Süddeutsche Zeitung - 20.02.2020

(Sean Pound) #1
von jens bisky

E


s ist gerade für Kritiker des Neolibe-
ralismus unbefriedigend, wenn ihr
Gegner nur als Zerrbild beschworen
und obenhin charakterisiert wird. Etwa
mit der beliebten Unterstellung, es gehe
den Neoliberalen um den Glauben an sich
selbst regulierende Märkte, schlanke Staa-
ten, das gedeihliche Miteinander von Kapi-
talismus und Demokratie. Das stimme so
nicht, behauptet der Historiker Quinn
Slobodian in seiner ideengeschichtlichen
Studie über die „Globalisten“. Deren Aus-
gangspunkt sei nicht so weit von Überzeu-
gungen eines John Maynard Keynes oder
Karl Polanyi entfernt gewesen. Sie hätten
die Märkte nicht befreien, sondern um-
manteln und supranationale Institutionen
aufbauen wollen. Warum? Um zwei Heraus-
forderungen zu begegnen: der einen
„durch die demokratische Mitbestim-
mung der Massen“, der anderen durch das
„Ende der Imperien“.


Im Zentrum dieses klugen, oft überra-
schenden und pointenreichen Buches ste-
hen nicht Milton Friedman und die Chica-
go Boys, nicht die Berater der Reagan- und
Thatcher-Jahre, sondern die Genfer Schu-
le. Dazu zählten Intellektuelle wie Wilhelm
Röpke, Ludwig von Mises, Michael A. Heil-
perin, Friedrich August von Hayek, Gott-
fried Haberler, später dann von diesen in-
spirierte Mitarbeiter im Sekretariat des All-
gemeinen Zoll- und Handelsabkommens
(GATT). Wie haben sie die Welt wahrgenom-
men? Welche Probleme waren ihnen wich-
tig? Was schlugen sie zur Lösung vor? Was
lernten sie im Lauf der Jahrzehnte?
Slobodian beginnt seine Geschichte in
Wien am Stubenring, im Haus der Nieder-
österreichischen Handels- und Gewerbe-
kammer. Dort arbeiteten Mises, Hayek,
Haberler und erlebten, was man das „Ende
der liberalen Epoche“ genannt hat. Ludwig
von Mises schrieb 1922, dass kurz vor dem
Ausbruch des Krieges die „Verwirklichung
des Traumes einer ökumenischen Gesell-
schaft in die Nähe gerückt“ sei. Und nun
schien Stillstand, gar Rückbildung der
Gesellschaft möglich. Im Ersten Weltkrieg
hatten viele Staaten Eigentum beschlag-
nahmt, eine Befehlswirtschaft eingeführt.
Danach stand das Selbstbestimmungs-
recht der Völker auf der Tagesordnung. Wo
Imperien waren, entstanden Nationalstaa-
ten, die vielfach versuchten, autark zu wer-
den, wenigstens die eigene Wirtschaft
durch Zölle zu schützen.
Die „wehrhaften Liberalen“ in der Ring-
straße suchten nach Wegen, die zerstörte
Welt wieder aufzubauen. Das mündete in
Projekte eines „kapitalistischen Internatio-
nalismus“. Es galt, den Freihandel wieder-
herzustellen. Das Kapital, schreibt Slobodi-
an, „musste wieder kosmopolitisch wer-
den“, was freilich voraussetzte, dass grenz-
überschreitende Investitionen und Privat-
eigentum vor Beschränkungen und Enteig-


