Die Welt - 20.02.2020

(avery) #1

D


ie Welt ist ein Durcheinandertal.
Das war sie wahrscheinlich schon
immer. Nur scheint jeder Gegen-
wart, jeder Generation jenes Tal, in
dem gerade sie zu leben gezwungen
ist, ganz besonders durcheinander. Und jede Ge-
genwart, jede Generation wünscht sich – zur Ori-
entierung, zur Beruhigung – etwas, an dem man
den Stand der Dinge erkennen kann. Einen Über-
blick über jene Geschichten, die erzählt werden,
erzählt werden müssen. Etwas, das man jenen
Menschen in die Hand drücken könnte, die gerade
zehn Jahre auf einer Hütte in den Schweizer Al-
pen zugebracht haben, um ihnen zu sagen: „Du
willst wissen, was läuft? Komm, lies und schau dir
an, von was es erzählt!“
Das gibt es jetzt. Es ist ein Heft. Hundert Seiten
stark. Kostenlos. Das Cover ist wenig einladend,
nüchtern. Die Farben sind Weiß und Rot und
Mauve und Senf. Es verrät – außer vielleicht von
der eher unterausgeprägten Begabung seines De-
signers – beinahe nichts, jedenfalls nichts von sei-

ner wahren Welthaltigkeit. Es ist das Programm-
heft zur 70. Berlinale.
Es versammelt, so Carlo Chatrian, der einer der
Hauptautoren unseres zukünftigen Vademecums
ist und als Künstlerischer Leiter firmiert, „Ge-
schichten über den Menschen in seinem Größen-
wahn, seiner grandiosen Zerbrechlichkeit, mit sei-
nen finsteren Dämonen und unverhofften Er-
leuchtungen“. Es sind – ganz gezählt haben wir sie
jetzt nicht – rund 400 Geschichten über den Men-
schen und die Welt, die in diesem flatterigen Band
erzählt werden. Kurz sind die Geschichten. Fünf
schmale Zeilen im Durchschnitt.
Die Zeichengröße entspricht ungefähr jener der
Thomas-Mann-Taschenbuchausgaben aus den frü-
hen Siebzigern. Das Heft bewegt sich also am Rand
der Gesundheitsgefährdung. Überhaupt muss man
üüüber eine relativ gefestigte körperliche und geisti-ber eine relativ gefestigte körperliche und geisti-

ge Verfassung verfügen, um aushalten zu können,
was da verhandelt wird. „Wenn die eher dunklen
Farben überwiegen“, schickt Chatrian dem „Wett-
bewerb“ überschriebenem Kapitel voran, „mag das
daran liegen, dass die von uns ausgewählten Filme
eher illusionslos auf die Gegenwart blicken – nicht
weil sie Schrecken verbreiten, sondern weil sie uns
die Augen öffnen wollen.“ Tröstlich immerhin
Chatrians Bekenntnis: „Das Vertrauen des Kinos
in den Menschen, dieses leidende, geschundene,
manipulative Wesen, ist ungebrochen – so unge-
brochen, dass es immer wieder ihn als Protagonis-
ten in den Blick nimmt.“
Nun hat die Berlinale – von Ausnahmen abge-
sehen – mit Filmen, die Tiere als Protagonisten in
den Blick nehmen, nicht besonders viel Erfolg ge-
habt. Und dass uns die Augen geöffnet werden
von Geschichten, hoffen wir natürlich bei allen
Filmen, allen Büchern, weil sie mit geschlossenen
AAAugen eher schlecht zu rezipieren sind. Hierugen eher schlecht zu rezipieren sind. Hier
könnte man – was Literaturkritiker ja gern tun –
schon nach dem Lektor rufen.

