Süddeutsche Zeitung - 20.02.2020

(Sean Pound) #1
von juliane liebert

A


m Ende wird Burhan Qurbani ein
bisschen nervös, weil er gerne rau-
chen möchte. Alle Fragen sind beant-
wortet, jemand hat ihm einen Aschenbe-
cher auf den Tisch im Büro gestellt, aber er
ist zu höflich, tatsächlich drinnen zu rau-
chen. Der Aschenbecher bleibt unberührt.

Der gebürtige Rheinländer, Sohn afgha-
nischer politischer Flüchtlinge, ist einer
der vielversprechendsten deutschen Regis-
seure. Sein Abschlussfilm an der Filmhoch-
schule, „Shahada“ lief 2010 im Wettbe-
werb der Berlinale, da war er noch Student.
2014 erschien „Wir sind jung. Wir sind
stark.“, ein Spielfilm über die Ausschreitun-
gen in Rostock-Lichtenhagen. Dieses Jahr
läuft seine Adaption von Alfred Döblins
„Berlin Alexanderplatz“ als einer von zwei
deutschen Filmen im Wettbewerb um den

Goldenen Bären. Sie spielt im Hier und
Jetzt, im Drogenmilieu der Hasenheide.
Sein Franz Biberkopf heißt jetzt Francis. Er
wird von Welket Bungué gespielt. Francis
ist „Zufluchtsuchender“, wie Qurbani sagt,
ein langes, sehr deutsches, merkwürdig
tröstliches Wort: Zuflucht. Im Duden defi-
niert als „Ort, jemand, den man in der Not
aufsucht, um Schutz, Hilfe zu bekommen;
Sicherheit (für einen Verfolgten, in Not Ge-
ratenen). Beispiel: ,Du bist meine Zu-
flucht‘.“ Francis kommt nach Deutschland,
um Zuflucht zu finden. Er will gut sein –
wie sein Vorbild Franz Biberkopf.
„Ich hab an der Hasenheide gewohnt.“
erzählt Qurbani, „ich wollte immer etwas
über diese Jungs dort machen. Ich finde
die Situation beschissen. Da hast du diesen
ultrabürgerlichen Park, wo die Mittel-
schicht mit ihren Kindern spazieren geht,
und die kriegen ein ganz bestimmtes Bild
von der Community in diesem Park:
Schwarzer Mann = Dealer. Ich fand den Ge-
danken scheußlich und wollte einen Film
über sie machen. Aber ich dachte: Egal,
was du in Deutschland über die Communi-
ty machst, es wird nicht wahrgenommen
werden. Es wird versickern und dann hat
es keiner gesehen.“
Irgendwann kam ihm der Gedanke:
Doch was, wenn es „Berlin Alexander-
platz“ ist? „Was, wenn diese Jungs und Mä-
dels, die an den Rand der Gesellschaft ge-
spült sind, wo wir unser Tunlichstes tun,
um sie zu ignorieren, sie nicht in unseren
Alltag reinzulassen, was ist, wenn wir sie

mit dieser Figur besetzen? Dann kannst du
es nicht ignorieren, nicht wegschauen. Du
musst hinschauen.“
In gewissem Sinne ist Qurbanis „Berlin
Alexanderplatz“ also ein trojanisches
Pferd. Es nimmt ein Stück Kartoffelkanon
und zwingt es in die Gegenwart. Was die,
von denen man annimmt, dass sie sich em-
pören werden, schon im Vorab empört —
unter dem Youtube-Trailer zum Film tum-
meln sich rechtstümelnde Kommentare,
manche an der Grenze zum Gewaltaufruf.
Als sie das Projekt begannen, waren Qur-
bani und sein Co-Autor Martin Behnke zu-
nächst überrascht, dass die Filmrechte
überhaupt noch frei waren, als sie beim Fi-
scher-Verlag anfragten. So entstand der
Kontakt zu Stephan Döblin, dem jüngsten
Sohn, der die Rechte seines Vaters verwal-
tet. „Es gab einen langen Briefverkehr zwi-
schen ihm und mir“, sagt Qurbani. „Ich ha-
be versucht, ihm zu erklären, was ich vorha-
be. Er meinte, er findet das richtig und im
Sinne seines Vaters. Das Einzige, worauf er
Wert gelegt hat, war, dass wir das Erbe sei-
nes Vaters achten, und dass der Franz am
Ende in der Gemeinschaft aufgeht. Das ist
das Ende des Romans. Wenn Franz Biber-
kopf auf dem Alexanderplatz steht, dann
ist er Teil dieser Gemeinschaft.“
Alfred Döblin hat seinen Roman „Berlin
Alexanderplatz“ aus der intellektuellen
Gottesperspektive erzählt. Ähnlich wie bei
Joyce in „Ulysses“ sind die Figuren dem Au-
tor sozial unterlegen, der komplexen Büh-
nenmaschinerie des Romans ausgeliefert.

