Süddeutsche Zeitung - 20.02.2020

(Sean Pound) #1
Der Kultur- und Freizeit-Service
mit Tipps vom 20. bis 26. Februar

Meinung


Im Streit mit Polen und Ungarn


verzichtet die EU leichtfertig


auf wirksame Sanktionen 4


Politik


Der anhaltende Machtkampf


in Afghanistan gefährdet die


Abzugspläne der USA 6


Panorama


Prado-Besucher lieben das Bild der


Infantin Margarita. Kaum bekannt


ist deren trauriges Ende 8


Feuilleton


Das neue Album


von Ozzy Osbourne


ist altersgerecht niedlich 9


Wirtschaft


Ist es eine gute Idee, angesichts


niedriger Zinsen in Gold


zu investieren? 16


Medien, TV-/Radioprogramm 25,
Forum & Leserbriefe 13
Kino · Theater im Lokalteil
Rätsel 25
Traueranzeigen 21


Corona unterwegsReedereien ziehen ih-
re Schiffe aus Asien ab, Flughäfen stellen
Desinfektionsmittel zur Verfügung, Hafen-
behörden üben den Notfall: Was getan
wird, um Urlauber zu schützen.  Seite 28

Die AfD in Deutschland, die FPÖ in Öster-
reich oder die Cinque Stelle in Italien: In
vielen Staaten sind in den vergangenen
Jahren neue Anti-Establishment-Partei-
en entstanden, mal eher links, meistens
weit rechts. Sozialwissenschaftler rät-
seln, was hinter dem Aufstieg all der neu-
en Wutbewegungen steht. Ist es die Sorge
um den ökonomischen Wohlstand, die
Menschen das Kreuz bei den Populisten
und Extremisten machen lässt? Oder spie-
len eher kulturelle Aspekte eine Rolle, ist
die Wahl Ausdruck des Haders vieler
Menschen mit dem kosmopolitischen Ge-
schmack der Großstädter und ihren neu-
en Geschlechternormen?
Die eine Antwort hat die Forschung
nicht gefunden und wird sie vielleicht nie
finden. Zwei Wissenschaftler lenken in
einer im renommiertenEuropean Jour-
nal of Political Researcherschienenen
Studie nun aber die Aufmerksamkeit auf
eine ungewöhnliche Erklärung: Auch der

Ausbau des schnellen Internets könnte
den Aufstieg der AfD begünstigt haben,
langsames Netz hätte die Populisten
gebremst, ein wenig zumindest.
Am Tag, als Donald Trump gewählt
wurde, erzählt Max Schaub, Politologe
am Wissenschaftszentrum Berlin, sei ihm
die Idee zu der Untersuchung gekommen.
„Weil Online-Medien für seinen Sieg eine
so große Rolle gespielt haben“, sagt er.
Etablierte Zeitungen und TV-Stationen
überzieht Trump mit wütenden Tiraden,
zu seinen Anhängern spricht er seit jeher
bevorzugt über Twitter. Auch der Erfolg
von Cinque-Stelle-Gründer Beppe Grillo
begann im Netz, mit einem Politblog. Die
Online-Welt ist für Populisten so wichtig,
weil sie mit ihren radikalen Positionen

und mitunter kruden Theorien in den
klassischen Medien eher kritisch er-
wähnt werden. Und weil sie sich im Netz
an den herkömmlichen Instanzen vorbei
als Anti-Establishment-Bewegung insze-
nieren können. „Es ist plausibel, wenn Po-
pulisten ihre Kritik am Mainstream bevor-
zugt über die sozialen Medien verbrei-
ten“, sagt Schaub.
Zusammen mit seinem Co-Autor Davi-
de Morisi wertete er Wahlumfragen aus
Deutschland und Italien aus. Wer sich vor-
rangig übers Netz informierte, neigte
eher dazu, Populisten zu wählen – entwe-
der die AfD oder in Italien die Cinque Stel-
le. Die Frage war nun: Suchen die Anhän-
ger dieser Parteien bloß bevorzugt im
Netz nach Informationen – oder ver-

