Süddeutsche Zeitung - 20.02.2020

(Sean Pound) #1
von thomas hahn

E


in kleines Mädchen tanzt im
bunten Schummerlicht. Es ist
mit seiner Familie ins SM-Town-
Museum von Seoul gekommen
und befindet sich nun in einem
Raum, in dem K-Pop-Konzerte über große
Bildschirme flimmern. Das Mädchen hat
erst nur staunend hinaufgeschaut zur
Tanzvorführung einer Girlband. Es hat das
Gewitter der Farben wirken lassen, hat der
schnellen Musik zugehört. Und irgend-
wann rührten sich die Füße, als habe ein
geheimnisvoller Zauber das Kind erfasst.
Tanzen im Museum. Ist das der tiefere
Sinn dieser großen pastellfarbenen Show
mit den jungen Pop-Menschen aus Südko-
rea? Dass sie andere junge Menschen zu
einer Leichtigkeit animiert, welche die mo-
derne Leistungsgesellschaft ihnen sonst
nicht mehr zugesteht?
Das SM-Town-Museum ist eine Etappe
auf der sogenannten Hallyu-Seoul-Stem-
peltour zu Schauplätzen der südkoreani-
schen Popkultur. Der Begriff „Hallyu“
stammt aus dem Chinesischen, wörtlich
übersetzt bedeutet er „koreanische Welle“.
Er kam Mitte der 90er-Jahre auf, als Südko-
rea diplomatische Beziehungen mit China
aufgenommen hatte und ein ganzer
Schwung an südkoreanischen TV-Dramen
und Popsongs ins Reich der Mitte kam. Der
Publikumserfolg war groß, das Phänomen
bekam einen Namen: Hallyu eben. Und es
wuchs weiter, immer weiter. Die K-Pop-
Musik wuchs sogar über die Grenzen
Asiens hinaus in die Welt hinein.


Heute ist das Wort Hallyu eine Konstan-
te der südkoreanischen National-PR, der
Markenname einer Erfolgsproduktreihe
des Tigerstaats, die längst nicht mehr nur
Popmusik und Seifenopern umfasst, son-
dern auch Kochkunst, Kosmetik, Compu-
terspiele, Musicals und anderes. Die jüngs-
ten Oscars für die schwarze Gesellschafts-
komödie „Parasite“ von Regisseur Bong
Joon-ho haben die Kraft dieser koreani-
schen Zeitgeisterscheinung noch unter-
mauert. Und die Hauptstadt Seoul ist das
Zentrum der Welle. Hier ist sie entstanden.
Hier haben die wichtigsten Produktionsfir-
men und Fernsehsender ihren Sitz. Schon
2013 hat die Stadtregierung deshalb ange-
fangen, das Thema Hallyu mit dem Frem-
denverkehr zu verknüpfen. Besagte Hallyu-
Seoul-Stempeltour des Tourismusverban-
des KTO gehört zum Konzept: zehn Sta-
tionen durchs Entertainment-Leben der
Hauptstadt. Man kann Stempel sammeln.
Am Ende gibt es eine Belohnung.
„Koreanische Stars, vor allem K-Pop-
Stars, motivieren Hallyu-Touristen, nach
Seoul zu kommen“, sagt Rathausspre-
cherin Choi Hojin und liefert Zahlen: Laut
KTO würden neun von zehn K-Pop-Fans
gerne nach Korea reisen. Die Zahl der
Hallyu-Touristen ist zwischen 2016 und
2018 von 1, 36 Millionen auf 1,42 Millionen
gestiegen. Und eine Umfrage von 2019 hat
gezeigt, dass Menschen von 20 bis über 50
an Hallyu-Programmen teilnehmen. Der


