Süddeutsche Zeitung - 20.02.2020

(Sean Pound) #1
von frederik obermaier
und lisa schnell

A


m schlimmsten sei der Geruch.
Er steche in der Nase, beiße im
Rachen, manchmal zwinge er
einen zum Würgen. Jedes Mal,
wenn der Whistleblower an den
Gestank denkt, fasst er sich an die Nase.
Als würde das helfen.
Seinen Namen will der Mann nicht nen-
nen, aber er will reden. Muss reden. Von ei-
nem eierverarbeitenden Unternehmen, es
ist eines der größten in Europa. Denn er ha-
be, sagt er, gesehen, was dort vor sich gehe.
Und er hat es dokumentiert.
Er legt Fotos auf den Tisch, Paletten
voller Eier, die untersten Chargen einge-
drückt. Wer das sieht, kann den Geruch er-
ahnen. Da sind Eier, aus denen weiße Ma-
den kriechen. Da sind Eier, auf denen der
Schimmel wuchert. Und da ist diese Pam-
pe, die eigentlich gelb sein sollte: eigelb.
Aber überall schwarze Flecken. Trotzdem
wurde daraus womöglich ein Krapfen in ei-
ner Bäckerei, ein Rührei am Frühstü-
cksbüffet eines Hotels, oder eine Nudel. Si-
cher ist, dass die Eier irgendwo in Europa
verarbeitet wurden, sagt der Mann.
Die Fotos, die derSüddeutschen Zeitung
und denOberösterreichischen Nachrichten
vorliegen, sollen in Österreich aufgenom-
men worden sein, in dem Ort Biberbach,
2200 Einwohner. Hier im Mostviertel ste-
hen die Gebäude der Firma Pro Ovo. In grü-
nen, fast fensterlosen Hallen schlägt die
Firma nach eigenen Angaben täglich bis zu
1,5 Millionen Eier auf. Dotter und Eiweiß
werden getrennt oder zusammen ver-
rührt, dann Salz oder Zucker beigemischt.
So geht das Eigemisch in Kanistern und
Tanks an Bäckereien, Nudelhersteller oder
Gefrierkostfabrikanten. Und mittendrin:
Reste von Maden, Schimmel, faulen Eiern.
So jedenfalls erzählt es der Mann, der im
Inneren der grünen Hallen war.


Beamte des niederösterreichischen Lan-
deskriminalamts haben auf Grundlage
seiner Informationen Ermittlungen aufge-
nommen. Sie halten seine Angaben für
glaubwürdig und die von ihm vorgelegten
Fotos für authentisch. Auch die SZ hat kei-
ne Hinweise auf Manipulation gefunden.
Es hat gedauert, bis der Informant den
Mut gefunden hat, zu reden. Die eierverar-
beitende Branche ist bekannt für ihre
schlechten Arbeitsbedingungen. Viele der
ungelernten Arbeiter bekommen nicht
mehr als einen Billiglohn, und die Chefs
machen ihnen sehr deutlich, dass sie jeder-
zeit ersetzt werden können. Wer den Mund
aufmacht, riskiert seinen Job.
Der Kontakt zur SZ kam über einen Mit-
telsmann zustande, die Übergabe der Fo-
tos war konspirativ. In einem Zug Richtung
Wien sitzt man sich plötzlich gegenüber,
ein roter Ordner wird überreicht, ein paar
Worte gewechselt, man verabredet sich für
einen anderen Tag an einem anderen Ort,
irgendwo in Niederösterreich. Wo genau,
auch das muss geheim bleiben.
Auf dem Weg zu dem zweiten Treffen
kommt man vorbei an hügeligen Wiesen,
alten Scheunen, Zwiebelkirchtürmen in
kleinen Dörfern. Es ist idyllisch hier, man
würde denken, hier würden die Eier noch
einzeln aus den brutwarmen Nestern ge-
sammelt. Und dann sitzt man irgendwo bei
Kaffee und Mineralwasser und hört, wie es
in den grünen Hallen von Pro Ovo zugehen
soll. „Hühnerkacke, Federn, Dreck“, alles
werde weiterverarbeitet, sagt der Mann.
Selbst die Eierpampe vom Boden werde
extra noch aufgewischt und untergerührt.
Er redet schnell, als hätten sich die Wörter
lange aufgestaut. Er scheint fast erleich-
tert, dass da noch jemand ist, der sich ekelt
beim Anblick dieser Bilder.
DieSüddeutsche Zeitungund dieOber-
österreichischen Nachrichten haben Pro
Ovo angeboten, zu den Vorwürfen Stellung
zu nehmen. Die E-Mail blieb jedoch un-
beantwortet. Am Telefon erklärte eine Mit-