schiebt das Internet tatsächlich die politi-
sche Einstellung der Menschen?
Die Forscher ordneten den Angaben
der Befragten daher Daten zur Netzabde-
ckung des jeweiligen Ortes zu – in beiden
Ländern sind die regionalen Unterschie-
de groß. Und siehe: Wo es bereits schnel-
les Internet gab, nutzten es mehr Men-
schen, um sich politisch zu informieren –
und mehr von ihnen machten anschlie-
ßend ihr Kreuz bei populistischen Partei-
en. Deren Wahlergebnisse verbessern
sich mit der Übertragungsrate im Kabel –
wenn auch in moderatem Ausmaß.
Und nun? Den Breitband-Ausbau
stoppen, zurück zum ISDN-Modem? Das
wäre der falsche Schluss, findet Schaub.
„Aber die anderen Parteien sollten das
Netz nicht kampflos den Populisten über-
lassen.“ Bei Facebook folgen der AfD
derzeit mehr als 500 000 Abonnenten –
das schaffen CDU und SPD nicht mal
zusammen. bernd kramer

von jan bielicki
und antonie rietzschel

Leipzig/München– In Thüringen wächst
der Druck auf die CDU, entweder eine rot-
rot-grüne Minderheitsregierung oder
schnelle Neuwahlen zu ermöglichen. „Wer
keine Neuwahlen will, muss Bodo Rame-
low zu einer Mehrheit im Landtag verhel-
fen“, rief die frühere CDU-Ministerpräsi-
dentin Christine Lieberknecht am Mitt-
woch in Erfurt ihre Partei dazu auf, dem Ex-
Regierungschef der Linken wieder zurück
ins Amt zu verhelfen. Zuvor hatte sie es ab-
gelehnt, das Land an der Spitze einer Über-
gangsregierung bis zu Neuwahlen zu füh-
ren. „Ich bin aus der Debatte raus“, sagte
sie derThüringer Allgemeinen. Der Wider-
spruch mit der CDU, die keine schnellen
Neuwahlen wolle, lasse sich nicht auf-

lösen, begründete Lieberknecht ihren
Rückzug. Ihre Parteifreunde forderte sie
auf, eine „verlässliche parlamentarische
Vereinbarung mit der Linken“ zu schlie-
ßen, die nicht nur Ramelows Wahl zum Mi-
nisterpräsidenten sicherstellen, sondern
ein „dauerhaft verlässliches Regierungs-
handeln ermöglichen“ müsse.
Erst 36 Stunden zuvor hatte Ramelow ih-
ren Namen ins Spiel gebracht und eine
technische Übergangsregierung unter Füh-
rung der CDU-Politikerin als möglichen
Weg aus Thüringens Regierungskrise vor-
geschlagen. Flankiert von drei Ministern
solle sie das Land bis zu Neuwahlen inner-
halb von 70 Tagen regieren, so Ramelows
Plan, dem Lieberknecht zugestimmt hatte.
Nominell führt derzeit der FDP-Politiker
Thomas Kemmerich die Regierungsge-
schäfte, der sich vor zwei Wochen mit Stim-

men auch der CDU und der AfD zum Minis-
terpräsidenten hatte wählen lassen.
Die Landtags-CDU lehnte Ramelows
Vorschlag jedoch ab. Ihr Gegenangebot:
Lieberknecht solle als Chefin einer Exper-
tenregierung den Haushalt 2021 festklop-
fen, erst danach, frühestens im Herbst, sol-
le neu gewählt werden. Doch das wollte
Lieberknecht nicht: Sie hätte nur für „die
Lösung von Bodo Ramelow“ zur Verfü-
gung gestanden, erklärte sie und wandte
sich damit gegen ihren alten Rivalen Mike
Mohring, den sie 2009 im parteiinternen
Rennen um die Nachfolge von Ministerprä-
sident Dieter Althaus geschlagen hatte.
In den Verhandlungen mit Linken, SPD
und Grünen, die am Mittwoch fortgesetzt
wurden, stecken die Christdemokraten
nun in einem Dilemma: Entweder stim-
men sie einer Auflösung des Landtages

