Süddeutsche Zeitung - 20.02.2020

(Sean Pound) #1
von markus zydra

Frankfurt– Notenbanker sind auf der gan-
zen Welt unterwegs: New York, Washing-
ton, Sydney, Kuala Lumpur, Singapur, Osa-
ka, dazu kommen europäische Städte wie
Paris, London oder Brüssel. Die neue Präsi-
dentin der Europäischen Zentralbank
(EZB), Christine Lagarde, weilte zuletzt
beim Weltwirtschaftsforum in Davos und
in Stockholm. Oft sind internationale Kon-
ferenzen der Anlass, manchmal ein Tête-à-
Tête mit den Währungshüter-Kollegen.
Der Ablauf folgt einem meist engen Zeit-
plan. Die Geldpolitiker fliegen ein, reden
und fliegen zurück. Ein mitunter sehr stres-
siger Job.
Aber die Führungsriege bei der EZB ge-
nießt auch ein nettes Privileg: Ob Lagarde,
Draghi oder Trichet – die Notenbankpräsi-
denten und ihre fünf Vorstandskollegen
durften und dürfen auf Geschäftsreisen ih-
re Partner auf EZB-Kosten mitnehmen.
Das muss zwar dienstlich begründet sein,
doch ob diese Begründung vorliegt, darf
ein EZB-Direktor selbst entscheiden.
Es kann gute Gründe geben, dass die
Chefs und Chefinnen wichtiger Institutio-
nen ihre Partner auf Geschäftskosten mit-
nehmen, etwa wenn es um repräsentative
Aufgaben geht. Staats- und Regierungs-
chefs haben solche Termine. Wer es mag,
nimmt den Partner oder die Partnerin
dann mit auf Dienstreise. Doch Notenban-
ker sind keine Politiker, sie sind nicht ein-
mal direkt gewählt. Ihre Aufgabe ist es, für
Preisstabilität zu sorgen. Um repräsentati-
ve Pflichten geht es bei ihren Treffen sehr
selten. Es handelt sich um Fachveranstal-
tungen, von Profis für Profis. Wer die Kom-
plexität des Sujets Geldpolitik kennt, der
ahnt, dass fachfremde Ehepartner dort
wohl nicht viel Spaß haben werden. In vie-
len Notenbanken geht man auch eher rest-
riktiv mit der Kostenübernahme in diesen
Fällen um.

Anders in der EZB: Nach Informationen
derSüddeutschen Zeitunghaben zwei EZB-
Direktoren in den letzten Jahren bemer-
kenswert häufig ihre Partner auf Kosten
der Notenbank mitgenommen. Es handelt
sich hier um die im Herbst vorzeitig ausge-
schiedene Sabine Lautenschläger und den
amtierenden Direktor Yves Mersch. Der Lu-
xemburger ist zuständig für die Rechtsab-
teilung und firmiert als Vize-Chef der EZB-
Bankenaufsicht. Bei Überseeflügen spon-
serte die EZB für Eheleute First Class-Ti-
ckets, obwohl es schon lange auch im Busi-
nessbereich der Flugzeuge Schlafmöglich-
keiten gibt. Ein teurer Spaß: Das First Class-
Ticket nach Sydney kostet beispielsweise
rund 10 000 Euro, das Business-Ticket
rund die Hälfte.
Die EZB bestätigte, dass man Reisekos-
ten für Partner der Direktoren in bestimm-
ten Fällen übernehme. Voraussetzung sei,
das eine entsprechende Einladung der
Gastgeber vorliege, und „dass die Beglei-
tung im dienstlichen Interesse ist und in-
ternationalen Gepflogenheiten ent-
spricht“. Die EZB teilte zudem mit, dass we-
der Mersch noch Lautenschläger die Vor-
gänge kommentieren wollten.
Die mögliche Verquickung von Priva-
tem und Geschäftlichem sorgt innerhalb
der Notenbank für Unmut. Zum einen, weil
für die oberste Führungsriege der bei der
EZB angesiedelten europäischen Banken-
aufsicht mitunter andere Regeln gelten.
Mancher musste die Kosten für die dienstli-
che Mitnahme des Partners auch schon
selbst bezahlen. Für Stirnrunzeln sorgt die
Praxis aber auch, weil EZB-Direktoren mit