nungen geschützt waren. Gesucht wurde
eine Organisationsform für das span-
nungsreiche Nebeneinander von Weltwirt-
schaft und Nationalstaaten.
Nach dem Zweiten Weltkrieg formulier-
te der Staatsrechtler Carl Schmitt eine Un-
terscheidung, die gut zum Weltbild der
Genfer Schule passte. Er unterschied die
Welt der territorial begrenzten Staaten,im-
perium, von der Welt des Eigentums,domi-
nium. Quinn Slobodian zeigt nun Schritt
für Schritt, dass der Neoliberalismus der
Genfer Schule „ursprünglich keine Philoso-
phie des freien Marktes, sondern ein Ent-
wurf für eine Doppelregierung in der dop-
pelten Welt des Kapitalismus war“. Die Neo-
liberalen waren getrieben von der Angst
vor Instabilität, wobei die Demokratie eine
entscheidende, eine besonders beunruhi-
gende, ja bedrohliche Rolle spielte. Die For-
derungen der vielen, der Arbeiter in Euro-
pa, später auch der Menschen in den gera-
de entkolonialisierten Ländern, drohten
den Gang der Geschäfte zu stören.
Begonnen hatten die Neoliberalen im
Kampf gegen Zollmauern und als Konjunk-
turforscher. Nach 1945 kümmerten sie
sich vor allem um „das internationale
Recht und die internationale Governance“.
Der Einfluss der Nationalstaaten sollte zu-
rückgedrängt, die Macht supranationaler
Institutionen, die nicht dem wechselnden
Wählerwillen unterworfen waren, gestärkt
werden. Für dieses politische Vorhaben

zur Entpolitisierung schien die Gründung
der Welthandelsorganisation WTO im Jahr
1994 ein Erfolg. Doch die scheinbar entpoli-
tisierte Institution machte den Welthan-
del, seine Mechanismen und Ungerechtig-
keiten sichtbar, sie wurde zur Adresse von
Kritik und Protest, etwa gegen die WTO-
Ministerkonferenz in Seattle 1999.
Slobodian greift den Impuls dieser Pro-
teste auf. Nachdem in seiner Jugend viel
von „Globalisierung“, dem „Ende der Ge-
schichte“, dem Ende der Nationalstaaten
und dem einigenden Band der Weltwirt-
schaft geredet worden sei, habe seine Gene-
ration in Seattle begonnen, sich bewusst
zu machen, „was tatsächlich vor sich ging,
und die Geschichte wieder selbst in die
Hand zu nehmen“. Seine kritische Rekons-
truktion der neoliberalen Ideen ist auch ge-
gen deren ideologische Verklärung des
Einst gerichtet. So idyllisierte etwa Wil-
helm Röpke die liberale Welt. Seine Genera-
tion habe „in ihrer Jugend noch das Abend-
rot jenes langen strahlenden Sommerta-
ges erlebt“, der vom Wiener Kongress bis
zum August 1914 gedauert habe.
Röpke, der 1933 die Nationalsozialisten
öffentlich kritisiert hatte, verteidigte in
den Sechzigerjahren die Apartheid und glo-
rifizierte Südafrika als Bollwerk gegen wirt-
schaftliche Unordnung. Mit seinen Kolle-
gen aus der 1947 gegründeten Mont Pèle-
rin Society hatte er sich damals bereits
überworfen. Hayek verurteilte zwar die

Apartheid, aber ebenso Sanktionen gegen
Südafrika. Das System der Weltwirtschaft
sollte nicht von globalisierter Moral gestör-
ten werden.
Aufschlussreich ist die unterschiedliche
Sicht der Neoliberalen auf die Europäische
Wirtschaftsgemeinschaft. Die einen sahen
in ihr einen Beitrag zur „Fragmentierung
des Weltmarkts“, die anderen ein gutes Bei-
spiel dafür, „wie man einen Markt mit ei-
ner rechtlichen Struktur integrieren konn-
te“. Damit wurde die EWG zu einem Vor-
bild für die rechtliche, institutionelle Neu-
ordnung.

Gegen die Ansprüche der postkolonia-
len Staaten auf eine neue Weltwirtschafts-
ordnung erklärte Jan Tumlir, einer der neo-
liberalen Reformer im GATT-Sekretariat
in Genf, dass diese Wünsche die Ordnung
selbst sprengen würden. „Internationale
Regeln schützen den Weltmarkt vor den
Regierungen.“ Slobodian fasst sarkastisch
treffend zusammen, dass es offenkundig
nicht Zweck der Ordnung sei, „den Men-
schen zu geben, was sie wollten, sondern
sie daran zu hindern, sich zu nehmen, was
sie wollten – und dadurch das System als
Ganzes zu zerstören“.