arbeiterin, das Unternehmen äußere sich
grundsätzlich nicht gegenüber Medien.
Der Mann schiebt die Kaffeetasse zur
Seite und legt eine ausgedruckte E-Mail
auf den Tisch. Sie stammt laut Absender-
adresse vom Geschäftsführer des Unter-
nehmens. Betreff: „Charge FLSU 19404“.
Ein Kunde will wissen, was Pro Ovo bei der
letzten Lieferung anders gemacht habe.
Die Ware lasse sich „überdurchschnittlich
gut verarbeiten“. Zu lesen ist auch die inter-
ne Antwort eines Mitarbeiters: Bei dieser
Lieferung habe man „schwarze Eier“ aufge-
schlagen und Ware untergemischt, die ein
anderer Kunde als mangelhaft zurückge-
schickt hatte. Wenn die E-Mail echt ist,
schreibt ein Geschäftsführer daraufhin an
fünf seiner Mitarbeiter und Mitarbeiterin-
nen: „Verdorbene Eier haben bessere Back-
eigenschaften.“ Eine SZ-Anfrage zu der
Mail ließ er unbeantwortet.
Die Branche steht schon länger im Ver-
ruf. „Da wird gepanscht und vertuscht, die
Öffentlichkeit erfährt es nur selten“, sagt
ein europäischer Lebensmittelüberwa-
cher, der sich eigentlich nicht öffentlich zu
so etwas äußern darf und der deswegen sei-
nen Namen nicht veröffentlicht haben will.
Da waren 2014 die Salmonellen bei Bayern-
Ei, dann 2017 mit dem Pflanzenschutzmit-

tel Fipronil verseuchte Eier und jetzt also
mutmaßlich die nächste Eier-Sauerei.
Diesmal bei Pro Ovo.
Pro Ovo gehört zu dem niederländi-
schen Unternehmen Interovo Egg Group,
das in ganz Europa Eierfabriken betreibt.
Der Firmenbevollmächtigte ist ein Mann,
dessen Name schon früher in Zusammen-
hang mit ekeligen Zuständen in der Eier-
verarbeitung gebracht wurde. Die Zeit
schrieb von einem „Profipanscher“, der in
den Achtzigerjahren zugegeben haben soll,
seinen Eierprodukten zerkleinerte Küken-
embryos beigemischt zu haben. Eine SZ-
Anfrage dazu ließ er unbeantwortet.
1996 wurde die Firma Pro Ovo
Beteiligung GmbH in Biberbach in das ös-
terreichische Handelsregister eingetra-
gen. Heute gehört Pro Ovo europaweit zu
den Größten der Branche. Die Liste der
Kunden ist lang: Wirte, Eissalons, Bäckerei-
en, Nudelproduzenten und – fast schon
nationales Kulturgut in Österreich – der
Waffelhersteller Manner aus Wien. Aus
Eiern von Pro Ovo wurden die berühmten
Eierbiskotten hergestellt, Löffelbiskuits.
„Kinder lieben sie!“, verspricht die Wer-
bung.
Manner wurde laut Liefertabellen auch
an genau jenem Tag im November 2019