Bevor wir das tun, zurück zu den Kurzgeschich-
ten und der Welt in ihnen. Es geht zum Beispiel
um einen Flüchtling aus Afrika, der die Berliner
Hasenheide kennenlernt, die Klubs der Stadt und
eine „düstere Odyssee durch die Gegenwart“ ab-
solviert („Berlin Alexanderplatz“), um einen geis-
tig Zerrütteten, der auf einen halluzinatorischen
Trip durch New York geht („The Roads Not Ta-
ken“), um „Menschen, die die Irradiationen von
Krieg überlebt haben“ („Irradiés“, Irradiationen
sind übrigens optische Täuschungen, was die An-
kündigung – Lektor? – ein bisschen rätselhaft
macht), um Familien, die in der explosiven Gesell-
schaft des Speckgürtels von Rom leben („Favolac-
ce“), um eine Frau, die in einem geheimen sowje-
tischen Forschungsinstitut viel trinkt, viel liebt
und in eine „so radikale wie provokative Erzäh-
lung über Gewalt“ schlittert („DAU. Natasha“).
Der Wettbewerb ist dabei durchaus nicht das
extremste Kapitel. „Es herrscht Ausnahmezu-
stand!“ So beginnt der Abschnitt für die Filmju-
gend, „Generation“ heißt er. „Kriegsgebiete, Ge-
sellschaften aus dem Lot, Klimakrise, erste Mens-
truation und Liebe“. Am Ende der Lektüre hat
man jedenfalls, auch ohne nur einen einzigen Film
gesehen zu haben, einen ziemlich feinen Überblick

an jedenfalls, auch ohne nur einen einzigen Film
esehen zu haben, einen ziemlich feinen Überblick

an jedenfalls, auch ohne nur einen einzigen Film

über die Gegenwart der Diskurse. Die Berlinale ist


  • mehr noch als in den Jahren zuvor – das wich-
    tigste Weißtdubescheid-Filmfestival der Welt.
    WWWomit wir jetzt leider – wie angekündigt – einomit wir jetzt leider – wie angekündigt – ein
    bisschen Wasser in den Wein gießen müssen. Um
    die Kurzgeschichten samt der jeweils die Kapitel
    eröffnenden Miniessays zu überstehen, braucht
    man schon ein ziemlich dickes Fell. Man will (üb-
    rigens auch während der Lektüre der Fünfzeiler)
    ständig nach dem Lektor rufen. Oder nach einem
    notfalls algorithmengesteuerten Allgemeinplatz-
    mäher.
    Da wird, statt nüchtern die Handlung vorzu-
    stellen, eine „grandiose Erzählung über die Grau-
    samkeit der Liebe“ angekündigt („Le sel des lar-
    mes“) oder eine „andere Sicht der ,frontier‘ von
    einer großen Regisseurin“ (Kelly Reichardts „First
    Cow“), oder „ein wildes, erstaunlich reiches
    WWWerk“ („Favolacce“ der D’Innocenzo-Brüder),erk“ („Favolacce“ der D’Innocenzo-Brüder),
    oder ein „extremer, notwendiger Film, der mit un-
    nachgiebiger Wucht in Auge und Herz dringt“
    („Irradiés“ von Rithy Panh), oder „die Geschichte
    einer Liebe, mit traumwandlerischer Sicherheit
    inszeniert“(Christian Petzolds „Undine“), oder
    jener Film, mit dem „Jerry Lewis’ Laufbahn als
    ,Total Filmmaker‘“ begann („The Nutty Profes-
    sor“), oder „Die Ehe, die Vorstadt, die Hölle, im
    QQQuébec von 1974“ avisiert (die Serie „C’est commeuébec von 1974“ avisiert (die Serie „C’est comme
    ça que je t’aime“), oder „Kolumbien brennt. Aber
    Kolumbien lebt“ (Camillo Restrepos „Los Con-
    ductos“), oder eine „formal dichte und österrei-


chisch-provokative Einladung ins Reich der virtu-
ellen und psychischen Realität“ (Sandra Wollners
„„„The Trouble With Being Born“). Und besondersThe Trouble With Being Born“). Und besonders
hübsch: „Schwein, Rind, Huhn. Intime Porträts
von Lebewesen, die im Alltag tot auf den Teller
kommen“ (Victor Kossakovskys „Gunda“). Man
kann gar nicht aufhören vorzulesen.J
Das geht schon mit dem ersten Satz des Wer-
kes los. Über den denken Schriftsteller*innen (im
Berlinale-Programm gibt es übrigens deutlich