„Parasite“-Erfolg verspricht noch mehr Zu-
spruch, weshalb die Stadt eine neue Tour
zu Drehorten des Films plant. Korea hofft
sogar darauf, denn in der Coronavirus-Kri-
se mit Reisebeschränkungen und teilweise
übertriebenen Ängsten klagen Hotels, Res-
taurants und Unterhaltungsbetriebe im
ganzen Land über sinkende Gästezahlen.
Auf der herkömmlichen Hallyu-Tour
hat man allerdings auch im Dezember, als
noch keiner vom Virus sprach, wenige
Ausländer gesehen. Wegen der Jahreszeit?
Weil die Hallyu-Zielgruppe zu speziell ist?
Jedenfalls kann man sich die Frage stellen,
ob man durch die Angebote der Stadt wirk-
lich etwas erfährt über das Wesen der
koreanischen Welle. Diese Hallyu-Reise ist
letztlich die Einladung einer Industrie, die
ihre Produkte möglichst makellos präsen-
tieren will. Das SM-Town-Museum zum
Beispiel, gelegen am Rand eines Einkaufs-
zentrums im hippen Stadtteil Gangnam,
ist eine Spielfläche der größten koreani-
schen Produktionsfirma SM Entertain-
ment. Man kann dort Streifzüge durch das
Werk ihrer hausgemachten Erfolgsbands
wieExooderGirls’ Generationunterneh-
men. Kostüme sind zu sehen, Schmink-
utensilien, Bilder. Erzählt werden Auf-
stiegsgeschichten wie die der Sängerin
Kwon Bo-ah alias BoA, 33, die schon als
Elfjährige von SM-Talentscouts entdeckt
wurde. Man kann sich mit digitalen Projek-
tionen der Stars fotografieren. Und die Son-
derausstellung zeigt Fotos aus dem glückli-
chen Künstlerleben des Pop-DuosTVXQ.
Es geht in diesem Museum nicht um Wahr-
heit. Es geht um Heldeninszenierung.
Den Fans wird es egal sein. K-Popper
verkaufen Illusionen, das ist ihr Beruf. Mil-
lionen Menschen auf der ganzen Welt ge-
ben sie damit eine gute Zeit – und viel-
leicht sogar ein bisschen mehr als das. Die
allgegenwärtige BoygroupBTSaus dem
Künstlerstall der Firma Big Hit Entertain-
ment hat im vergangenen Jahr auf ihrer
Welttour vor ausverkauften Stadiontribü-
nen in Los Angeles, London und Paris ge-
spielt. „Love yourself“, liebe dich selbst,
lautete das Motto der Tournee – das ist kei-
ne banale Botschaft bei einer Zielgruppe
von Jugendlichen, denen viele Medien
unwirkliche Schönheitsideale vorspielen.
Und die Kunst von BTS sollte niemand
unterschätzen: Präzisionsperformer und
Profis des Popgesangs sind hier am Werk,
virtuose Kämpfer, die aus der Masse an die
einsame Spitze getanzt sind und damit
umgehen können, dass Image-Bildner ih-
re Persönlichkeiten nach dem Bedarf des
Marktes zurechtgemeißelt haben.
Allerdings gibt es eben auch noch die
große dunkle Weite hinter den Kulissen, in
der die etwas weniger Perfekten um Karrie-
ren und Anerkennung ringen. Der südkore-
anische Traum vom Rampenlicht ist nichts
für zarte Seelen. Die wichtigste Bühne der
K-Pop-Größen ist das Internet, und in den
sozialen Medien toben die ewigen Shit-
storms eines erbarmungslosen Publi-
kums, die auch Hochbegabte in tödliche De-
pressionen drängen können. Ende 2019
war dieser Umstand ein Thema, als binnen
dreier Monate drei Stars der Szene leblos
aufgefunden worden waren. Bei dem Sän-
ger und Schauspieler Cha In-ha, 27, ist die
Todesursache offiziell unbekannt. Aber bei
seinen Kolleginnen Sulli, 25, und Goo Hara,