rund 300 000 Euro pro Jahr ordentlich ver-
dienen und auf den Betrag als EU-Beschäf-
tigte kaum Steuern zahlen müssen. Damit
nicht genug: Europas Zentralbank ge-
währt allen Mitarbeitern – und eben auch
der Chefetage – extra Lohnzuschläge,
wenn das Gehalt des Ehepartners unter ei-
nem festgelegten Sockelbetrag liegt.
Das Gebaren mag rechtlich in Ordnung
sein. Ein schlechtes Gewissen scheint die
EZB aber durchaus zu plagen, denn die Fra-
gen der SZ, worin genau die Repräsentati-
onszwecke der Partner bestanden und wie
viel Geld für diese Reisen insgesamt ausge-
geben wurde, blieben auch nach vielen Wo-
chen unbeantwortet. Unterdessen kämpft
die neue Chefin Lagarde um ein besseres
Bild der Notenbank in der Öffentlichkeit.
Einige Bürger halten die Währungshüter
für abgehoben und angesichts der Nullzins-
politik für verständnislos gegenüber den
Sorgen der europäischen Bevölkerung.
Teure Reisen einiger Chefs mit Ehepart-
nern, die damit vielleicht auch private In-
teressen verfolgen, könnten der Reputati-
on der Notenbank schaden.

Die Währungshüter sind zwar gegen-
über dem Europäischen Parlament rechen-
schaftspflichtig, doch die Direktoren sind
für acht Jahre ernannt und genießen als
Mitglieder einer „unabhängigen“ Noten-
bank Freiheit bei ihrer Amtsführung. Das
kann zu Konflikten führen. So hat sich der
Europäische Rechnungshof öfter darüber
beklagt, die EZB-Bankenaufsicht gebe den
Prüfern zu wenige Informationen. Die gro-
ße Autonomie kann aber auch Auswüchse
begünstigen. Das belegt ein Fall, in dem es
um Spesenabrechnungen geht.
Die sechs Direktoren der EZB erhalten
jeden Monat eine erkleckliche Summe
Geld, um Kosten für „Repräsentations-
pflichten“, beispielsweise dienstliche Res-
taurantbesuche, pauschal abzugelten. In
der Praxis geschah es jedoch oft, dass Di-
rektoren diese Pauschale unangetastet lie-
ßen und die Rechnungen separat als Spe-
sen abrechneten. Der Spesentopf wandelte
sich so zum Gehaltsaufschlag. Die Noten-
bank bestätigte die Spesenregelung, woll-
te sich zum konkreten Vorgang aber nicht
äußern. Zuletzt soll dem früheren EZB-Prä-
sidenten Mario Draghi der Kragen geplatzt
sein. Der Italiener verfügte: Die Kollegen
sollten die Geschäftsessen künftig aus ih-
rer Pauschale begleichen oder den wichti-
gen Gast – kostenfrei – in die formidable
Kantine der Zentralbank ausführen.

Christine Lagarde, Präsidentin der Europäi-
schen Zentralbank, möchte dort den Klima-
wandel stärker berücksichtigen. Da geht es
beispielsweise um die Frage, ob die EZB noch
Anleihen von Unternehmen kaufen sollte, de-
ren Geschäftsmodelle Klimarisiken ausge-
setzt sind. Die Debatte ist kontrovers. Das be-
legt eine Umfrage bei 33 Zentralbanken und
Regulierungsbehörden. Demnach bezeich-
nen 70 Prozent der befragten Institutionen
den Klimawandel als „große Bedrohung“ für
die Finanzstabilität, doch nur 55 Prozent der
Notenbanken haben in ihren Modellen mögli-
che Klimarisiken überhaupt im Blick, so das
Ergebnis einer Studie, die von der Steuerbera-
tungs- und Wirtschaftsprüfungsgesellschaft
Mazars und dem Official Monetary and Finan-
cial Institutions Forum am Mittwoch veröf-
fentlicht wurde. Zwölf Prozent der befragten
Notenbanken sagen: Der Kampf gegen den