Quinn Slobodian erzählt, wie die „mili-
tanten Globalisten“ das zwanzigste Jahr-
hundert wahrnahmen. Hinter die oft gehör-
te Behauptung von ihrem Triumph setzt er
ein Fragezeichen. Die Regeln des Welthan-
dels haben das Ziel nicht erreicht, „stören-
de Bemühungen um soziale Gerechtigkeit
oder Umverteilung zu unterbinden“. In vie-
len Nationalstaaten werden Globalisten
wie Kosmopoliten inzwischen von links
wie rechts heftig attackiert. Wer sich, wie
noch Gerhard Schröder 2002, auf die „Stür-
me der Globalisierung“ berufen wollte, um
Reformen im Inneren zu rechtfertigen,
dürfte es heute schwer haben, eine Mehr-
heit zu überzeugen und zu gewinnen. Dere-
gulierung, Privatisierung und Liberalisie-
rung werden nahezu überall ablehnend be-
trachtet. Hinzu kommen der Brexit und die
Schutzzollpolitik Donald Trumps.
Aber vielleicht ist auch dieses Bild über-
zeichnet. Wilhelm Röpke meinte 1940, die
Menschen müssten sich daran gewöhnen,
„dass es auch eine präsidiale, autoritäre, ja
sogar – horribile dictu – eine diktatorische
Demokratie gibt“. Was würden die Genfer
Globalisten zu erklärt „illiberalen Demo-
kratien“ sagen? Die Probleme, mit denen
sie sich herumgeschlagen und die sie mit
ihren Vorschlägen oft verschärft haben,
sind noch die unseren. Es geht um Stabili-
tät und Gerechtigkeit, um das Verhältnis
von Demokratie, Nationalstaat und Welt-
wirtschaft.

„Wer heute in einem affirmativen Sin-
ne von Metaphysik spricht, der riskiert
zumindest den Vorwurf, nicht auf der
Höhe der Zeit zu sein.“ Das schrieb in
einer Aufsatzsammlung der Philosoph
Jens Halfwassen, der am 15. Februar
im Alter von 61 Jahren in Heidelberg
gestorben ist, wo er seit der Jahrtau-
sendwende Professor gewesen war.
Und er fügte hinzu: „Ich riskiere diesen
Vorwurf“.
Metaphysik zielt in Halfwassens
Worten auf den „ursprünglichen Ein-
heitscharakter alles Denkbaren“. Es
war ein Leitthema dieses Gelehrten,
dass eine „konsequente Philosophie
des Absoluten“, die den deutschen Idea-
lismus beschäftigte, auf den spätanti-
ken Neuplatonismus zurückgeht. Half-
wassen zählte zu dessen besten Ken-
nern, seit seiner Kölner Dissertation
„Der Aufstieg zum Einen. Untersuchun-
gen zu Platon und Plotin“ (1989). Aus
der Habilitationsschrift über Georg Wil-
helm Friedrich Hegel (1995) kann man
nicht nur in einem Hegel-Jahr wie jetzt
viel über Hegels philosophiehistori-
sche Bezüge lernen, die stets mit dem
systematischen Denken zusammen-
hängen. Seine Auffassung, dass „uns le-
bensweltlich vertraute Wirklichkeiten
wie Geist und Seele, Bewusstsein und
Subjektivität“ weder Illusionen seien
noch allein aus naturwissenschaftli-
chen Fakten ableitbar, vermittelte Jens
Halfwassen, der aus Bergisch Glad-
bach gebürtig war, vielen seiner Schü-
ler, unter ihnen der heute in Bonn leh-
rende Markus Gabriel. Akademisch
viel geehrt und verpflichtet, warnte
Halfwassen die Bologna- und Drittmit-
tel-Universität vor dem „Verlust von
staatlich garantierter Freiheit“. jsl






      1. Februar, Salzburg
        5th Historical Fictions ResearchConfe-
        rence. Mit Michael Brauer, G. Kubik u. a.
        Universität, Tel. (0043) 662 8044 4408.