28, war der Befund klar: Suizid. Zerstört un-
ter anderem von den anonymen Geistern
der virtuellen Kommentarspalten.
Die Hallyu-Bewegung ist wohl noch zu
jung, als dass sie die Brüche in ihrem Show-
geschäft zum Thema machen könnte. Viel-
leicht ist sie auch zu sehr gefangen in dem
Glauben, dass zu gefallen eine Pflicht für
Südkoreas wirtschaftlichen Erfolg ist. Na-
türlich, die westliche Popkultur kann auch
gnadenlos glitzern. Trotzdem wird keine
ernst zu nehmende Elvis-Presley-, Kurt-
Cobain- oder Amy-Winehouse-Retrospek-
tive über die Tragödien und Wirrungen
dieser Ausnahmemusiker hinweggehen.
Wo die Hallyu-Seoul-Stempeltour wohl
in 20 Jahren hinführt? Vorerst leitet sie den
Südkorea-Besucher vor allem dorthin, wo
Hallyu einen guten Eindruck macht und
den Konsum ankurbelt. Zum Beispiel in
die Lotte World. Diese Welt ist ein riesiges
Einkaufs- und Spaßzentrum des mächti-
gen Mischkonzerns Lotte. Hier gibt es ne-
ben den üblichen Markengeschäften ein
Aquarium, Kinos, Museum, Spa, Schön-
heitssalons, Restaurants – und in einer ge-
räumigen Ecke am Ende einer Rolltreppe
das elegante Musiklokal Just K-Pop.

Für den Abend ist dort Kate Kim ange-
kündigt, ein echtes blondiertes K-Pop-Ge-
wächs aus der nationalen Castingshow-
Szene. Der Eintritt ist frei, die Kost natür-
lich nicht. Aber der Besuch lohnt sich, auch
wenn das Programm ziemlich amerika-
nisch ist. Auf der Bühne des mäßig gefüll-
ten Gastraums gibt Kate Kim Kostproben
ihres beachtlichen Stimmvolumens. Und
als sie sich nach einer halben Stunde dan-
kend vom eher trägen Publikum verab-
schiedet, denkt man: Der Frau hätte man
noch etwas länger zuhören können.
So ist es die ganze Zeit auf den Pfaden
des südkoreanischen Unterhaltungswun-
ders: Mal fühlt man sich vom Kommerz
überrollt, mal angenehm berührt von ei-
ner Wohlstandswelt, die sich für keine
Kunst zu schade ist. Seoul ist ein Skulptu-
renpark, ständig stößt man hier auf große
oder kleine Kunstwerke. Das Nationale Mu-
seum für Moderne und Zeitgenössische
Kunst im Seoul Grand Park feiert seinen


  1. Geburtstag noch bis Ende März mit ei-
    ner Hommage an Maler, Bildhauer, Kom-
    ponisten und Arbeiter, die mit Mut und
    Haltung dazu beigetragen haben, dass die
    einstige Nachkriegsdiktatur Südkorea heu-
    te ein freies Land mit Flausen ist.
    Und wenn man sich auf die Pfade von
    „Parasite“ begibt, sieht Seoul plötzlich gar
    nicht mehr kitschig aus. Eher verbraucht
    und kleinteilig. Der Imbiss Sky Pizza zum
    Beispiel, einer der Drehorte, liegt an einer
    kleinen Straße zwischen niedrigen Back-
    steinbauten im unscheinbaren Stadtteil
    Dongjak. Aber seit der Oscarnacht ist der
    Umsatz hier markant gestiegen, wie die Be-
    treiber dieser Tage in diversen Interviews
    erzählen. Der Film hat der trüberen Seite
    Seouls eine Art Sexappeal gebracht.
    Auf der Hallyu-Stempeltour steht man
    irgendwann im Yeouido Hangang Park,
    weil am Han-Ufer Szenen aus den K-Dra-