Klimawandel sei Aufgabe der Politiker, nicht
der Notenbanker.
Doch Zentralbanker müssen die Risiken
des Klimawandels für die Stabilität des Fi-
nanzsystems besser verstehen. Die Umfrage
macht deutlich, dass dafür immer noch die
analytischen Instrumente fehlen. Auch die
Datenqualität sei unzureichend. Die Bank für
Internationalen Zahlungsausgleich, die Zen-
tralbank der Zentralbanken, hat jüngst eine
Studie mit dem Titel „The green swan“ veröf-
fentlicht, darin enthalten auch die Warnung
des scheidenden Präsidenten der Bank of Eng-
land, Mark Carney: Man könne den Kampf ge-
gen den Klimawandel gewinnen, und trotz-
dem alles verlieren. Dann nämlich, wenn die
Regeln zum Schutz des Klimas zu schnell und
rabiat verschärft würden, etwa durch eine
massive Erhöhung der Kohlenstoffdioxidab-
gaben. Dadurch könnten bestimmte – klima-

schädliche – Firmen praktisch über Nacht ih-
ren Wert an den Börsen verlieren, was eine
Kettenreaktion auslösen würde. Die Fachleu-
te sprechen von „stranded assets“.
Auch in der Bankenaufsicht spielen Klima-
risiken inzwischen eine Rolle. Die Kreditinsti-
tute in Europa müssen darlegen, ob und wie
sie die möglichen Kreditausfallrisiken kontrol-
lieren. Die Aufsichtsbehörden planen auch
entsprechende Stresstests, so die Umfrage,
allerdings hätten erst 15 Prozent der Behör-
den konkrete Maßnahmen ergriffen.
Die Denkfabrik New Economics Founda-
tion hat ausgerechnet, dass die wichtigsten
Notenbanken der Welt rund zwölf Milliarden
Dollar in Aktien und Anleihen investiert ha-
ben, die mit der Kohleindustrie verknüpft
sind. Ihr Ratschlag: Die Notenbanken sollten
mit gutem Beispiel vorangehen und die Wert-
papiere verkaufen. MARKUS ZYDRA

München– In China ist Adidas eine durch-
aus gefragte Marke. Umso heftiger wird
die Marke mit den Streifen jetzt vom Aus-
bruch des Coronavirus getroffen. Nach ei-
nem guten Start ins Jahr 2020 sei das Ge-
schäft seit dem chinesischen Neujahrsfest
am 25. Januar nahezu zum Erliegen gekom-
men. Der Verkauf in China sei seitdem um
85 Prozent zurückgegangen, teilte Adidas
mit. Auch in den Nachbarländern Japan
und Südkorea sinke die Zahl der Kunden.
Björn Gulden, Chef des Konkurrenten Pu-
ma, sagte, das Geschäft in China liege seit
Ende Januar praktisch brach.
Deutsche Unternehmen in vielen wichti-
gen Branchen bekommen die Corona-Epi-
demie immer stärker zu spüren: Der Ab-
satz in China bricht ein, chinesische Touris-
ten, die im Ausland deutsche Waren kau-
fen, bleiben aus. Außerdem stehen in Chi-
na teilweise Fabriken still, die fein austa-
rierten Lieferketten weltweiter Produkti-
onsfirmen geraten damit schnell in Ge-
fahr. Aus Angst vor Lieferengpässen und
Absatzproblemen in China hatte gerade
der iPhone-Konzern Apple seine Erwartun-
gen reduziert.
Adidas macht alleine fast 20 Prozent des
Umsatzes in China, das Unternehmen aus
Herzogenaurach hat dort rund 12 000 Ver-
kaufsstellen, davon sind 500 eigene Ge-
schäfte, viele davon sind mittlerweile ge-
schlossen. Die Auswirkungen auf das Ge-
schäftsjahr 2020 lassen sich derzeit „nicht
zuverlässig quantifizieren“, so Adidas. Bei
Puma liegt der Umsatzanteil von China zwi-
schen zwölf und 13 Prozent, es ist der zweit-