  1. Februar, Berlin
    Jenseits der Dystopie - Ein Checkpoint
    über konkrete Utopien und mögliche
    Zukünfte. Mit Gemina Picht, Petra Scha-
    per-Ginkel u. a.Bundeszentrale für politi-
    sche Bildung, Tel. (030) 254 504 - 416.

  2. Februar, Berlin
    Herausforderungen und Gefahren der
    Integration von Genomdaten in die
    frühmittelalterliche Geschichte. Vor-
    trag von Patrick J. Geary.Berlin-Bran-
    denburgische Akademie der Wissenschaf-
    ten, Tel. (030) 20 370 529.





      1. Februar, Bad Homburg
        Die Zukunft der Inseln. Passagen zwi-
        schen Literatur und Wissenschaft. Mit
        Friedrich Balke, Sabine Zubarik u.a.Kon-
        takt: Universität ,Tel. (069) 798 32 704.





  3. Februar, Berlin
    An Evening with Kent Nagano. Mit
    Kent Nagano.American Academy, Tel.
    (030) 804 83 0.





      1. Februar, Weimar
        Vom drohenden Bürgerkrieg zum de-
        mokratischen Gewaltmonopol,
        1918-1924. Mit Wolfram Pyta, Michael
        Geyer u.a.Forschungsstelle Weimarer Re-
        publik, Tel. (03641) 945 427.





  4. Februar, Berlin
    Jubiläums-Hafenrevue. Die Berliner
    Literaturszene zu Gast am Wannsee.Li-
    terarisches Colloquium, Tel. (030) 816
    996 - 0.

  5. Februar, Köln
    War, Violence and the Image of Sol-
    diers: Between Private Memories and
    Public Representation. Mit Carlo Genti-
    le, Lutz Klinkhammer u. a. Martin-
    Buber-Institut für Judaistik, Tel. (0221)
    470 2989.

  6. Februar, Berlin
    More than a Critique? Revisiting the
    „Third World Approach to Internatio-
    nal Law (TWAIL)“. Vortrag von Nahed Sa-
    mour.Leibniz-Zentrum Moderner Ori-
    ent, Tel. (030) 80 307 - 0.





      1. Februar, Marburg
        Die Geschichtlichkeit des Briefs. Konti-
        nuität und Wandel einer Kommunika-
        tionsform. Mit Sophia Wege, Rüdiger
        Görner u. a.Universität, Tel. (06421) 28
        24 651.









      1. Februar, Stuttgart
        (Un)politische Geschichte! Wie poli-
        tisch muss Geschichtswissenschaft
        sein? Mit Matthias Riedl, Katharina
        Mersch u. a.Akademie der Diözese Rot-
        tenburg-Stuttgart, Tel. (0711) 1640 753.









      1. Februar, Göttingen
        Bischof und Diözese im Früh- und
        Hochmittelalter. Die „Episkopalisie-
        rung der Kirche“ im europäischen Ver-
        gleich. Mit Julia Barrow u. a.Germania
        Sacra, Tel. (0551) 39 21 557.






Die Regeln der Freiheit


Was wollten die Neoliberalen? Quinn Slobodian erzählt ihre Geschichte neu, vom Untergang des Habsburger Reiches


bis zur Gründung der Welthandelsorganisation. Es ist auch eine Geschichte der Angst vor Instabilität und Umverteilung