mehr Sternchen, als es Stars auf dem Festival
gibt) ja gern jahrelang nach. Bei Mariette Rissen-
beek, der Berlinale-Geschäftsführerin, kam dabei
Folgendes heraus: „Die Berlinale und Berlin sind
unzertrennlich.“
Das ist natürlich ausgesprochen beruhigend.
WWWeil die Berlinale sonst umziehen und irgendwoeil die Berlinale sonst umziehen und irgendwo
anders neu anfangen könnte. In Wanne-Eickel
beispielsweise, wo sie dann Wanne-Eickelale hei-
ßen müsste, was ja ganz blöd klingt. „Berlinale Se-
ries“ (für Deutsch-Muttersprachler: Das ist die
Ecke für Fernsehmehrteiler) verheißt „acht außer-
ordentliche Serien“, die sich „trauen“. Neben
Selbstbestimmung und Sex sogar etwas wagen,
das für Filme nie schadet: „Sichtbarkeit“. Das Ka-
pitel der „Berlinale Shorts“ (für Deutsch-Mutter-
sprachler: Das ist die Kurzfilmecke) beginnt mit

der Verheißung: „Von der Mitte des Kinos aus“,
wo immer die sein mag, „bewegt sich der Kurzfilm
in alle Himmelsrichtungen und erkundet neues
Terrain.“ Dem Kapitel „Special“ wird – auch ein
Fest für die Feinde der Überanglisierung der deut-
schen Sprache – folgende Erklärung vorausge-
schickt: „Diese Sektion bietet Filmen eine Bühne,
die ein breites Publikum erobern. Wir nennen sie
,Moving Images‘, weil sie mit ihrer Aussagekraft
und mit bravourösen und mutigen Darsteller*in-
nen die Zuschauer*innen bewegen.“
Besonders tief ins Binsengebiet hat sich Chatri-
an ausgerechnet für die Grundsatzerklärung zu
den „Encounters“ (für Deutsch-Muttersprachler:
„Begegnungen“) gewagt. Das ist der neue, zweite
Berlinale-Wettbewerb, den Chatrian erfunden
hat, und von dem noch keiner weiß, was er eigent-
lich soll: „In dieser Sektion haben wir uns nur von
einer Regel leiten lassen: Die vorrangigen Krite-
rien sind Mut und die Suche nach einer neuen
Sprache, wenn auch durchaus mit Anleihen an die
VVVergangenheit.“ ergangenheit.“
AAAbgesehen von der stilistischen Holzigkeit die-bgesehen von der stilistischen Holzigkeit die-
ser Sätze – Mut und die Suche nach einer neuen
Sprache erwartet man natürlich auch von allen
Filmen im eigentlichen Wettbewerb. Würden sie
nicht davon geprägt sein, müssten sie von vornhe-
rein raus sein aus dem Bären-Rennen. Die Not-
wendigkeit eines zweiten Wettbewerbs erklärt
dieses fadenscheinige Grundgesetz nicht einmal
ansatzweise.
Vielleicht wissen wir in anderthalb Wochen
mehr. Über den Menschen, die Welt und den
WWWettbewerb. Besser Englisch können wir dannettbewerb. Besser Englisch können wir dann
ganz bestimmt auch.

Im KINO


gelesen, geweint


Selten war ein so schmales Werk so welthaltig wie das


Programmheft der Berlinale. Was sagt es uns über das Festival, das


heute eröffnet wird? Eine Stilkritik von Elmar Krekeler


21



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DIE WELT DONNERSTAG,20.FEBRUAR2020 SEITE 21

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O


ptimistisch, selbstbewusst
und unkompliziert: Dies wa-
ren willkommene Eigenschaf-
ten einer jungen Schauspielerin, die
1 950 die Herzen des deutschen Kino-
publikums eroberte. Ein Publikum, das
nach den Stars der NS-Zeit neue, un-
verbrauchte Gesichter auf der Lein-
wand sehen wollte. Die junge Sonja
Ziemann erfüllte dieses Bedürfnis auf
beinah idealtypische Art.