größte Markt nach den USA und mit einer
Rate von 40 Prozent bislang sehr schnell
wachsend. Zurzeit boome dort zwar der On-
line-Handel, doch könne Puma die Bestel-
lungen nicht ausliefern, weil Post und Pa-
ketdienste nicht arbeiteten. Das Geschäft
in anderen Märkten, vor allem in Asien, lei-
de unter dem Ausbleiben chinesischer Tou-
risten. Puma ist beim Ausblick nicht so vor-
sichtig wie Adidas und hofft, dass der Rück-
gang bald aufgeholt werden kann. „Es gibt
Menschen, die glauben, dass die Chinesen
noch mehr kaufen werden, sobald die Kri-

se vorbei ist“, sagt Firmenchef Gulden.
Aber nicht nur die Geschäfte, auch die Fa-
brikhallen in China sind teilweise leer.
Fünf Produktionsstandorte, die Volkswa-
gen in China in einem Joint Venture be-
treibt, haben den geplanten Wiederanlauf
abermals verschoben, kommende Woche
soll es jetzt wieder losgehen. Drei andere
VW-Fabriken dort laufen hingegen bereits
wieder, auch bei der VW-Tochter Audi ist
es wieder losgegangen, ganz vorsichtig.
Man beobachte die Lage Tag für Tag, heißt
es in Ingolstadt, und man spüre auch eine
Veränderung im Kundenverhalten: mehr
Online-Verkäufe, weniger Besuche in den
Showrooms. China ist für den Ingolstädter
Autobauer der wichtigste Markt, so wie für
alle deutschen Premiumhersteller. Audi
verkauft dort etwa 700 000 Fahrzeuge von
insgesamt 1,8 Millionen.
Die Autobranche insgesamt hat im Janu-
ar in China ein Fünftel weniger Wagen aus-
geliefert – weil die Logistik nicht funktio-
nierte, die Kunden nicht kauften, und un-
abhängig vom Virus die Wirtschaft in Chi-
na sowieso weitgehend stagniert. Die Ab-
hängigkeit der deutschen Automobilindus-
trie ist allerdings auch in die andere Rich-
tung gewaltig, so stecken in jedem Auto
der Welt Teile aus China. Werden manche
nicht an Fabriken hierzulande geliefert
und leeren sich die Lager, dann stockt die
gesamte Fertigung. Allein in der besonders
betroffenen chinesischen Provinz Hubei
würden an gut einem Dutzend Standorten
fast zwei Millionen Autos pro Jahr gefer-
tigt, heißt es in der Analyse der Beratungs-

gesellschaft BCG. Noch seien deutsche Fa-
briken nicht von Lieferengpässen betrof-
fen, hört man vom Branchenverband VDA.
Aber Fiat musste in Serbien schon eine Fer-
tigung stoppen, weil Audiosysteme aus Chi-
na nicht geliefert wurden. Auch im Ham-
burger Hafen rechnet man mit einem spür-
baren Dämpfer im Geschäft mit China, al-
lerdings zeitversetzt. Jens Meier, Chef der
Hamburger Hafenbehörde HPA, sagte:
„Die Schiffe benötigen ja länger als 14 Ta-
ge, um von China zu uns zu kommen. Da ist
die Inkubationszeit doch längst überschrit-
ten.“ Das ist möglicherweise wissenschaft-
lich nicht ganz solide, aber hanseatisch ge-
lassen.as, cbu, hm, urit  Seite 17

Was können Zentralbanker fürs Klima tun?