Sina besitzt einen eigenen Bungalow mit
Pool, den die Eltern ihr in den Garten ihres
Anwesens gestellt haben. Am Beckenrand
lümmelt die Jeunesse dorée von Heilbronn
herum: Tom und Julia und Rob und Sina.
Und Kemal. Irgendwann fangen sie an, Ke-
mal türkisch anmutende Quatschsätze zu-
zurufen; Sätze mit möglichst vielen Ü und
Ö. Sie denken sich Schimpfwörter für ihn
aus. Später stiehlt Kemal sich von dem
herrschaftlichen Grundstück, auf dem
noch gefeiert wird: „Es war Zeit, wieder hin-
abzusteigen zum Rest der Stadt, zum
Dampf und Rauch, zum Lärm und Ge-
schrei. Dorthin, wo es nach Suppe roch und
wo ich hingehörte, ob ich wollte oder
nicht.“
Nicht immer sind die Gegensätze in Ci-
han Acars starkem Debütroman so klar ge-
zeichnet wie in dieser Szene. Oftmals verwi-
schen die Zugehörigkeiten, die Milieus
und Frontlinien bis zur Unkenntlichkeit –
um am Ende umso schärfer und gewalttäti-
ger wieder in Szene gesetzt zu werden. Ei-
nes allerdings steht außer Frage: Wer aus
Hawaii kommt, kommt von ganz unten.
„Hawaii“ ist der Spitzname eines verrufe-
nen Stadtviertels in Heilbronn. Ein Quar-
tier, von allen Seiten eingepfercht von In-
dustriebauten, in dem in den Achziger-
und Neunzigerjahren der Drogenhandel
florierte und das als Ghetto verschrien
war.
Cihan Acar wurde 1986 in Heilbronn ge-
boren. Kemal Arslan, sein Protagonist und
ich Erzähler, ist 21 Jahre alt und nach ei-
nem so kurzen wie schicksalhaften Aus-
flug in die Türkei zurück nach Heilbronn,
zurück in sein Elternhaus gekommen. Der
talentierte Fußballer Kemal war in Gazian-


tep mit einem Profivertrag und einem Jagu-
ar ausgestattet worden. Kurz darauf baute
er bei einem Autorennen einen Unfall. Der
Jaguar war Schrott, Kemals linker Fuß
musste mehrfach operiert werden, die Pro-
fikarriere ist beendet. Da ist er also nun wie-
der in Hawaii, ohne Gehaltsfortzahlung
und ohne Vorstellung, wie es mit ihm wei-
tergehen könnte.

Cihan Acar hat seinen Roman als Druck-
kessel konstruiert. Das Geschehen in „Ha-
waii“ ist zeitlich auf vier Tage in einem un-
erträglich heißen Sommer eingegrenzt:
Zwischen Donnerstag und Sonntag braut
sich etwas zusammen, etwas Unheilvolles.
Die Fronten verdichten sich, was sich be-
reits in der Eröffnungsszene andeutet, in
der Kemal auf dem Nachhauseweg in einer
Kneipe in unschönstem schwäbischen Dia-
lekt deutlich gemacht wird, dass er, „der
Türk“, hier fehl am Platz sei. Das Aufgerie-
benwerden im ewigen Zwischendrin, zwi-
schen zwei Welten, Erwartungshaltungen,
Selbstzweifeln und Alltagsrassismus ist ei-
nes der Hauptmotive des Romans, der bei
allem Ernst, mit dem Acar seinem Protago-
nisten begegnet, auch über dosierte Komik
verfügt. Die speist sich unter anderem aus
Acars ausgezeichnetem Gespür für die un-
terschiedlichen Soziolekte, die in die Dialo-
ge eingearbeitet sind.
Der Schriftsteller Tonio Schachinger
hat in seinem im vergangenen Jahr erschie-
nen, viel beachteten Debüt „Nicht wie ihr“

das Innenleben eines nur von außen be-
trachtet unterkomplexen österreichischen
Fußballprofis mit jugoslawischen Wurzeln
literarisch ausgearbeitet. Cihan Acars Ro-
man ist weniger forciert auf Pointe hinge-
schrieben, stattdessen ist die Perspektive
weiter und die Erzählstimme differenzier-
ter gehalten: Kemal Arslan ist keiner der
großspurigen Checker aus der türkischen
Community, die ihn dezidiert als Türken in
die Pflicht zu nehmen versucht. Kemal ist
ein Suchender, ein Beobachter, durch den
die Ereignisse fließen und dessen Eigen-