Sein Blick ist der eines Arztes. Eines Arz-
tes, dem Franz Biberkopf trotzdem nicht
egal sein muss — der aber mit einer gewis-
sen klinischen Kälte auf ihn schaut. Qurba-
ni hat immer irritiert, dass er beim Lesen
nicht an die Figuren ran durfte. „Der Autor
hat mich bewusst von den Figuren fernge-
halten. Als Filmemacher musst du die ulti-
mative Empathie erzeugen. Du musst den
Charakter lieben. Sogar die hassenswerten
Figuren musst du lieben. Sogar Reinhold
muss faszinierend und sexy und liebens-
wert sein. Sonst leidest du nicht mit.“

Rainer Werner Fassbinder hätte diese
Forderung nach ultimativer Empathie
wohl irritiert. Von ihm stammt die bis dato
letzte Verfilmung des Romans, eine Fern-
sehserie aus dem Jahr 1980. Sein Stil war
eher die Verfremdung durch ausdruckslo-
ses oder stark expressives Spiel und künst-
liche Orte. Zusammengefunden hätten
Fassbinder und Qurbani vielleicht bei Rein-
hold, der einem in der intensiven Darstel-
lung von Gottfried John als innerlich zerris-
sener, aber diabolisch manipulativer Cha-
rakter schmerzhaft nahe geht.
Qurbani schreibt mit seinen Schauspie-
lern immer gemeinsam eine Biografie für
die Figuren, und zwar über drei Generatio-
nen. Er glaubt, die „Neurosen unserer

Großeltern sind die Neurosen unserer El-
tern sind unsere Neurosen“. Wer die packe
und verstehe, könne sich viel einfacher in
eine Figur hineinspielen.
Am stärksten sind Qurbanis Filme tat-
sächlich immer da, wo sie den kleinen Ges-
ten und Wörtern, dem Alltag, dem Unwill-
kürlichen Raum geben. Schon in „Wir sind
jung. Wir sind stark.“ stellt das Schwarz-
weiß zwar einerseits Distanz her, befreit
den Film aber auch vom Plüsch des histori-
schen Dekors und verleiht ihm existenziel-
le Wucht. Jede Einstellung des Films ist
durchdacht. Es ist Qurbani offensichtlich
ein Anliegen, die Sehnsucht nach einem Le-
ben, das den Namen verdient, in den Kör-
pern der Jugendlichen Gestalt annehmen
zu lassen. Ohne diese Ebene politisch zuzu-
kleistern. Die Vietnamesen in „Wir sind
jung“ sind keine Repräsentanten von ir-
gendwas, sondern einfach Menschen, die
es in ein fremdes Land verschlagen hat.
Die entschlossen sind, sich dort ein Leben
aufzubauen.