Gesichtsverlust
Die EU-Kommission legt ihre
lang erwartete Digitalstrategie
vor – und offenbart Zwist 18

Ein Mann, zwei Stimmen
Die Entscheidung für den
Verkauf der Real-Märkte
fiel extrem knapp aus 19

Aktien, Devisen und Rohstoffe 22,

 http://www.sz.de/wirtschaft

DEFGH Nr. 42, Donnerstag, 20. Februar 2020 15


Erste Klasse


Bei der EZB nahmen zwei Direktoren ihre Ehepartner häufig mit auf Dienstreise,
auf Kosten der Notenbank. Auch bei den Spesen war man lange großzügig
von caspar busse

D


as bekannteste deutsch-französi-
sche Unternehmen ist – natürlich


  • Airbus: Der Luft- und Raum-
    fahrtkonzern ist vor 20 Jahren im Kern
    aus dem Zusammenschluss der deut-
    schen Dasa und der französischen Aéro-
    spatiale entstanden. Airbus ist inzwi-
    schen zusammen mit Boeing der größte
    Hersteller von Verkehrsflugzeugen, einer
    der wenigen europäischen Champions
    und weltweit erfolgreich – aber kein Ein-
    zelfall. 2017 hat der französische Autobau-
    er Peugeot den deutschen Konkurrenten
    Opel übernommen, die beiden Panzerbau-
    er Krauss-Maffei Wegmann und Nexter
    sind zusammengegangen.
    Jetzt will der Pariser Alstom-Konzern
    die Bahntechniksparte von Bombardier
    übernehmen, die ihren Hauptsitz in Ber-
    lin hat und in Teilen noch immer aus dem
    ehemaligen ostdeutschen Unternehmen
    Deutsche Waggonbau (DWA) mit Werken
    in Bautzen, Görlitz und Hennigsdorf be-
    steht (Bombardier hatte DWA vor gut
    20 Jahren übernommen) – es ist also ge-
    wissermaßen auch ein deutsch-französi-
    sches Projekt.


Alstom-Chef Henri Poupart-Lafarge
träumt davon, mit der sechs Milliarden Eu-
ro teuren Übernahme zum größten und be-
stimmenden europäischen Bahntechnik-
Unternehmen zu werden, ein Champion
also, der dem neuen chinesischen Zugher-
steller CRRC gewachsen ist – noch dazu in
einem Markt, der vom Trend zu nachhalti-
gem Verkehr sehr profitieren kann. Auf
dem Papier sieht das schlüssig aus. In
Wirklichkeit ist das jedoch keine gute
Idee, sondern könnte womöglich zu ei-
nem Desaster werden – und zwar aus meh-
reren Gründen.
Erstens ist die Bahntechnik-Sparte von
Bombardier in Wirklichkeit ein Sanie-
rungsfall. Im abgelaufenen Quartal wur-
den hohe Verluste gemeldet, immer wie-
der gab es Chefwechsel, schon lange
kämpft das Unternehmen mit Schwierig-
keiten und kommt nicht auf die Erfolgs-
spur. Zuletzt kamen dann noch erhebliche
Qualitätsmängel dazu, zum Beispiel beim
Bau des neuen ICE, die auf das Konto von
Bombardier gingen. Von Kunden gibt es
bereits massive Beschwerden, das birgt
ein Imagerisiko für Alstom.