wahrnehmung in einer, wie zugunsten des
Autors anzunehmen ist, bewussten Wider-
sprüchlichkeit angelegt ist: „Ich bin nicht
falsch“, sagt Kemal einmal, „ich bin nur
manchmal dumm“. Angesichts seines Re-
flexionsniveaus ist der Satz eigentlich als
Koketterie.
Kemal gehört nicht dazu, nirgendwo. So
irrt er durch die Straßen der ziemlich groß-
artig unangenehm gezeichneten Stadt Heil-
bronn, absolviert auf Drängen des Vaters
ein obskures Vorstellungsgespräch mit ei-
nem türkischen Geschäftsmann, besucht

seinen demolierten Jaguar in einem Park-
haus, führt in Gedanken Gespräche mit
dem Auto und versucht, den Kontakt mit
seiner Ex-Freundin Sina neu zu knüpfen,
den er von der Türkei aus abgebrochen hat-
te. Währenddessen steigt das Aggressions-
level in der in jeder Hinsicht überhitzten
Stadt von Stunde zu Stunde. Gegen die lau-
ter werdende rechtsextreme HWA-Bewe-
gung („Heilbronn, wach auf“) formiert sich
ein migrantischer Widerstand, dessen Ak-
teure den Heimatbegriff mindestens in Be-
zug auf das Hawaii ebenso für sich bean-
spruchen wie die kahlrasierten Almans
und deren Gefolge.
Wer benutzt welche Slogans? Wer hat
das Recht, welche Symbole als Zeichen der
Distinktion öffentlich zu tragen oder zu zei-
gen? Wie tief sitzt die Demütigung bei ei-
nem in Deutschland geborenen Türken,
der an der Tür bei einer Party abgewiesen
wird, obwohl er eingeladen ist? Die Eltern
oder Großeltern sind nach Deutschland ge-
kommen, arbeiten bei Mercedes, verkau-
fen Gemüse oder Döner.
Aber was sonst? All diese Fragen verteilt
Cihan Acar, der J.D. Salinger und Jakob Ar-
jouni als literarische Referenzgrößen
nennt, auf unterschiedliche Figuren und
deren biografische Erfahrungen. Es steckt
viel Wut, aber noch mehr Sehnsucht nach
Anschlüssen in diesem Roman, mit dem
Acar jenseits allen Authentizitätsgehabes
eine schlüssige Deutschland-Momentauf-
nahme gelungen ist.
christoph schröder

Cihan Acar: Hawaii. Roman. Hanser Berlin Verlag,
München 2020. 254 Seiten, 22 Euro.

Von Platon zu
Hegel: Der Philo-
soph Jens Halfwas-
sen (1958 – 2020)
lehrte seit 1999
als Professor an
der Universität
Heidelberg.
FOTO: UNIVERSITÄT
Oft verwischen sich die Zugehörigkeiten, die Milieus und Frontlinien bis zur Un- HEIDELBERG
kenntlichkeit: der Autor Cihan Acar. FOTO: ROBIN SCHIMKO

AGENDA


Proteste gegen die WTO-Ministerkonferenz in Seattle, 1999. „In Seattle begannen wir, uns kollektiv bewusst zu machen, was tatsächlich vorging, und die Geschichte
wieder selbst in die Hand zu nehmen“, schreibt der 1978 geborene Historiker Quinn Slobodian in seinem Buch „Globalisten“. FOTO: DPA

Das Kapital musste nach dem


Ersten Weltkrieg „wieder


kosmopolitisch werden“


Hexenkessel


Die Rechtsextremen werden lauter, der migrantische Widerstand formiert sich: Cihan Acars Debütroman „Hawaii“


Das Aggressionslevel
steigt in der überhitzten Stadt
von Stunde zu Stunde

Quinn Slobodian:
Globalisten. Das Ende der
Imperien und die Geburt
des Neoliberalismus.
Aus dem Englischen
von Stephan Gebauer.
Suhrkamp Verlag, Berlin


  1. 522 Seiten, 32 Euro.


Jens Halfwassen


gestorben


Deregulierung und
Liberalisierung werden von
rechts wie von links attackiert

12 HF2 (^) LITERATUR Donnerstag, 20. Februar 2020, Nr. 42DEFGH

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