„Wir hatten Angst, dass uns der Film
viel mehr um die Ohren fliegt. Weil es um
diesen angekündigten Pogrom in Rostock
ging. Der Film kam genau zu der Zeit raus,
als Pegida auf die Straße gegangen ist und
die AfD immer stärker wurde. Ich glaube,
in einer Zeit, in der in Deutschland Politi-
ker auf der Straße erschossen werden, in
der Journalisten und Persönlichkeiten aus
der Öffentlichkeit auch physisch angegrif-
fen werden oder auf irgendwelchen Mord-
listen stehen, liegt der Gedanke, dass es
Drohungen geben könnte, nicht fern. Aber
gerade dann muss man sich hinstellen und
sich dem aussetzen. Genau dafür macht
man ja diese Art von Film. Als antifaschisti-
schen Widerstand.“
Wenn Qurbani über sein Team spricht,
liegt Zärtlichkeit in seiner Stimme. Er
macht analoge Fotos von allen, die mitge-
holfen haben, von der Soundmixerin über
den Kameramann bis, natürlich, zu den
Schauspielern. Er schwärmt von Welket
Bungué, Jella Haase und Albrecht Schuch.
Auch wo seine Filme politisch sind, pro-
duzieren sie stets Schönheit, ohne amora-
lisch zu ästhetisieren. Die Inszenierung
abstrahiert kaum je von den Menschen. In
„Wir sind jung“ gibt es eine Szene an der
Ostsee. In der sieht man in einer Einstel-
lung einen der Jungs von hinten nackt am
Strand stehen. Sein einer Oberschenkel
und Hintern zittert. Als wäre ihm kalt oder
als hätte er einen Zitterkrampf, wie man
ihn vom Schwimmen manchmal be-
kommt. Qurbani will die Menschen verste-
hen, indem er ihnen zuschaut. Auch und ge-
rade dort, wo sie Böses oder Dummes tun.
Als er in Halle an der Saale drehte, arbei-
tete er einmal an einer Szene mit 500 Statis-
ten, die für den Film alle „Ausländer raus!“
schreien mussten. Er hatte Angst, es könn-
ten wirkliche Ausländerhasser darunter
sein. Über Lautsprecher sagte er: „Wir müs-
sen jetzt einen O-Ton machen, und zwar
müsst ihr alle „Deutschland den Deut-
schen, Ausländer raus!“ schreien.“ Es funk-
tionierte nicht. Also sagte er „Ich bin hier
Ausländer in Deutschland, ihr habt meine
offizielle Erlaubnis.“ Dann fing er selbst
an. Erst da machten die Statisten mit.
„Ich mag diesen Begriff aus der Soziolo-
gie – der Neue Deutsche. Ich glaube, damit
bin nicht ich gemeint, sondern du. Also
nicht ich, der ich hier als Flüchtlingskind
geboren bin, sondern du, die du dein
eigenes Land eben als das Land siehst, das
pluralistisch ist und in dem es selbstver-
ständlich ist, dass ich neben dir genauso
aufwachse. Ich habe den Begriff ein biss-
chen umgeformt — bei mir sagt Berta, der
Transmensch auf der Party: ,Wir sind die
neuen Deutschen, wir haben uns für uns
entschieden‘. Was heißt das? Dass Deutsch-
land nie mehr rein cis oder hetero sein
wird. Vor allem wird Deutschland nie mehr
komplett weiß sein. Das ist es jetzt. Fu-
cking live with it.“

„Ich mag diesen Begriff aus der
Soziologie – der Neue Deutsche“,
sagt Burhan Qurbani

Ihre Vorfahren waren russische Aristokra-
ten, die vor der Revolution nach England
geflohen waren. Geboren wurde sie 1945
in London, unter dem Namen Ilyena Lydia
Vasilievna Mironova. Dass sie Schauspiele-
rin werden wollte, wusste sie, seit sie klein
war; als sie in den Royal Shakespeare Com-
pany aufgenommen wurde, war sie erst
neunzehn. Bekannt wurde sie unter dem
Namen Helen Mirren.
Nun wird die britische Schauspielerin auf
der diesjährigen Berlinale mit dem Golde-
nen Ehrenbären für ihr Lebenswerk ausge-
zeichnet. Gleichzeitig widmet ihr das Festi-
val die diesjährige „Hommage“, in der
einige Mirren-Filme gezeigt werden. Na-
türlich nicht das ganze Schaffen – ihre
Fernseharbeiten als Detective Chief In-
spector Jane Tennison in den Filmen der
„Heißer Verdacht“-Reihe, wegweisend für
alle weiblichen Ermittlerinnen nach ihr,
kommen zum Beispiel nicht vor. Aber
auch in der Auswahl der Berlinale lotet sie
die ganze Bandbreite des sozialen Spek-
trums aus. An der Seite von Bob Hoskins
in „The Long Good Friday“ sowie in Peter
Greenaways „Der Koch, der Dieb, seine
Frau und ihr Liebhaber“ spielte sie sehr
verschiedene Gangsterbräute, in Stephen
Frears „The Queen“ die englische Königin
Elizabeth II., die mit dem Tod von Prinzes-
sin Diana konfrontiert ist. Es ist vielleicht
ihre berühmteste Rolle, für die sie mit
dem Oscar ausgezeichnet wurde. Und eine
Rückkehr zu ihren aristokratischen Wur-
zeln. Mittlerweile wurde ihr der Adelstitel
Dame verliehen. Berlin adelt sie nun mit
einem Bären. sta