beliefert, an dem die Fotos aufgenommen
worden sein sollen. Auf Anfrage erklärte
Manner, die Geschäftsbeziehung zu Pro
Ovo „aufgrund von Lieferthematiken und
Lieferproblemen“ vergangenes Jahr been-
det zu haben. Bei einer „mikrobiologi-
schen Eingangskontrolle“ seien keine Ab-
weichungen bei der mutmaßlich verunrei-
nigten Lieferung festgestellt worden. Dem-
nach war die Lieferung von Pro Ovo jeden-
falls nicht gesundheitsschädlich.
Bei dem Treffen in Niederösterreich
gibt es keine Kekse zum Kaffee, schon gar
nicht Löffelbiskuits. Der Informant redet
jetzt von den Kindern seiner Freunde. Er
beugt sich über die Fotos, redet jetzt ein
bisschen langsamer und leiser. Schon als
Babys hätten die Kinder an den Biskotten
von Manner gelutscht. Er schaut jetzt noch
mal auf die Fotos, die schimmeligen Eier,
verzieht das Gesicht. Er selbst war noch nie
ein Fan von Löffelbiskuits, sagt er. „Gott
sei Dank.“
Selbst wenn Lebensmittel nicht gesund-
heitsschädlich sind, sondern nur ungeeig-
net für den Verzehr, sind Unternehmen ver-
pflichtet, die Ware zurückzurufen. Sagt
Carolin Krejci, Leiterin der Verbraucher-
schutz-Abteilung im österreichischen Ge-
sundheitsministerium. Und „ungeeignet“

seien die fraglichen Eier ganz sicher, sagt
sie, als sie die Fotos sieht, die bei Pro Ovo
aufgenommen worden sein sollen. „Da
sind Eier dabei, die verschimmelt sind,
komplett dreckig, völlig zerbrochen“, sagt
Krejci. Ihr Urteil: „Diese Eier dürfen sicher
nicht verarbeitet werden.“
Derart verdorbene Eier wurden aber
offenbar ausgeliefert – obwohl die österrei-
chischen Behörden es hätten verhindern
können.
Schon im November 2019 ging eine An-
zeige bei der Staatsanwaltschaft Wien ein,
im Dezember übernahm dann die Staatsan-
waltschaft St. Pölten, auch das Landeskri-
minalamt Niederösterreich wurde einge-
schaltet. Es wurden Zeugen vernommen.
Der Verdacht: schwerer gewerbsmäßiger
Betrug, darauf stehen bis zu fünf Jahre
Haft.
In den Hallen von Pro Ovo aber haben
die Ermittler bis Redaktionsschluss noch
immer nicht vorbeigeschaut. Und so sind
bis zu diesem Donnerstag seit der Anzeige
86 Tage verstrichen: 86 Tage, an denen täg-
lich womöglich Hunderttausende Eier un-
ter fraglichen hygienischen Umständen
verarbeitet und ausgeliefert wurden. Die
Staatsanwaltschaft St. Pölten erklärte auf
Anfrage, dass eine Warnung von Pro-Ovo-

Kunden oder gar der Öffentlichkeit „nicht
in die Zuständigkeit“ der Behörde falle.
Eigentlich müsste ein Unternehmen wie
Pro Ovo mindestens einmal im Jahr unan-
gekündigten Besuch von der staatlichen
Lebensmittelbehörde bekommen. Die Kon-
trolleure müssen begutachten, wie die Le-
bensmittel aussehen, wie sie riechen, und
sie müssen Proben entnehmen. Eigentlich.
Ob dies tatsächlich der Fall war und wenn
ja, zu welchem Schluss die Kontrolleure ka-
men, sagt die zuständige Behörde auch auf
wiederholte Anfrage nicht.
Dafür hat mittlerweile die Staatsanwalt-
schaft München Vorermittlungen aufge-
nommen. Für Österreich ist man zwar
nicht zuständig, dafür aber für die deut-
schen Abnehmer von Pro Ovo. Sie könnten
Betrugsopfer sein – oder Mittäter, wenn
sie von den Zuständen bei Pro Ovo gewusst
hätten.
Ob die Zustände genau so sind, wie es
der Mann in Niederösterreich beschreibt,
kann nicht unabhängig überprüft werden.
Was der Informant erzählt hat, deckt sich
aber mit internen E-Mails, die SZ undOber-
österreichischen Nachrichten vorliegen.
Manche stammen von Ende Oktober, man-
che von Anfang August. Auch das Landes-
kriminalamt Niederösterreich hat den
Mann bereits vernommen und glaubt ihm,
so ist jedenfalls aus Ermittlerkreisen zu hö-
ren. Die Staatsanwaltschaft betont jedoch,
dass die vorgelegten Beweismittel nur die
Zustände eines einzigen Tages dokumen-
tieren sollen.