men „Meine Liebe vom Stern“ und „Lau-
fender Mann“ gedreht wurden. Eine friedli-
che Weite aus Wiesen, Bäumen und Beton
erstreckt sich am Fluss. Radfahrer ziehen
vorbei. Bei der Brücke stellt eine Informati-
onstafel den Schriftsteller Kim Hoon vor
und seine melancholische Liebeserklä-
rung an den Strom: „Der Han-Fluss verlief
in jenen Tagen frei, wie es seine Natur war.
Aber jetzt folgt er nur noch einer geraden
Linie, weil beide Ufer einbetoniert sind.“
Die koreanische Welle kann einen auch in
Momente der Nachdenklichkeit spülen.
Wobei man schon den Eindruck hat,
dass die Hallyu-Attraktionen eher für
junge Besucher gedacht sind. Das K-Style-
Hub der KTO nahe dem City-Fluss Cheong-
gyecheon ist ein Informationszentrum mit
Café, Internet und K-Star-Zone zum Selfie-
machen. Aber ein Mitarbeiter am Emp-
fang reagiert einsilbig auf die Frage nach
Hallyu-Orten und K-Pop-Shows. Weil er
aus der Übung ist? „Die jungen Leute fra-
gen hier nicht“, sagt er, „die regeln das mit
dem Handy.“ Es ist dann tatsächlich rasch
ergoogelt, wie man am Ende eines langen,
von Reizen gefluteten Tages noch zur
K-Star Road kommt, einem weiteren
Stopp der Hallyu-Seoul-Stempeltour.
Die K-Star Road liegt in Gangnam bei
der U-Bahn-Station Apgujeong-Rodeo in
einem feinen Einkaufsviertel. Es ist schon
spät. Wenig Verkehr, die Luxusgeschäfte
sind zu. Dass sie eine K-Star Road ist, kann
man nicht übersehen, denn auf dem Bür-
gersteig sind bunte Kunststoffbären aufge-
stellt, die alle einer K-Pop-Band oder -Grö-
ße gewidmet sind. Es gibt einen BTS-Bä-
ren, einen BoA-Bären und so weiter. Das ist
wohl die südkoreanische Version der Ster-
ne auf dem Hollywood Boulevard. Aller-
dings etwas albern und seltsam leblos.
Was soll diese starre Maskottchen-Para-
de? Von den spannenden Geschichten des
K-Pops erzählt sie jedenfalls nichts.

Seoul
Incheon
SÜDKOREA

NORDKOREA

Busan

Daegu

Daejeon
Westmeer/
Gelbes Meer

Ostmeer/
Japanisches
Meer

20 km
SZ-Karte/Maps4News

DEFGH Nr. 42, Donnerstag, 20. Februar 2020


REISE

Ein Land


unter


Schminke


Südkoreas K-Pop-Inszenierung lockt


vor allem junge Touristen nach Seoul.


Hinter der Kulisse ist das Geschäft aber so hart


wie das Leben im Film „Parasite“


Mal fühlt man sich vom Kommerz
überrollt, mal angenehm berührt
von der Wohlstandswelt

Die Hauptstadt Seoul ist


Zentrum und Geburtsstätte von


Hallyu, der „koreanischen Welle“


Anreise:Vom Flughafen Incheon führt eine S-Bahn in
die Innenstadt von Seoul. Die Fahrt dauert etwas län-
ger als eine Stunde. Eine Taxifahrt kostet etwa zwi-
schen 70 000 und 85 000 Won (55 bis 65 Euro).
Unterkunft:K-Pop-Hotel Seoul Station in der Nähe
des Hauptbahnhofs. Doppelzimmer pro Nacht umge-
rechnet etwa 50 Euro.
K-Pop-Touren:Hallyu-Seoul-Stempeltour. Zehn Stati-
onen im Stadtgebiet, die entweder Drehorte koreani-
scher Fernsehserien waren oder eine Verbindung zur
K-Pop-Kultur aufweisen (mehr Informationen unter
visitseoul.net). Drehorte des oscarprämierten Films
„Parasite“ sind der Jahamun Tunnel, der Dwaejisaal-
Supermarkt in Mapo, die Stufen in Ki-taeks Dorf in
Jongno und der Imbiss Sky Pizza in Dongjak.

K-Pop ist längst ein Wirtschaftsfaktor: Verkauft wird eine
Illusion, wie auf dem großen Foto oben von der GirlgroupItzy.
Auch im Straßenbild Seouls ist K-Pop präsent. Unten: Der
Imbiss Sky Pizza war einer der Drehorte des Films „Parasite“.
FOTOS: GETTY IMAGES; ED JONES, AFP (2)

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