wal. Beethovens Sturmsonate, Opus 31. „Sie
wird plötzlich Wind, dann Ozean, Puls 174,
und alles ist Hast und Panik“, erklärt Levit,
der inzwischen als Hochschulprofessor in
Hannover unterrichtet, in seinem Podcast.
Sein Bein-Ballett, seine Hocker-Tänze
kommen live dazu. Er wirkt am Instrument
nun wie einer, den Tics zu seltsamen Hüp-
fern zwingen. Dabei sind es nur die inne-
ren Monologe, die nach außen drängen und
Einfluss nehmen wollen. Alltag, Streitge-
spräche, Kämpfe. Doch manchmal hält er
mittendrin die Luft an, wird sanft, poetisch
und leise. Dann lächelt er den Tasten des
Steinways zu und entschwebt. All die Hus-
tenarten des Publikums, die er im Laufe sei-
ner Karriere zu unterscheiden gelernt hat,
hört er nicht mehr, den Nervositätshusten,
Krankhusten, Klaustrophobiehusten, Stör-
husten. Er ist nur beim Handyklingeln jetzt
noch aus dem Takt zu bringen – wenn der
Angerufene rangeht.
Als Zugabe spielt er oft „Für Elise“. Wa-
rum? „Weil ich es sehr, sehr liebe. Weil ich
mit dem Stück sehr viel verbinde. Und
unterm Strich: Warum nicht!“ Meistens
wollen die Zuschauer nach seinen Konzer-
ten, dass es immer so weitergehen möge.
Sein Spiel macht uns zu besseren Men-
schen. Gott schütze Igor Levit!
Levit appassionato
Im Herbst 2019 kam seine Beethoven-
Schatulle auf den Markt. 32 Sonaten, Grea-
test Hits. Mondschein, Waldstein, Pathé-
tique. Es sind zehn Stunden feinster Stoff.
Und die technisch anspruchsvollste und
längste unter ihnen ist die Hammerkla-
viersonate. 41 Minuten am Stück, die hat
er drauf, auswendig. Hammerklavier und
Waldsteinsonate sind für Levit Stücke für
die einsame Insel, weil: „seelischer Glücks-
zustand und Tortur“. Er liebt das Gegen-
sätzliche. Deshalb liebt er den Komponis-
ten. Beethoven sei „Geborgenheit und
Gefahr zugleich“. Und er liebt die Gefahr.
Er ist eben auch nur ein stürmischer Mann
von Anfang 30.
Im November hat das 32er-Album sofort
die ersten Plätze der Charts besetzt – vor
Lang Lang und Anne-Sophie Mutter. Die
Zweiunddreißig scheint eine Glückszahl
für Levit zu sein. Er ist – noch bis zum
- März – 32 Jahre alt. Und es war das wohl
erfolgreichste Jahr seiner Karriere; über-
häuft mit Preisen und Auszeichnungen. 32.
Vor Jahren nahm der als pummelig be-
schriebene Jungpianist mit Sport und ku-
linarischer Disziplin in anderthalb Jahren
32 Kilo ab. Danach spielte er schlanker,
muskulöser, er saß anders. Er wurde vom
Igor zum Levit. „Wo ich früher aus dem
Oberkörper heraus spielte, kommt der Ton
jetzt aus der Hüfte“, schwärmte er. Typisch.
Was er macht, macht er richtig.
Der Legende nach versprach bereits der
Achtjährige seiner Mutter, als die Familie
1995 aus dem russischen Nischni Nowgo-
rod (früher: Gorki) nach Hannover emi-
grierte, dass er eines Tages besser Deutsch
sprechen würde als seine Mitschüler. Und
wahrscheinlich war das so. Er spricht heu-
te das wendigste, wortreichste und klars-
te Hochdeutsch, das man angeblich nur in
der Hochburg deutscher Sprache spricht.
Von der Wolga an die Leine. Igor Levit war
drei, als er Pianist wurde, von der Mutter
unterrichtet. Mit drei Jahren bilde sich das
Tongedächtnis, das absolute Gehör. So sa-
gen es die Experten. Mit vier debütierte er
als Solist, mit sechs spielte er ein Händel-
Konzert mit dem Philharmonie-Orchester
seiner damaligen Heimatstadt.
Es kamen in den Neunzigern sehr viele
hochbegabte Kinder als sogenannte „jüdi-
sche Kontingentflüchtlinge“ nach Deutsch-
land. Kleine Geigerinnen und Pianisten.
Aber der Junge Igor war schon damals he-
rausragend. Sie nannten ihn „Das Wunder
von Nischni Nowgorod“.
Und als Eleonore Büning erstmals
schrieb, dass er ein Großer würde, hatte sie
offenbar den richtigen Riecher. Nur, was
heißt „groß“ bei einem so jungen Klavier-
spieler? „Größe ist, wenn einer das Charis-
ma und die Kraft hat, mit seiner Kunst
einzugreifen in das Seelenleben seiner
Mitmenschen, so, dass sie sich frei fühlen,
sich zu verändern“, meint Frau Büning.
Auch Irene Schulte-Hillen, Präsidentin
der „Deutschen Stiftung Musikleben“,
kennt Igor Levit seit langer Zeit. Sie orga-
nisierte Konzerte für ihn, sie reiste mit ihm
und anderen Stipendiaten auf der „MS
Europa“ über die Meere – als „kulturelles
Bordprogramm“. Auch wenn es abgedro-
schen klinge, so Irene Schulte-Hillen,
„neben seiner unfassbaren Fingerfertig-
keit, seinem Fleiß, seiner Leidenschaft –
man spürte in ihm immer auch den gött-
lichen Funken“. Levit ist nicht religiös. Die
Frage, ob er an Gott glaubt, irritiert ihn.
Er wirkte schon damals reifer und älter,
als er tatsächlich war. Nicht nur wegen der
Geheimratsecken. Er war oft nachdenklich,
machte sich Sorgen, dass ihm der Durch-
bruch vielleicht nicht gelänge, weil er Rus-
se war; gebürtiger Russe. Er sei überaus
ehrgeizig gewesen, erinnert sich die Mäze-
nin, doch nie freudlos.
Er konnte sogar Rampensau. Einmal,
beim Auslaufen des Kreuzfahrtschiffs
„ Der Ton kommt
mir jetzt aus
der Hüfte“ 4
13.2.2020 95