Der Whistleblower, der sich endlich
traut, zu reden, holt jetzt unter den Dutzen-
den Fotos eines heraus, zeigt auf eine gelb-
grünliche Glibbermasse. Sie schwimmt in
einem silbernen Bottich und soll eigentlich
direkt in den Keller fließen, ins Mülldepot.
Eigentlich. Er fährt mit seinem Finger ei-
nen blauen Schlauch entlang zu einem gro-
ßen Tank. Dorthin fließe die Pampe aus zer-
brochenen Eiern und mit ihr die Federn,
der Schimmel. Nach und nach werde sie
dann der Produktion zugegeben. Hier ein
bisschen, dort ein bisschen. Der Kunde
werde schon nichts merken. Am besten eig-
ne sich Sucrovo, eine Eiermischung mit
Zucker. „Geschmacklich fällt es da am
wenigsten auf“, sagt der Mann. Wenn das
Gemisch pasteurisiert wird, sollten auch al-
le Keime abgetötet sein.
Und dann sagt er, dass er sich noch gut
daran erinnern könne, wie er zum ersten
Mal den Laster aufgemacht habe mit Eiern
aus England und wie er die Maden gesehen
habe, die aus zerbrochenen Eiern krochen.
Er rutscht jetzt auf seinem Stuhl nach vor-
ne und sagt es noch einmal: Maden. Kurze
Pause. „Das muss entsorgt werden.“
Er sagt das jetzt sehr laut und so ent-
schieden, als könnte er damit ungesche-
hen machen, was wirklich passiert sein
soll. Entsorgt sei nämlich nichts worden,
sagt er. Er lächelt nur müde, wenn er er-
zählt, was das sogenannte Qualitäts-
management unternommen hat. Mit den
Lieferanten wurde telefoniert, sagt er, und
zwar nicht, um die Eier zurückzuschicken,
sondern um einen besseren Preis auszu-
handeln.
Der Mann sagt auch, dass Eier bei Pro
Ovo manchmal monatelang gelagert wür-
den. Im Sommer, wenn die Eier billig sind,
werde eingekauft. Aufgeschlagen aber
würden die Eier erst im Winter, wenn die
Nachfrage und somit der Preis hoch ist.
Dass sie eigentlich innerhalb eines Monats
verarbeitet werden müssten? Geschenkt.
Die angelieferten Eier haben Würmer?
Kein Problem. Auf einem der Fotos sind
Papier-Paletten voller Eier zu sehen, die so
verfault sind, dass sie in sich zusammen-
fallen. „Es wird nichts aussortiert“, sagt
der Mann. Und wenn doch mal eine Kon-
trolle anstand? Seien hektisch alle Spuren
beseitigt worden.
Wie heißt es so schön auf der Pro-Ovo-
Homepage? „Unsere Eier haben keine
Geheimnisse.“

