. Aber mehr noch ver-
ehren ihn seine immer jünger werdenden
Anhänger, weil er ein außergewöhnlicher
Mensch ist. Und ein Glück für uns alle.

Igor furioso


Er rast durch die Menge seiner Konzerte
wie durch das Spalier seiner zahllosen Lieb-
lingsmenschen, die ihn auf Twitter mit Zu-
neigung und Herz-Emojis überschütten. Er
heimst Preise ein, national und internatio-
nal, führt Klassikcharts an und genießt vor-
zügliche Kritiken von BBC bis „New York
Times“. Ach was, genießt! Levit kann das gar
nicht – sich zurücklehnen und genießen.
„Ich bin nicht gut im Ausruhen“, sagt er. Es
ist fünf Uhr am Nachmittag, in drei Stun-
den wird er in der Elbphilharmonie sitzen
und das 1. Klavierkonzert von Johannes
Brahms spielen. Das hatte er vor andert-
halb Jahren zuletzt im Programm. Müsste
er sich nicht einspielen? Nö. „Es gibt Stü-
cke, die bleiben in den Händen“, sagt Levit.
Und im Kopf sowieso. Es fiel ihm nie schwer,
sich komplizierteste Stücke „draufzuladen“
und anschließend „abzurufen“. Natürlich
können andere Pianisten das auch, und das
ist auch nicht der Grund, warum Igor Levit
heute als einer der besten Pianisten seiner
Generation, der Welt, des Jahrhunderts gilt.
Die Musikkritikerin Eleonore Büning,
die in der Branche als Levits „Entdeckerin“
gilt, beschrieb vor zehn Jahren, wie ervor
einem Konzert auf der Busfahrt vom
chinesischen Jinan nach Qingdao zum
Konzertsaal die Partitur des 5. Beethoven-
konzerts auf den Knien hielt und sich die
Noten einverleibte. Er muss Musik erst
schwarz auf weiß lesen, danach kann er sie
weiß auf schwarz ertasten. Man fragt sich
ja immer, wie machen diese Pianisten das?
Blöde Frage, nächste Frage. „Ach, dieses
Auswendigspielbusiness ist doch ein
Schmarrn“, tut Levit ab. Er hasst die Über-
höhung der Kunst und auch des Künstlers,
diese abgehobene Attitüde des Geniali-
schen, des „Wir sind doch nur die friedli-
chen Weltvereiner“. Sind wir nicht!
Klavierspielen ist sein Glück, seit er drei
Jahre alt ist. Die Bühne ist sein Freiheits-
raum. Das Tongedächtnis sein Talent. Zu-
fall, Geschenk. Alles zusammen ist sein Job.
„Es gibt Tage, da bin ich zu müde zum Aus-
wendigspielen, dann stelle ich mir Noten
hin. So what!“ Er stellt dann sein iPad hin,
heißt das. So what. Und wenn er den Job
eines Tages nicht mehr machen könne,
„dann würde mir das nicht den Boden weg-
ziehen“, behauptet er.
Das ist schwer zu glauben, wenn man ihn
live hört. Wie er da im weißen Delinquen-
ten-Hemd und Fridays-for-Future-Anste-
cker über dem Flügel kauert, fast mit der
Nase auf den Tasten, der Rücken ein Buckel-

Der Pianist trägt
Freundschaftsbänd-
chen, gelegentlich
Ringe. Die Pflanzen
im Hintergrund:
Herzblattlilien

B


94 13.2.2020

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