VON FRIEDEMANN BEYER

Ihren Durchbruch errang die 24-Jäh-
rige 1950 mit Hans Deppes „Schwarz-
waldmädel“. Die vierte Verfilmung der
Erfolgsoperette von Leon Jessel sahen
1 6 Millionen Zuschauer in Ost und
WWWest, eine Hymne auf die unversehr-est, eine Hymne auf die unversehr-
ten Landschaften des Schwarzwaldes
und der Auftakt für die Heimatfilm-
welle. Sonja Ziemanns ebenso lebens-
fffrohes wie etwas einfältiges Fräuleinrohes wie etwas einfältiges Fräulein
Bärbele Riederle war der Gegenent-
wwwurf zur urbanen Revuetänzerin Mal-urf zur urbanen Revuetänzerin Mal-
wine, gespielt von Gretl Schörg, die im
Film mit ihrer aufreizenden Art den
Männern den Kopf verdreht. Doch das
verfängt nicht bei dem Maler Hans
Hauser, gespielt von Rudolf Prack.
AAAls „Schwarzwaldmädel“ entstand,ls „Schwarzwaldmädel“ entstand,
war Prack bereits 47 – ein Altersunter-
schied von 23 Jahren zu der 1926 in
Eichwalde bei Berlin geborenen Zie-
mann. Ihr Vater war Steuerberater, die
Eltern gehörten dem aufstrebenden
Bürgertum an. „Immer wenn die Fami-
lie zusammenkam, wurde musiziert
und deklamiert“, erinnerte sich Sonja
Ziemann an ihre sorglose Kindheit.
Einen wesentlichen Beitrag dazu
leistete wohl Ziemanns Vater, mit dem
sie sich auf besondere Art verbunden
fffühlte. Eine Prägung, mitverantwort-ühlte. Eine Prägung, mitverantwort-
lich dafür, dass Ziemann mit ihrem vä-
terlichen Filmpartner Prack so perfekt
harmonierte. Eine Gefühlskonstellati-
on, mit der sich Millionen von Frauen
in den Nachkriegsjahren identifizier-
ten, deren Väter oder Ehemänner im
Krieg gefallen waren oder in Gefange-
nenlagern saßen.
Bei der Besetzung des Schwarzwald-

mädels gab es zunächst Vorbehalte ge-
gen Sonja Ziemann, die ihr Berliner
Idiom nicht verbergen konnte. Ein De-
fffizit, das sie durch Sprachtraining be-izit, das sie durch Sprachtraining be-
hob und das ihr einziges blieb. Für sie
sprachen: ihr entwaffnendes Lachen,
ihr Silberblick und ihre Anmut beim
Tanzen. Debütiert hatte sie 1941 als Re-
vvvue-Tänzerin im Berliner Kabarett derue-Tänzerin im Berliner Kabarett der
Komiker, wenig später wurde sie von
der Ufa-Nachwuchsschule aufgenom-
men. Dies ebnete ihr den Weg zum
Film, wo sie Töchter oder „Backfische“
spielte, so 1942 in Walter Felsensteins
„Ein Windstoß“, aber auch in Erich
WWWaschnecks Komödie „Eine reizendeaschnecks Komödie „Eine reizende
Familie“ von 1944, in der sie als ältestes
von sieben Kindern eines elternlosen
Haushalts Pflichten und Verantwor-
tung für ihre jüngeren Geschwister
üüübernimmt: kokett, mit Sexappeal undbernimmt: kokett, mit Sexappeal und
etwas Babyspeck, doch überaus selbst-
sicher und präsent. Waschnecks Film,
kurz vor Kriegsende entstanden, wirkt
wie ein Vorgriff auf die Familienfilme
der Fünfzigerjahre mit ihren beschä-
digten Strukturen.
Um eine dysfunktionale Familie und
die Folgen von Flucht und Vertreibung
ging es auch 1951 in Hans Deppes
„Grün ist die Heide“, dem nächsten
Coup des Paares „Zieprack“. Mit 19
Millionen Zuschauern übertraf er noch
den Erfolg von „Schwarzwaldmädel“.
AAAus dessen Folklorefigur war in demus dessen Folklorefigur war in dem
Heidefilm eine aufrechte, junge Frau
im Konflikt zwischen zwei Männern
geworden: ihrem Vater, der aus Gram