Wie kann eine Karriere weitergehen, in
der schon so früh ein Moment für die Ewig-
keit gelingt? Quentin Tarantinos „Once
Upon a Time in Hollywood“ wird jeden-
falls nicht nur für die Performances seiner
Stars in Erinnerung bleiben, sondern auch
für das schlaksige Hippiegirl am Straßen-
rand, das selbst dem emotional tiefergeleg-
ten Brad Pitt mit einer Mischung aus Un-
schuld, Verdorbenheit, schmutzigen nack-
ten Fußsohlen und leuchtendem Irrsinn in
den Augen fast den Kopf verdreht. Dieses
wundersame Wesen, das sich dann als

Mitglied der mörderischen Manson-Fami-
ly entpuppt, wird von Margaret Qualley
gespielt, auf eine Weise, die man nicht
mehr vergisst. Nach diesem Auftritt würde
man ihr die allergrößte Zukunft voraussa-
gen, selbst bevor man weiß, dass sie auch
noch die Tochter der Schauspielerin Andie
MacDowell ist. Die Nachricht jedenfalls,
dass Qualley im Eröffnungsfilm „My Sa-
linger Year“ die Hauptrolle spielt (FOTO:
FESTIVAL), hat die ganze Berlinale in Sachen
Vorfreude sehr nach oben gezogen. kni

„Stadt am Ende der Straße und Straße die
Stadt verlängernd. Wähle nicht die eine
oder die andere, sondern die eine und die
andere im Wechsel.“ Die wegweisende
Parole für ihren neuen Film „Paris Calli-
grammes“ und für ihr gesamtes bildneri-
sches, collagehaftes, filmisches Werk fand
Ulrike Ottinger bei Victor Segalen – wie
der erforschte auch sie ferne Regionen,
Alaska, Japan, Mongolei. „Paris Calligram-
mes“ (FOTO: FESTIVAL) wird auf der Berlinale
uraufgeführt, Ulrike Ottinger erhält die
Berlinale Kamera fürs Lebenswerk. Der

Film geht aus von der Librairie Calligram-
me des Exilanten Fritz Picard und führt
hinein in die Sechziger, als sie in Paris
lebte und arbeitete, Algerienkrieg, Viet-
nam, der Mai ’68 und die Cinémathèque.
Zurück in Deutschland fing sie dann zu
filmen an, „Madame X“, „Freak Orlando“,
an denen man sieht, schrieb Frieda Grafe,
wie das Kino „alle Wünsche, Ängste, Träu-
me mit der Aura des Realen ausstatten
kann ... und beweisen, dass der Mythos
eine Dame ohne Unterleib ist“. göt

Die Saga um das vielleicht gewagteste
Kunstprojekt der vergangenen Jahre geht
weiter. Drei Jahre lang hat der russische
Regisseur Ilya Khrzhanovsky 400 Men-
schen in den Kulissen eines nachgebauten
sowjetischen Wissenschafts-Instituts
gefilmt, in einer Mischung aus Rollenspiel-
Kollektiv, Sektenerfahrung und Menschen-
versuch vor laufender Kamera. Er gewann
700 Stunden Filmmaterial für „DAU“, von
denen er Teile im Herbst 2018 in einer Art
Performance-Welt in Berlin präsentieren
wollte, inklusive nachgebauter Mauer. Die
Wellen schlugen hoch, die Berliner Behör-
den stellten sich quer. Ein zweiter Versuch
in Paris klappte besser, war dann aber
doch nur wenigen Menschen zugänglich,
und die Kritiken waren widersprüchlich.
Khrzhanovskys neuer Plan ist es nun, die
Filmfestivals der Welt für die sukzessive
Enthüllung seines Großwerks zu nutzen.
Die Berlinale macht passenderweise den
Anfang, mit den Filmen „DAU. Natasha“
(zwei Stunden, Co-Regie Jekaterina Oer-
tel, im Wettbewerb) und „DAU. Degenerat-
sia“ (fast sechs Stunden, als Special). Man
weiß bereits, dass mit Sexszenen zu rech-
nen ist, in denen nicht nur so getan wird
als ob, und mit Szenen in KGB-Verliesen,
in denen weibliche Gefangene erniedrigt
und missbraucht werden. Vier der zehn
bereits fertigen Filme, darunter „DAU.
Natasha“, haben in Russland bereits Auf-
führungsverbot, wegen „Propagierung
von Pornografie“. Klar ist jedoch eins – ein
Festival muss sich solchen Kontroversen
stellen. Wie heftig alles wird, zeigt sich ab
Mittwoch. kni

„Genau dafür macht man ja diese
Art von Film“, sagt Qurbani. „Als
antifaschistischen Widerstand.“