und baldigen Neuwahlen zu oder sie unter-
stützen Rot-Rot-Grün unter Ramelows
Führung. Beides wäre schädlich für sie.
Die Zustimmungswerte der CDU haben
sich Umfragen zufolge halbiert. Und ein Un-
vereinbarkeitsbeschluss der Bundes-CDU
verbietet ihr nicht nur, sich mit der AfD ein-
zulassen, sondern auch, die Linken zu un-
terstützen.
CDU-Fraktionschef Mike Mohring er-
neuerte seine Kritik an dieser strikten Fest-
legung: „Wir kreisen immer wieder um die-
se Frage“, sagte er am Mittwoch. In der
Fraktion schwindet jedoch sein Rückhalt.
Mehrere CDU-Abgeordnete hatten gefor-
dert, er solle am Mittwoch die Vertrauens-
frage stellen. Doch dazu kam es während
der mehrstündigen Fraktionssitzung
nicht, Mohring bleibt bis Anfang März im
Amt.  Seiten 4 und 5

Budapest– Ungarns rechtsnationaler Mi-
nisterpräsident Viktor Orbán verlangt von
der Europäischen Volkspartei (EVP) eine
Debatte über deren zukünftige Ausrich-
tung. Die Mitgliedsparteien der EVP soll-
ten in ihren Ländern nicht nur mit der Lin-
ken, sondern auch mit rechten Kräften zu-
sammenarbeiten und Koalitionen bilden
können. Die EVP, der auch CDU und CSU
angehören, nicht aber Orbáns Partei Fi-
desz, unterscheide sich kaum noch von
linksliberalen Parteien.dpa  Seite 7

Mittwoch-Lotto(19.2.2020)
Gewinnzahlen:3, 7, 11, 22, 27, 42
Superzahl: 7
Spiel 77: 5148904
Super 6:6 4 1 6 3 1 (Ohne Gewähr)

Berlin– Deutschlands Beitrag zu einer EU-
Mission zur Überwachung des Waffenem-
bargos im Libyen-Konflikt ist gefährdet.
Von den Fregatten und Korvetten der Bun-
desmarine sind nach Informationen der
Süddeutschen Zeitungderzeit nur wenige
vollständig einsatzbereit.sz  Seite 6

Frankfurt– Bei der Europäischen Zentral-
bank gibt es nach SZ-Recherchen Unge-
reimtheiten bei der Praxis, dass Manager
ihre Ehepartner auf Kosten der Notenbank
mit auf Geschäftsreisen nehmen. Insbeson-
dere zwei Direktoren haben davon viel Ge-
brauch gemacht. zyd  Wirtschaft

Brüssel– Die Europäische Kommission
hat am Mittwoch ihre Strategie zur „Gestal-
tung der digitalen Zukunft Europas“ vorge-
stellt. Dazu gehören Ideen, wie Daten in
der EU besser geteilt und genutzt werden
können, um Innovationen zu fördern, so-
wie ein Diskussionspapier über künstliche
Intelligenz. kmb  Wirtschaft

London– Die britische Wirtschaft werde
in Zukunft „auf billige Arbeitskräfte aus
Europa verzichten müssen“ – das ist die
Botschaft von Innenministerin Priti Patel,
die am Mittwoch in London ein neues
Einwanderungsgesetz vorlegte. Nach der
Brexit-Übergangsphase, die noch bis Ende
2020 dauert, soll ein Punktesystem in
Kraft treten, das vor allem Fachkräften
Zugang zum britischen Arbeitsmarkt
gewährt und Ungelernte, Hilfskräfte und
alle, die wenig Englisch sprechen, von der
Zuwanderung weitgehend ausschließt.
Die 3,2 Millionen EU-Bürger, die sich
bereits im Land befinden, sollen als
Arbeitskräfte bleiben dürfen, außerdem
wurde die Quote für Saisonkräfte in der
Erntezeit erhöht. Mit dem Gesetz wird es
für allem für Servicekräfte, Bauarbeiter

und selbständige Handwerker aus der EU,
die bisher einen Teil der Neuzuwanderer
ausmachten, schwerer, sich ein Leben im
Königreich aufzubauen. Fachkräfte müs-
sen künftig ein Jobangebot und ein Gehalt
von mindestens 30 000 Euro jährlich vor-
weisen; in besonders gesuchten Berufen
ist das Mindesteinkommen niedriger.
Die Innenministerin sagte, dies sei ein
„historischer Moment für unser Land. Wir
beenden die Freizügigkeit, bekommen die
Kontrolle über unsere Grenzen zurück und
geben den Menschen, was sie wollten: ein
Einwanderungsrecht, das die Einwande-
rungszahlen reduziert“. Unternehmen, die
sich bisher auf Arbeitskräfte aus dem Aus-
land verlassen hätten, müssten sich „an-
passen und verändern“ und in Produktivi-
tät, neue Technologien und Automatisie-