von nadia pantel

A


n diesem Morgen soll für Frivolitä-
ten kein Platz sein. Acht Uhr früh in
einem Wintergarten an den Champs-
Élysées, Kaffee und Brioche stehen bereit.
Eine politische Stiftung befragt hier jeden
Tag einen anderen Bürgermeisterkandida-
ten zu den Themen, die den Parisern das Le-
ben schwer machen. Hohe Mieten, schlech-
te Luft, Müllberge und dazugehörige Nage-
tiere, Staus und Lärm. Es ist einer der Orte,
an denen Frankreich so tut, als interessiere
es sich kein bisschen für das Sexualleben
führender Politiker.
Der Skandal, der den Pariser Wahl-
kampf ins Groteske verschoben hat und
der alle Medien des Landes beschäftigt, lau-
tet offiziell so: Der russische Aktionskünst-
ler Pjotr Pawlenskij hat den Bürgermeister-
kandidaten der Präsidentenpartei La Répu-
blique en Marche, Benjamin Griveaux,
bloßgestellt mit einem kurzen Video, das
ihn angeblich beim Masturbieren zeigt. Ei-
ne unerhörte Vermischung von Privatem
und Politischem – da sind sich Politiker
von ganz links bis ganz rechts völlig einig.
Inoffiziell gestaltet sich die Interessenla-
ge in Frankreichs Hauptstadt ein bisschen
anders. Hast du das Video gesehen?, ge-
hört noch zu den harmloseren Fragen, mit
denen sich die Menschen begrüßen.
Anne Hidalgo, die amtierende und laut
Umfragen auch die künftige Bürgermeiste-
rin von Paris, betritt die Bühne. Griveaux’
Rücktritt am Freitag hat nichts am Konzept
der Fragenden geändert, sie arbeiten gewis-


senhaft die Wahlprogramme der einzelnen
Listen durch. Die Sozialistin Hidalgo ant-
wortet entspannt, verspricht niedrigere
Mieten, bessere Luft, weniger Müll, weni-
ger Staus und Lärm. Von Griveaux redet nie-
mand. Das Fiasko des Teams Macron ist of-
fensichtlich, unnötig nachzutreten.
Nur einmal liegt die Assoziation zu
Griveaux’ virtuellem Seitensprung recht
nah. „Paris ist die Stadt der Trennungen“,
sagt Hidalgo. Jede zweite Ehe werde ge-
schieden, Eltern brauchen meist nicht ei-
ne, sondern zwei Wohnungen, um ihre Kin-
der im Wechsel bei Papa und Mama großzu-
ziehen. Das sei eine zusätzliche Herausfor-
derung für den Immobilienmarkt, der ja
ohnehin dringend eine „dédensification“
brauche – wörtlich eine Ent-Engung.

Einmal eingeführt, fällt das Wort
„dédensification“ in der Folge im Minuten-
takt. Schließlich ist Enge das Pariser
Grundgefühl. Man entschuldigt sich nicht
nur deshalb ständig, weil die Menschen
hier sehr höflich sind, sondern auch, weil
man dauernd gegeneinanderstößt. Überall
Füße, Beine, Schoßhunde.
Griveaux war in dieser Stadt als Kandi-
dat der Betulichkeit angetreten. Seine drei
Kinder erwähnte der 42-Jährige gerne und
regelmäßig. In den von Pawlenskij veröf-

fentlichten Textnachrichten an die 29-jäh-
rige Alexandra de Taddeo schreibt Gri-
veaux allerdings nicht von Vaterfreuden,
sondern fragt die Studentin, ob sie auch
schon von Ehe und Kindern „eingesperrt“
sei. Man kann Griveaux also durchaus eine

Sehnsucht nach „dédensification“, nach
ein wenig Entzerrung unterstellen.
Es wäre „sehr gefährlich“, ja „ungeheu-
erlich“, wenn „eine Person, die ihre Kampa-
gne mit so einer großen Scheinheiligkeit
begonnen hat, an die Macht kommt“, em-

pört sich Pawlenskij am Dienstagabend.
Die Staatsanwaltschaft hatte den Künstler
gerade aus der Justizaufsicht entlassen,
die Ermittlungen gegen ihn wegen Verlet-
zung der Privatsphäre Griveaux’ laufen
weiter. Er wirkt ein wenig verloren, wie er
da vor laufenden Kameras auf die Verkom-
menheit der Mächtigen schimpft. Als hätte
er vergessen, die moralische Keule, die er
schwingt, an sein neues Gastland anzupas-
sen. Es ist fast ungerecht. Die Russen beka-
men den Künstler Pawlenskij noch in der
Großversion. Regelmäßig überraschte er
sie mit neuen Skandalen, verletzte seinen
Mund, sein Skrotum, sein Ohr. Ausgerech-
net in Paris kommt er nun mit Anti-Promis-
kuitäts-Eifer daher. Griveaux war kein per-
fekter Ehemann. Et alors? Na und?

