Der Stern - 13.02.2020

(singke) #1
Ulrike Posche bekam mit 45 ihr
erstes Klavier und übte ein
einziges Stück. Die „Barcarole“
von Jacques Offenbach. Nachdem
sie es draufhatte, spielte sie nie wieder FOTOS: JENS MEYER/DPA PICTURE-ALLIANCE; F.BOILLOT/ SNAPSHOT-PHOTOGRAPHY

aus Venedig – damals hielt man das noch


für zumutbar –, schlug sie ihm und seinem


Freund, dem Tenor Simon Bode, vor, an Deck


etwas zu spielen, während die 300 Passa-


giere ihre Drinks in der untergehenden


Sonne kippten. Levit schnappte sich ein


„Clavinova“-E-Piano, und dann schmetter-


ten sie auf Höhe des Markusplatzes „’O sole


mio“. Es war „magic“, erinnert sich Irene


Schulte-Hillen. Er war sich für nichts zu


schade. Es war für alle eine unbeschwerte


Zeit. War quirlige Freude, war Hoffnung,


war Zukunft.


Con fuoco, con dolore


Lange her. Er wolle nicht sagen, dass sein


Aggregatzustand heute Wut sei, aber „ich


bin genervt. Ich finde es schwer erträglich,


was in diesem Land passiert. Für meine Ge-


neration ist das nicht mehr erreichbar –


Unbeschwertheit.“ Jan Böhmermann habe


ihm einmal geschrieben: „Wir müssen so


lange kämpfen, bis wir wieder lustig sein


können.“ Und das tut er, kämpfen. Er sei da-


rüber rauer geworden, sagt er, und noch


durchlässiger, als er es eh schon war.


Manchmal wirkt er wie ein Gefangener

seiner täglichen Erschütterungen. „Ich habe


meine Morddrohungen auch auf dem Tisch“,


sagt er fast beiläufig, als wir im Café Condi


an der Alster sitzen. Was sagt man da?


Seltsam, dass wir Bürger nicht alle er-


schrockener, empörter darüber sind, dass


ein Künstler heute Morddrohungen erhält.


In diesem Fall ein Künstler mit jüdischen


Wurzeln. Dass wir nicht mindestens so wü-


tend und kämpferisch dagegen angehen, wie


Igor Levit es mit seiner ganzen Wucht und


seinem Leben tut, wenn er in Interviews auf


die Bedrohung von Bürgermeistern hin-


weist, wenn er gegen die Sprache des Has-


ses, die AfD, den wie Kriechöl sich ausbrei-


tenden Judenhass und den wuchernden


Rassismus in unserem Land anrennt. Fast


täglich redet er darüber in Interviews und


Podcasts, im Fernsehen und im Radio, er


hält Reden, er sitzt in Talkshows und auf


Podien. Er diskutiert mit Luisa Neubauer, mit


Norbert Lammert und Wolfgang Schäuble.


Er feiert den Wahlsieg des türkischstäm-


migen Bürgermeisters seiner Heimatstadt.


Und auf Twitter ist er hyperaktiv. Levit


ist immer mit denen, die er als „die Guten“


ausmacht, mit den Aktivisten, mit Clau-


dia Roth, gegen Joe Kaeser von Siemens,


mit Ronan Farrow vom „New Yorker“, der


den Weinstein-Skandal aufdeckte und die


#MeToo-Debatte auslöste. Und was hat es


ihm gebracht, auf der richtigen Seite zu ste-


hen? Morddrohungen! Wie geht er damit um?