Zweitens ist eine schnelle Sanierung
von Bombardier nicht zu erwarten. Bei
Aufträgen, die in der Vergangenheit ange-
nommen wurden und oft lange laufen, hat
Bombardier offenbar oft zu große Zuge-
ständnisse gemacht. Möglicherweise müs-
sen auch Jobs und Standorte überprüft
werden, wogegen sich die Arbeitnehmer-
vertreter bereits jetzt wehren. Alleine in
Deutschland käme das gemeinsame Un-
ternehmen zusammen auf mehr als
9000 Mitarbeiter. Alstom wird also viel
Mühe und Zeit in Bombardier stecken
müssen und sehr aufräumen müssen,
und sich womöglich mit unpopulären Ent-
scheidungen auch Ärger einhandeln.
Zudem gibt es drittens ein noch größe-
res Problem: Wird die Übernahme über-
haupt von der EU-Kommission geneh-
migt? Alstom gibt sich zuversichtlich,
aber Experten haben große Zweifel. Im
vergangenen Jahr war schon das Zusam-
mengehen von Siemens und Alstom am
Widerstand von EU-Wettbewerbskommis-
sarin Margrethe Vestager gescheitert,
weil sie große Nachteile für die Kunden be-
fürchtete. Man kann diese Sicht ja durch-
aus für falsch halten. Aber: Bleibt Vesta-
ger bei ihrer Linie, wovon ausgegangen
werden kann, dürfte die Übernahme we-
nig Chancen haben, ohne große Zuge-
ständnisse durchzukommen. Zwar über-
lappen sich Alstom und Bombardier nicht
so sehr in der Signaltechnik und nicht bei
Hochgeschwindigkeitszügen (wie Sie-
mens/ICE und Alstom/TGV), dafür bauen
beide Regionalzüge, U- und Straßenbah-
nen und würden einen bedeutenden ge-
meinsamen Marktanteil erreichen.
Viertens sind die Franzosen also erst
einmal für eine gefährlich lange Zeit vor al-
lem mit sich selbst beschäftigt – noch da-
zu mit der Unsicherheit, ob das Geschäft
überhaupt zustande kommt. Da geht wert-
volle Zeit verloren, das eigentliche Ge-
schäft voranzubringen. Das aber ist sehr
notwendig. Denn das Bahngeschäft muss
schnell weiter entwickelt werden, um
wirklich das Transportmittel der Zukunft
zu werden. Noch immer ist der Zugver-
kehr in Europa wenig digitalisiert oder ver-
einheitlicht. Noch immer ist fast jeder Zug-
typ und jedes Bahnsystem speziell ange-
passt auf den jeweiligen Kunden. Hier
muss noch viel passieren, wenn man als
europäischer Anbieter wirklich gegen die
chinesische Konkurrenz bestehen will.
Ist das alles gut für Siemens, den drit-
ten große Anbieter in der Branche? Nicht
unbedingt, denn auch die Münchner, die
zusammen mit Bombardier den ICE 4 bau-
en, müssen schneller und besser werden.

Eigentlich war das Thema Senioren keine
naheliegende Wahl für Marina Zubrod. Sie
ist gerade einmal 30 Jahre alt, ihre Eltern
sind noch jung. Sie hat nichts Passendes
studiert und keine Ausbildung zur Alten-
pflegerin gemacht. Dass sich Zubrod mit äl-
teren Menschen beschäftigt, liegt daran,
dass sie Zahlen und Märkte liebt und im-
mer auf der Suche nach Geschäftsideen ist.
„Ich bin Unternehmerin, wenn ich irgend-
wo Potenzial sehe, mache ich mich an die
Arbeit“, sagt sie.
Zubrod hat Betriebswirtschaft an der
Privatuni EBS studiert, danach war sie In-
vestmentbankerin in Frankfurt und Lon-
don. Sie hat wahnsinnig viel gearbeitet,
sehr gut verdient, aber irgendwann wurde
es ihr zu viel. „Als ich schon von Montag bis
Freitag 100 Stunden auf dem Buckel hatte,
war es genug“, sagt sie. Nach Stationen in
zwei Unternehmen und als Chefin eines
Versicherungs-Start-ups machte sie sich
selbständig als Unternehmensberaterin in
Hamburg, hauptsächlich berät sie Finanz-
unternehmen wie ING-Diba, Schufa oder
Signal Iduna. „Eigentlich war mir schon im-
mer klar, dass ein Angestelltenverhältnis
nicht das ist, was ich möchte“, sagt sie. Ihr
Vater ist selbständiger Handwerker, ihre
Mutter hat eine Gebäudereinigungsfirma,
Unternehmertum liege ihr im Blut, sagt
sie. Über ein Projekt für ältere Kunden bei
der Bank ING stieß sie auf ihr Thema: Se-
nioren als Zielgruppe.
Zubrod rattert Fakten herunter: „Leute
jenseits der 60 leben im Schnitt noch ge-
nauso lang, wie sie von Geburt bis zum Stu-
dienabschluss gebraucht haben. Ihre Kauf-
kraft ist am höchsten. Diejenigen, die jetzt
Senioren werden, sind schon seit zehn
oder 15 Jahren mit Technik vertraut, schrei-
ben E-Mails, buchen Reisen online.“ Trotz
alldem kümmerten sich Unternehmen lie-
ber um junge Kunden als um die Älteren.
„Die Zielgruppe ist nicht sexy“, sagt Zu-
brod. „Alter wird mit Tod assoziiert, selbst