üüüber die verlorene Heimat zum Wilde-ber die verlorene Heimat zum Wilde-
rer geworden ist, und Rudolf Prack als
jungem Förster, der dem Wilderer auf
den Spuren ist und in den sie sich ver-
liebt. Sie löst den Konflikt, indem sie
die Liebe opfert und mit ihrem Vater
in die Stadt zieht, um ihn vor sich
selbst und vor der Strafe zu schützen.
Der Förster verzichtet dafür auf eine
Anzeige. Auf einem Dorffest tanzt sie
ein letztes Mal mit ihm – ernst, fast fei-
erlich. Eine komplexe Rolle, die Sonja
Ziemann souverän bewältigte.
Mit ihrem Image als nettes Mädel
von nebenan brach sie Ende der Fünf-
zigerjahre. 1958, in dem deutsch-polni-
schen Sozialdrama „Der achte Wo-
chentag“ von Aleksander Ford, spielt
sie eine junge Frau an der Seite ihres
Freundes (Zbigniew Cybulski, Polens
James Dean) im Kampf um einen pri-
vaten Rückzugsort, was angesichts
schreiender Wohnungsnot im halb zer-
störten Warschau ein Ding der Un-
möglichkeit bleibt. Ford entwirft ein
trostloses Panorama der polnischen
Nachkriegsgesellschaft, bevölkert von
AAAlkoholikern, Ausgestoßenen und Auf-lkoholikern, Ausgestoßenen und Auf-
schneidern, vor dem sich die Parolen
vom Aufbau des Sozialismus wie Hohn
ausnehmen. Zerstreuung sucht das
Paar in Jazzkellern, in denen es exis-
tenzialistischen Typen begegnet. Eine
Art provisorische Privatheit findet es
in der Möbelabteilung eines Warschau-
er Kaufhauses, in das es sich nachts
einschließen lässt. Ohne Wehleidig-
keit, sondern aufrechten Ganges wi-
dersteht Sonja Ziemann in diesem vom
italienischen Neorealismus beeinfluss-
ten Film den Zumutungen des Alltags
und erinnert in ihren besten Momen-
ten an die couragierte Haltung einer
Anna Magnani.
„Der achte Wochentag“ entstand
nach einer Erzählung des jungen polni-
schen Autors Marek Hlasko, einer Art
Popstar der polnischen Nachkriegsli-
teratur, der mit seinen nihilistischen
Texten ein scharfer Kritiker des von
der Sowjetunion diktierten polnischen
WWWeges in den Sozialismus war. Hlaskoeges in den Sozialismus war. Hlasko
und Ziemann lernten sich bei den
Dreharbeiten des von Artur Brauner
produzierten Films kennen
und heirateten 1961. Es war
Ziemanns zweiter Versuch,
privates Glück zu finden,
nachdem ihre Ehe mit ei-
nem Wiesbadener Strumpf-
fffabrikanten gescheitert war.abrikanten gescheitert war.
VVVon ihm stammte auch Zie-on ihm stammte auch Zie-
manns einziger Sohn Pier-
re, der an einem Knochen-
marktumor erkrankte und
mit nur 16 Jahren starb. Ei-
nen Schatten auf Ziemanns
Privatleben warf auch die
VVVerbindung zu Hlasko, dererbindung zu Hlasko, der
unter den berufsbedingten
Trennungen von seiner
Frau und zunehmender literarischer
Erfolglosigkeit litt, dem Alkohol verfiel
und 1968 an einer Überdosis Schlaftab-
letten starb, zwei Jahre bevor sie ihren
Sohn verlor. Hinter ihrem Charme, ih-
rer graziösen Leichtigkeit verbarg sich
auch eine Preußin mit eiserner Diszip-
lin.
Neben Charakterrollen wie in Frank
Wisbars „Nacht fiel über Gotenhafen“
(((1959) als Protagonistin des Dramas1959) als Protagonistin des Dramas
um den Untergang der „Wilhelm Gust-
loff“ in den letzten Kriegstagen trat
Sonja Ziemann zunehmend in interna-
tionalen Produktionen auf, so neben
Richard Widmark in dem Spionage-
thriller „Geheime Wege“ (1960) oder
in dem Kriegsfilm „Die Brücke von Re-
magen“ (1969). Außerdem forcierte sie
ihre Bühnenkarriere, spielte jahrelang
die weiblichen Hauptrollen in „My Fair
Lady“, „Lulu“ und „Endstation Sehn-
sucht“. Anders als an manchen Kolle-
ginnen, wie Luise Ullrich oder Anne-
marie Düringer, hatte der Neue Deut-
sche Film kein Interesse an Sonja Zie-
mann. Welches Talent wurde da igno-
riert! Wie gut hätte man sich Ziemann
etwa bei Fassbinder vorstellen können,
der bekanntlich ein Faible für die gro-
ßen Schauspielerinnen der Fünfziger-
jahre hatte.
Nach dem Tod ihres dritten Ehe-
manns, des Schauspielers Charles Reg-
nier, zog sich Sonja Ziemann ins Pri-
vatleben zurück, lebte in St. Moritz
und zuletzt in München, wo sie am
Montag starb. Sie wurde 94 Jahre alt.