Einer der wenigen, die sich trauen,
Griveaux anzugreifen, ist der Chef der Sozi-
alisten, Olivier Faure. Er wirft Macrons Ex-
Kandidaten nicht dessen Untreue vor, son-
dern die „unglaubliche Blauäugigkeit“, mit
der er agierte. Überraschend ist nicht, dass
ein Politiker fremdgeht. Sein Vergehen
liegt darin, dass er so tölpelhaft vorging
und sich erpressbar gemacht hat. Wobei
Griveaux nicht ahnen konnte, dass die
Frau, an die er sich heranzupirschen ver-
suchte, später engen Kontakt zu einem

Mann haben würde, der nicht davor zu-
rückschreckt, seine Hoden auf den Roten
Platz in Moskau zu nageln. Eine Schmutz-
kampagne gegen einen Bürgermeisterkan-
didaten ist da eher eine Kleinigkeit.
Womit ein weiteres Problem dieser Affä-
re in den Blick kommt: Enge. Nicht nur die
Häuser stehen in Paris zu nah beieinander,
sondern auch die Mächtigen.Le Mondehat
die Monate nachgezeichnet, die Pawlens-
kijs „pornopolitischem Projekt“, so nennt
es der Künstler, vorausgingen. Die Recher-
che liest sich wie ein Kammerspiel in den
ewig gleichen Zirkeln. Die Handlung entfal-
tet sich zwischen Eliteunis und Großbür-
gerwohnungen und findet einen vorläufi-
gen Höhepunkt auf einer Silvesterparty
über dem Café de Flore. Beste Pariser Lage,
hier trifft sich, wer nicht nur Ideen hat, son-
dern auch Geld. Pawlenskij betrinkt sich,
fuchtelt mit einem Messer herum und be-
kommt eine Champagnerflasche auf den
Kopf. Eingeladen (aber nicht erschienen)
waren lautLe Mondeauch Chefredakteure
und Top-Anwälte, darunter Bekannte von
Griveaux’ Ehefrau.
Wie klein die Welt der Wichtigen in
Frankreich ist, beweist am Mittwoch auch
Innenminister Christophe Castaner. Er
will nicht durchgehen lassen, dass der Sozi-
alist Faure Griveaux kritisiert. Er kenne
Faure gut, sagt Castaner in einem Inter-
view: „Ich habe ihn in seinen Scheidungen
und Trennungen begleitet. Es wundert
mich, dass er Lektionen in Moral erteilt.“
Zum politischen Kleinkrieg braucht es gar
keinen Pjotr Pawlenskij.

DEFGH Nr. 42, Donnerstag, 20. Februar 2020 (^) DIE SEITE DREI HF2 3
Er weiß noch, wie er den ersten
Laster aufgemacht habe, darin
Eier aus England – und Maden
Das ist eines der Fotos, die in der Firma Pro Ovo in Österreich aufgenommen worden sein sollen. Sie alle zeigen Eier voller Schimmel, Maden, Fäulnis. FOTO: OH
Es stinkt
Eine der größten Eier verarbeitenden Firmen in Europa soll frische und verdorbene Ware
vermischt und verkauft haben. Die Frage ist, was alles daraus gemacht wurde
Die Liste der Kunden ist lang:
Wirte, Eissalons, Bäckereien,
Nudel- und Keksproduzenten
Das Ganze ist eine Art
Kammerspiel in
den ewig gleichen Zirkeln
Die Pariser Bürgermeisterin redet
lieber über die Enge in ihrer Stadt.
Über Macrons Fiasko: kein Wort
Pjotr Pawlenskij hat ein Privatvideo des Bürgermeisterkandidaten Griveaux
veröffentlicht. Damit hat er sich in Paris eher keine Freunde gemacht. FOTO: AFP
Na und?
Der Künstler, der Porno und der Bürgermeisterkandidat: Die meisten in Paris sind nicht überrascht darüber, dass einer fremdgeht, eher darüber, wie blauäugig man sein kann

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