wenn es noch längst nicht so weit ist.“ Au-
ßerdem sei es nicht so einfach, ältere Men-
schen mit digitalen Produkten zu errei-
chen, Marketingmanager beschäftigen
sich vor allem mit den Jungen, glaubt sie.
„Wie man ältere Leute anspricht, um zum
Beispiel ein neues Hörgerät bei Facebook
zu vermarkten, wissen viele einfach nicht.“
Zubrod sieht das als Chance. Sie will
Unternehmen beraten und Start-ups, die
zum Beispiel Vitalwertemess-Apps oder
Tablets für Senioren entwickeln, mit größe-
ren Firmen zusammenbringen, etwa Al-
tersheimbetreibern oder Versicherern. Bis-
lang fehle der Austausch, die „Senioren-
Branche“ nehme sich nicht als Branche
wahr. Also gründete Zubrod eine Messe,
die sie Silventa getauft und gleich zur „Leit-
konferenz für Digitalisierung und Innovati-
on im Seniorenmarkt“ ernannt hat. Sie fin-
det im April zum ersten Mal in Hamburg
statt. „Das Marktvolumen, das Potenzial
für Innovationen, man kann hier richtig et-
was bewegen“, sagt sie. „Ob ich den nächs-
ten Roboadviser gründe oder nicht, ist
egal. Wie die Zukunft unserer Eltern und
Großeltern aussieht, bewegt alle.“ Es ist ihr
wichtig, dass sich der Blick auf ältere Men-
schen ändert, dass deren Wünsche ernst ge-
nommen werden.
Sich nur darum zu kümmern, wäre ihr
aber nicht genug. „Ich bin ein sehr rastlo-
ser Mensch, mir wird nie langweilig“, sagt
sie. Also gründete sie Matica, eine Marke
für Naturkosmetik. 2019 nahm sie schon ei-
nen fünfstelligen Betrag ein – und das, ob-
wohl sie das Start-up ohne Fremdkapital
aufzieht. Viele Investoren benachteiligen
Gründerinnen. „Und je weiblicher die Ge-
schäftsidee, desto schlimmer.“ Deshalb
wächst Matica nur so schnell, wie Zubrod
es mit anderem Einkommen finanzieren
kann. Und wenn mal etwas nicht klappt, ist
es auch nicht so schlimm, sagt sie. „Aufste-
hen, weitermachen, das ist eben Unterneh-
mertum.“ kathrin werner

Spesentöpfe wurden schon mal
umfunktioniert. Mario Draghi
soll der Kragen geplatzt sein

HEUTE


WIRTSCHAFT


Vom EZB-Turm in Frankfurt ist es nicht weit zum Flughafen: Die Reisepraxis
NAHAUFNAHME mancher Direktoren wirft Fragen auf. FOTO: BORIS ROESSLER/DPA

„Die Zielgruppe ist
nicht sexy. Alter wird
mit Tod assoziiert,
selbst wenn es noch längst
nicht so weit ist.“
Marina Zubrod
FOTO: OH

Wo bleiben die Kunden? Verkäuferin mit
Mundschutz allein in einem Laden von
Adidas in Peking. FOTO: NICOLAS ASFOURI/AFP

ALSTOM

Ganz schlechte Idee


Leere Geschäfte, leere Fabriken


Deutsche Unternehmen spüren die Corona-Epidemie immer stärker, der Adidas-Umsatz in China bricht um 85 Prozent ein


Alter als Chance


Marina Zubrod will mit Senioren Geld verdienen


Die Franzosen sind erst einmal


für eine gefährlich lange Zeit


vor allem mit sich beschäftigt


Die teuren Reisen
sorgen auch innerhalb der
Notenbank für Unmut
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