Sonja Ziemann und Rudolf Prack im Schwarzwald

DPA / PICTURE-ALLIANCE / UNITED ARCHIVES/ IFTN

Mutter Heimat


„Schwarzwaldmädel“ und Gesicht des deutschen


Nachkriegsfilms: Zum Tod von Sonja Ziemann


Karneval und Coronavirus:


Eine Anleitung Seite 22


Brauchtum


„Berlin Alexanderplatz“ von Burhan Qurbani
„DAU. Natasha“ von Ilya Khrzhanovskiy und
Jekaterina Oertel
„Domangchin yeoja” von Hong Sangsoo
„Effacer l'historique“ von Benoît Delépine und
Gustave Kervern
„El prófugo“ von Natalia Meta
„Favolacce“ von Damiano und Fabio D‘Inno-
cenzo
„First Cow“ von Kelly Reichardt
„Irradiés“ von Rithy Panh
„Le sel des larmes“ von Philippe Garrel
„Never Rarely Sometimes Always” von Eliza
Hittman
„Rizi“ von Tsai Ming-Liang
„The Roads Not Taken“ von Sally Potter
„Schwesterlein“ von Stéphanie Chuat und
Véronique Reymond
„Sheytan vojud nadarad“ von Mohammad
Rasoulof
„Siberia“ von Abel Ferrara
„Todos os mortos” von Caetano Gotardo und
Marco Dutra
„Undine“ von Christian Petzold
„Volevo nascondermi” von Giorgio Diritti

Die wichtigsten Filme der Berlinale

„DAU. Natasha“ wurde gedreht von Ilya Khrzha-
novskiy und Jekaterina Oertel

PHENOMEN FILM

JJJella Haase und Welket Bungué als Mieze und Franzella Haase und Welket Bungué als Mieze und Franz
B. in Burhan Qurbanis „Berlin Alexanderplatz“

2 019 SOMMERHAUS/EONE GERMANY

„El prófugo“ heißt der Wettbewerbsbeitrag der
Argentinierin Natalia Meta

PICNIC PRODUCCIONES SRL

Sally Potters neuer Film „The Roads Not Taken“
läuft im Wettbewerb

DPA

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