Er war der Erde und dem Wasser ganz
nah, näher als jeder andere amerikani-
sche Regisseur: die Flussufer in „Hallelu-
jah“, dem Passionenspiel an der Grenze
zwischen Stumm- und Tonfilm, ganz von
Schwarzen gespielt; oder die dürre Ebene,
in der die Neusiedler in den Dreißigern in
„Our Daily Bread“ eine Rinne hacken, um
Wasser auf ihre ausgetrockneten Felder
zu leiten. Der Film ist ein Musterstück für
den New Deal, realistisch, indem er sich
vor falscher Dynamik und Dramatik hü-
tet. Als die Menschen eine Organisations-
form für ihre Kommune suchen, zischeln
sie beim Vorschlag Demokratie und wol-
len lieber, dass es einen gibt, der leitet.
Die Berlinale-Retro zu King Vidor
macht Lust auf einen Mann der Wider-
sprüche, einen intellektuellen Naiven,
apollinisch und faunisch, wie Luc Moullet
schrieb. Der jene Aura des Professionellen
vermied, durch die Hitchcock und Hawks
zu Darlings der Nouvelle Vague wurden.
Vidor hatte fünf Gitarren, erzählt Moullet
von einem Besuch bei ihm in der Heimat-
stadt Galvestoon, Texas, mit fünfzig fing
er zu malen an. Vidor-Filme sind sperrig,
schon jene Stummfilme, die ihn zu einem
der erfolgreichen Hollywodianer mach-
ten, „The Big Parade“, 1925, amerikani-
sche Jungs im Ersten Weltkriegs, und
„The Crowd“, 1928, Kleinbürger in der
Massenstadt New York. Vidors Filme sind
Heimatfilme, im richtigen Sinne des Wor-
tes, Erkundungen der amerikanischen
Seele. „King Vidor, American“ heißt lapi-
dar ein frühes Buch über ihn von Ray-
mond Durgnat und Scott Simmon. göt

Die Starts ab 20. Februar auf einen
Blick, bewertet von den SZ-Kritikern.
Rezensionen ausgewählter Filme folgen.


Bliss
juliane liebert:Autorenfilme kön-
nen bisweilen ja etwas blutleer sein. Hier
aber geht es um heißblütige junge Vam-
pirinnen, verruchten Sex, Drogentrips
und satanische Rockmusik. Regisseur
Joe Begosbietet all das und mehr, etwa
einen Catfight im Organmatsch. Dezzy
(Dora Madison, die sich, nun ja, die Seele
aus dem oft nackten Leib spielt) ist Male-
rin in einer Schaffenskrise. Ein Künstle-
rinnendrama! Erst der richtige Stoff und
Freundin Courtney helfen ihr auf die
Sprünge, allerdings um den Preis des
Blutdurstes. Oder doch nur des Wahn-
sinns? „Bliss“ ist übrigens ein Autoren-
film. Aber gewiss keine blutlose Kunst.


Brahms: The Boy 2
doris kuhn:Eine traumatisierte Fami-
lie zieht ins ländliche England, um in der
Einsamkeit zu genesen. Der junge Sohn
findet im Wald eine riesige Puppe, die
bald heimlich zu ihm spricht. Dass sie
nichts Gutes anstiften wird, ist klar. Es
gibt kaum Bezug zum Vorläufer „The
Boy“, stattdessen sinistre Blicke, wabern-
de Musik, hilfloses Geschrei auf Seiten
der Eltern. Mit solchen Stilmitteln lässt
William Brent Belljede Hoffnung auf
Horror erlahmen.


Cronofobia
philipp stadelmaier:Ein mysteriö-
ser Mann (Vinicio Marchioni) und eine
verwitwete, traurige Frau, beide sehr ver-
schlossen. Er ist Privatdetektiv, sie
schneidet Haare. Sie brauchen lange, um
sich anzunähern; ebenso lange braucht
man, um zu verstehen, worum es geht.
Francesco Rizziüberkompensiert in sei-
nem unterkühlten Film die Isolation
und den Verlust von Natürlichkeit durch
das oft recht artifizielle Gebaren seiner
Figuren.