„Ich sage nicht: ‚Kommt her, ihr macht


mir keine Angst‘. Es geht nicht um mich“, er-


klärt Levit, und dabei sprengt sein eindring-


licher Blick fast den Rahmen der Brille,


„es geht um Solidarität. Es geht darum, dass
endlich jemand zur Kenntnis nimmt, was
strukturell in diesem Lande gerade abgeht.“
Es geht zum Beispiel ab, dass der Pianist
neulich in Dortmund ein Konzert unter Poli-
zeischutz spielen musste. Das geht ab! Na-
türlich hat er Angst. Aber nicht, wenn er die
„Pathétique“ spielt. Bühne ist Freiheit. Und
Freiheit, so hat es seine Heldin Nina Simone
einmal formuliert, Freiheit ist „No Fear“.
Auf dem Parteitag der Grünen im Herbst
2018 umarmte ihn Grünen-Chef Robert
Habeck, nachdem er für dessen Parteifreun-
de „Freude, schöner Götterfunken“ gespielt
hatte. Bei einer Fridays-for- Future-Aktion
in Oldenburg gab er Johann Sebastian
Bach auf der Straße. Vier Tage nach dem
Anschlag auf die Synagoge und den Mor-
den von Halle spielte er nachmittags vor
der Neuen Synagoge in Berlin und vor
13 000 Kundgebungsteilnehmern Bachs
Goldberg-Variationen und widmete am
selben Abend seinen Opus-Klassik-Award
den Opfern. Die „New York Times“ nannte
ihn „The Pianist of the Resistance“, Aktivis-
ten nennen ihn „antifa-pianist“. Natürlich
hat er auch als einer der Ersten im Jahr 2018
seinen Echo von 2014 zurückgegeben,
nachdem zwei Rapper ihn mit ihren anti-
semitischen Gstanzln auch bekommen
hatten. Als das Internationale Auschwitz
Komitee im Januar 2020 bekannt gibt, Igor
Levit für „sein Engagement gegen Anti-
semitismus und rechtsextremen Hass“ mit

dem Preis „Gabe der Erinnerung“ auszu-
zeichnen, spielt er zum Dank „Die Moor-
soldaten“ – auf Twitter, auf der Melodika.
Viele seiner Follower kennen das Lied
der Häftlinge aus dem KZ Börgermoor
na türlich nicht und schreiben, er solle
doch lieber wieder schön Klavier spielen.
Überhaupt: Es gibt Musikliebhaber, Abo-
Inhaber, Kritiker, die finden: Muss das denn
sein, dass er so viel schreibt und redet?
Warum überspielt er nicht einfach mit dem
Schönen das Schlimme? „Musik ist kein
Ersatz für gar nichts“, antwortet Levit
mit mühsam unterdrücktem Zorn, „Musik
ist eine Zustandsbeschreibung!“ Und
Eleonore Büning, Beethoven-Expertin, er-
gänzt: „Es gibt keine Kunst, die unpolitisch
ist. Levit ist ein politischer Künstler.“
So viel Böses in seinem Kopf, so viel Müll,
so wenig Schlaf! Manchmal hat der drah-
tige Igor mit den grauen Pullovern „Sehn-
sucht nach leeren Schränken“. Manchmal
träumt er von einer Auszeit. Einfach mal
freimachen, iPhones aus, Freunde treffen,
Eltern, Schwester, Patenkinder, und ame-
rikanische Bücher lesen. Das wär’s! Aber
wohin dann mit der Wut? Mit der inneren
Leere, die er möblieren und aushalten
müsste? Mit den Selbstzweifeln, die ihn
heimsuchen, wenn sein Verunsicherungs-
grad gerade hoch ist?

Finale scherzando


Wie gesagt, nach einem zehrenden Kon-
zert, wenn ihm das Leben da draußen den
Schlaf raubt oder ein Interview zu Ende ist,
erzählt Levit gern seltsame jüdische Witze.
Entlastungswitze. Der, den er bei unse-
rem Treffen im Café abfeuerte, geht so:
Rot und Grün fahren mit dem Zug. Der
hält in Petropawlowsk. Rot schaut aus
dem Fenster und sagt: „Ah, Petropawlowsk.
Hier wird viel gef...ckt.“ Nächster Bahnhof
Alexandrowsk. Rot wieder: „Ja, ja, hier wird
auch viel ...“ Dann Karatschajewsk, Rot
guckt aus dem Fenster, sagt, siehe oben.
Darauf fragt ihn der Grün: „Sag mir, Rot,
wieso kennst du dich so gut aus?“ „Ach
weißt du“, sagt der Rot, „überall auf der Welt
wird viel gef...ckt.“
„Sehen Sie“, sagt der Levit, „das ist das,
woran ich glaube: Überall auf der Welt wird
viel gefickt.“ Lacht kurz auf und zieht dann
seinen markenlosen Rollkoffer ins Hotel,
wo die Wasserhähne vergoldet sind und die
Portiers schöne, rote Livreen tragen.
Er wird das nicht einmal bemerkt
haben. 2

Unter Grünen: Levit und Habeck beim Parteitag
2018 (o.). Nach dem Anschlag von Halle spielte
er Bach vor der Neuen Synagoge in Berlin

„Ich habe meine


Morddrohungen


auch auf dem Tisch“


96 13.2.2020

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