rung investieren. Außerdem, so Patel, müs-
se ein Teil der etwa acht Millionen Briten,
die entweder arbeitslos seien oder keiner
Arbeit nachgingen, in den Arbeitsmarkt
integriert und geschult werden, um die
Jobs derer zu übernehmen, die nun nicht
mehr kommen dürfen.
Obwohl das Ziel der Reform bekannt ge-
wesen war, reagierten viele Unternehmer
und Verbände entsetzt. Der Chef der Föde-
ration für die Rekrutierung von Arbeits-
kräften, Tom Hadley, sagte, was die Regie-
rung „schlecht ausgebildet“ nenne, seien
in Wirklichkeit jene Kräfte, welche die
Wirtschaft dringend brauche. In Großbri-
tannien arbeiten in der Gast- und Land-
wirtschaft, im Gesundheitswesen und auf
dem Bau besonders viele Ausländer. Die
Chefin des Industrieverbandes, Carolyn

Fairbairn, begrüßte, dass die Deckelung
der Visazahl für Fachkräfte aufgehoben
werde. Aber viele Firmen fragten, wo sie
„jetzt noch Leute herbekommen sollen“.
Besonders große Sorge herrscht im
Gastgewerbe. Die Fastfood-Kette „Pret a
Manger“ hatte vor zwei Jahren darauf hin-
gewiesen, dass nur einer von 50 Bewer-
bern auf eine freie Stelle ein Brite sei. Kriti-
siert wurde auch, dass das neue System
schon in zehn Monaten in Kraft treten soll,
sodass wenig Zeit für Ausbildung und Fort-
bildung von Arbeitnehmern bleibe, die be-
reits im Land sind. Die Einwanderungsfra-
ge hatte das Brexit-Votum 2016 dominiert.
Konservativ geführte Regierungen hatten
die Senkung der „Nettoeinwanderung“
versprochen, diese Zusage aber nie gehal-
ten. cathrin kahlweit  Seite 4

Xetra Schluss
13789 Punkte

N.Y. Schluss
29348 Punkte

22 Uhr
1,0804 US-$

Die letzten Vorbereitungen laufen, bevor am Donnerstagabend die 70. Berlinale eröffnet. Deutschlands wichtigstes Filmfestival
stellt unter der neuen Leitung von Carlo Chatrian und Mariette Rissenbeek anspruchsvolle Filmkunst in den Mittelpunkt. Stars auf
dem roten Teppich sollen diesmal weniger wichtig sein, aber für den Eröffnungsfilm „My Salinger Year“ wird immerhin Sigourney
Weaver erwartet und die heiß gehandelte Newcomerin Margaret Qualley. FOTO: BRITTA PEDERSEN / DPA  Feuilleton

HEUTE


Die SZ gibt es als App
für Tablet und Smart-
phone: sz.de/zeitungsapp

Meist bewölkt mit wenig Wolkenlücken. Re-
gen und Nieselregen ziehen in Richtung Os-
ten, in höheren Lagen kann es auch schnei-
en. Abends von Nordwesten her Regen, an
der Nordsee Sturmböen. Sechs bis 13 Grad
werden erreicht.  Seite 13 und Bayern

Im Netz der Populisten


Schnelles Internet begünstigt den Aufstieg von Scharfmachern


Marine-Einsatz vor


Libyen fraglich


Großzügige Privilegien


für EZB-Direktoren


EU schlägt Regeln für


künstliche Intelligenz vor


Lieberknecht will nicht antreten


Die frühere Thüringer CDU-Ministerpräsidentin fordert von ihrer Partei, stattdessen


eine rot-rot-grüne Minderheitsregierung unter Bodo Ramelow zu unterstützen


Großbritannien erschwert Zuwanderung


Nur noch qualifizierte und Englisch sprechende Arbeitskräfte sollen ins Land kommen. Die Wirtschaft reagiert besorgt