Euforia
fritz göttler:Matteo ist süchtig, er-
folgssüchtig. Er hat alles, was man zum
Leben braucht, einen Luxusjob in den
neuen Medien, auch soziale Projekte
(Flüchtlingslager), ein tolles Apartment
in Rom, einen treuen schwulen Freund.
Seine Parole: Die Schönheit schützt die
Schönheit. Matteos Bruder Ettore hat
Blackouts, stürzt plötzlich zu Boden. Ein
Tumor, diagnostiziert der Arzt, aber
Matteo verheimlicht dem Bruder, dass
er bald sterben muss. Die Schauspielerin
Valeria Golino interessiert in ihrem
zweiten Spielfilm nicht das Krankenme-
lodram, sondern der fanatische Matteo,
sein Zusammenbruch und seine Erlö-
sung, in einem Fest der Vogelschwärme.


Fantasy Island
(Film wurde vorab nicht gezeigt.)


Lassie
doris kuhn:Der Klassiker der alles
überwindenden Liebe, diesmal in
Deutschland: Lassie, eine Colliehündin,
läuft allein von der Nordseeküste nach
Bayern, zurück zu dem kleinen Jungen,
dem sie gehört.Hanno Olderdissenwill
die große Landidylle – Wald, Wiesen,
Sentimentalität. Das führt zum Teil zu
einer Atmosphäre wie im Fernseh-Hei-
matfilm, der die Protagonisten schwer
entkommen. Aber für die Kinder gibt es
jedenfalls genügend Hund.


Limbo
annett scheffel:Eine junge Mana-
gerin entdeckt Ungereimtheiten auf den
Konten ihrer Bank und gerät auf unheil-
volle Weise zwischen die Fronten eines
Geldwäsche-Netzwerks. RegisseurTim
Dünschedehat sein Spielfilmdebüt in ei-
ner einzigen Einstellung gedreht. Logis-
tisch ist das beeindruckend, erreicht
trotz einiger Twists aber nie die Dring-
lichkeit von „Victoria“, dem anderen
deutschen One-Taker der letzten Jahre.
Das liegt vor allem am schablonenhaften
Personal: Die Kamera folgt neben der ge-
wissenhaften Zeigefinger-Heldin auch
Gangsterbossen, aalglatten Bankern
und verdeckten Ermittlern in die Kata-
komben eines illegalen Boxkampfes.


Ruf der Wildnis
anke sterneborg:Aus der gemütli-
chen Zivilisation wird der Bernhardiner-
Mischling Buck ins eisige Alaska zur Zeit
des Goldrausches verschleppt, wo er erst
als Arbeitshund vor dem Postschlitten
dienen muss, dann zum besten Freund
eines grimmigen, alten Mannes (Harri-
son Ford) wird und schließlich seine ani-
malischen Instinkte entdeckt. Die neu-
este Verfilmung von Jack Londons Aben-
teuerklassiker ist das Realfilmdebüt des
Animationsregisseurs Chris Sanders.
Der Menschlichkeit des Hundes hat er
tricktechnisch einen massiven Schub
verpasst, was aber künstlicher wirkt als
zuletzt bei den animierten Tieren in der
Realverfilmung von „König der Löwen“.


Weißer weißer Tag
sofia glasl:Die Frau des Polizisten
Ingimundur ist tot, ein Autounfall bei Ne-
bel in der isländischen Einöde. Ingimun-
dur macht stoisch weiter. Er renoviert
sein Haus, kümmert sich um Enkelin
Salka und sitzt entnervt Stunden beim
Psychologen aus. Der IsländerHlynur
Pálmasonerhebt in seinem klaustropho-
bischen Film „Weißer weißer Tag“ die
stilistische Reduktion zum psychologi-
schen Prinzip und kehrt so die verdräng-
te Trauerarbeit des Witwers nach außen.
Dessen Gleichgewicht aus Lakonie, Lang-
mut und einer ungerichteten Wut gerät
erst ins Taumeln, als er herausfindet,
dass seine Frau ihn betrogen hat.


Das ist es jetzt


Franz Biberkopf ist heute schwarz und sucht Zuflucht. So muss es sein für den Regisseur Burhan Qurbani,


dessen Neuverfilmung von „Berlin Alexanderplatz“ im Berlinale-Wettbewerb läuft. Eine Begegnung


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FÜNFMAL VORFREUDE: BERLINALE-HIGHLIGHTS


NEUE FILME


10 HF2 (^) FILM Donnerstag, 20. Februar 2020, Nr. 42DEFGH
Ein ikonisches Werk der Literatur soll den Blick zurück auf die deutsche Gegenwart lenken – das ist die Idee von Regisseur Burhan Qurbani. FOTO: REGINA SCHMEKEN
King Vidor-Retro Margaret Qualley Das DAU-Projekt Ulrike Ottinger Helen Mirren

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