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Maden und Fäulnis: Der Handel mit verdorbenen Eiern Die Seite Drei


Zeit der Bären


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Orbán will EVP


nach rechts rücken


Ungarns Ministerpräsident fordert
Neuausrichtung der Parteienfamilie

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(SZ) Karl Lagerfeld,der vor einem Jahr ge-
storben ist, war für seinen scharfen Witz
bekannt. Manche seiner Bonmots waren be-
rühmter als seine Modeentwürfe. Es wäre
schön, wenn Lagerfeld noch immer auf
dem ewigen Laufsteg daherspaziert käme.
Noch schöner wäre es zu hören, was er zu
dem sagen würde, was seine Freundin Patri-
cia Riekel neuerdings über ihn in die Welt
flüstert. Die ehemalige Chefredakteurin
derBuntenhat nämlich herausgefunden,
dass der große Fächler, Couturier und
Menschenverschönerer Karl Lagerfeld,
jetzt kommt’s: ein Ästhet war! Bislang hat-
ten sich nämlich viele hinter vorgehaltener
Hand gefragt: Ob der Karl wohl einen Sinn
für Schönheit hatte? Ob er wohl etwas mit
Design, ja vielleicht sogar mit feinen Kla-
motten anfangen konnte? Weil Patricia Rie-
kel ihn sehr gut kannte und immer genau
hingeschaut hat, ist es jetzt offiziell: Karl
Lagerfeld war ein Ästhet. Wann kommt
wohl jemand mit der Nachricht, Beethoven
sei ein Melodien-Aficionado gewesen?
Patricia Riekel und Karl Lagerfeld waren
Freunde, und zwar jene Art Freunde, die
sich mit dem Vornamen und „Sie“ anspre-
chen – das ist der legendäre Sprachcode der
Ästheten. Der geht dann so: „Karl, finden
Sie nicht auch, dass die Bücher in Ihrem Re-
gal sehr geschmackvoll angeordnet sind?“
Lagerfeld, stilvoll nickend: „Sie haben ei-
nen unbestechlichen Blick, Patricia.“ Viel-
leicht hat er als Kunstliebhaber aber auch
nur etwas Ähnliches gesagt wie der
berühmteste Galerist des Rheinlandes,
Alfred Schmela, als er Joseph Beuys ent-
deckte: „Dat is jute Kunst.“ Ästheten brau-
chen nicht viele, sie benötigen nur ausge-
sprochen schöne Worte.
Nun spricht es nicht unbedingt gegen Pa-
tricia Riekels Ästhetik des Ästhetizismus,
wenn abseits von Mode, Kunst, Musik und
Literatur immer häufiger auch von der Äs-
thetik des Fußballs die Rede ist. Und zwar
schlichtweg deshalb, weil ein Pass von Toni
Kroos so präzise auf dem Fuß eines Mitspie-
lers landet wie das Messer eines ästhetisch
geschulten Chirurgen auf der Halsschlag-
ader des Patienten. Es gibt eine Ästhetik der
Fußgängerzonen, weil dort Blumenwannen
wie Farbtupfer auf einem Karl-Lagerfeld-
Kleid durchkomponiert werden. Die Ästhe-
tik des Kochens ist inzwischen in die Premi-
umklasse der Ästhetik überhaupt aufgestie-
gen, weil grüne Erbsen neben roten Toma-
ten und gelbem Mais auf dem Teller wie ein
Frühwerk von Paul Klee aussehen. Aber das
ist natürlich geeignet, die Geschmäcker zu
verwirren und somit das Gegenteil dessen
zu erreichen, was in Karl Lagerfelds ästheti-
schem Wollen lag. Im Augsburger Textil-
und Industriemuseum zeigen sie jetzt Fo-
tos, auf denen Karl Lagerfeld selbst abge-
lichtet ist. Da gibt es sogar eins von seinen
Händen, ähnlich wie bei Albrecht Dürer, der
ja auch ein Meisterklasse-Ästhet war. Mit
Händen kann man malen, schneidern und
sich, angesichts der vielen Ästheten-
lamenti, auch mal an den Kopf fassen.


DAS WETTER



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