Süddeutsche Zeitung - 20.02.2020

(Sean Pound) #1
Bei Norbert Röttgen werden in den nächs-
ten Tagen ein paar Dinge langfristig ent-
schieden. Vor allem, wie der Mann wahr-
genommen wird – von seiner Partei und
von den Wählern. Das muss nicht die glei-
che Wahrnehmung sein, denn in der CDU
steht nun alles auf Taktik, und da stört
Norbert Röttgen nur. Die Suche nach dem
neuen Bundesvorsitzenden der Christde-
mokraten wird dank seiner Kandidatur
zu einer (momentan) unberechenbaren
Angelegenheit.
Die Aura des Spielverderbers hängt
Norbert Röttgen an, seitdem er bei der
Landtagswahl 2012 in Nordrhein-Westfa-
len seine Spitzenkandidatur durch einen
Fehler in den Sand gesetzt hat. Röttgen
wollte sich damals nicht auf die Rolle als
Oppositionsführer im Falle einer Niederla-
ge festlegen lassen – und das missfiel den
Wählern. Die Wahl ging verloren, und
Röttgen trat als Landesvorsitzender zu-
rück, von einer Position, die er übrigens
mit einem deutlichen Sympathie- und
Stimmenvorsprung vor einem gewissen
Armin Laschet errungen hatte.
Als er kurz darauf auch noch von Bun-
deskanzlerin Angela Merkel als Umwelt-
minister entlassen wurde, grummelten
nicht wenige in der Union: Gewiss, Nor-
bert Röttgen hatte die Kanzlerin im Wahl-
kampf provoziert, er war angeschlagen
und hätte in der schwierigen Phase des
Atomausstiegs einen geschwächten Fach-
minister abgegeben. Aber die Keule Minis-
terentlassung packt man nur aus sehr
schwerwiegendem Grund aus.
Seitdem wird Röttgen vorgehalten,
dass er auf Rache gegen Merkel aus sei.
Das ist in dieser Härte übertrieben, auch
wenn er die Bundeskanzlerin immer und
immer wieder wegen ihrer defensiven Art

kritisiert. Röttgen weiß aber auch, dass er
Merkel nicht nachhaltig schaden kann. In
außenpolitischen Fragen, Röttgens wich-
tigem Spielfeld als Vorsitzender des Aus-
wärtigen Ausschusses des Bundestags,
trennt die beiden nicht viel. Auf seinen un-
zähligen Reisen in alle Welt gibt er einen
verlässlichen Part im Sinne der Bundesre-
gierung.
Allerdings wäre da diese eine Sache,
die Röttgen deutlich von Merkel und sei-
ner Partei unterscheidet und die ihm gro-
ße Sympathien bei den Wählern ein-
bringt: Der Mann ist frei. Er scheut sich
nicht, Fehler zu benennen und Wahrhei-

ten auszusprechen, während andere in
Parteidisziplin erstarren. Ob über Wladi-
mir Putin in Syrien oder die Europapolitik
des Bundes, ob zu Robert Habecks Feind-
schaftserklärung an Donald Trump –
Röttgen trifft den Ton der Vernünftigen.
Zuletzt hat er das beim Thema 5G bewie-
sen, wo er eine kleine Partei- und Frakti-
onsrevolte zum Schutz der nationalen, di-
gitalen Infrastruktur anführte, die wohl
weitgehend erfolgreich enden wird.
„Muttis Klügsten“ haben sie ihn ge-
nannt, auch um ihn mit diesem Spott ab-
zuwerten. Tatsächlich ist Röttgen klug,
und er schafft es nicht, die Klugheit vor
den weniger Klugen zu verbergen. Das
verpasst ihm das Image des Besserwis-
sers, was im Herdentrieb der Union nicht
gut ankommt. Ebenso wenig goutiert wer-
den Ratschläge, dass die Partei doch bitte
schön Klarheit und Wahrhaftigkeit gegen-
über Rechtsaußen, der Werte-Union, der
Linkspartei und der eigenen Bürgerlich-
keit inklusive ihrer grünen Seele entwi-
ckeln möge – und dass sich diese Klarheit
auch in der Figur des neuen Bundesvorsit-
zenden spiegeln müsse.
Norbert Röttgen, jetzt 54, Absolvent
der juristischen Fakultät der Universität
Bonn, bis heute treuer Bewohner des
Rhein-Sieg-Kreises und somit mit rheini-
scher Gelassenheit und Ironiefähigkeit
ausgestattet, wird nun auf die eigentliche
Kernkompetenz getestet, die für den Vor-
sitz der CDU und auch für die Kanzlerkan-
didatur nötig ist: Kann er den König der
Herzen geben – oder doch nur den König
der Köpfe? Wer auch immer das Urteil
spricht, und wie auch immer es ausfällt:
Norbert Röttgen hat seiner Partei wenigs-
tens mutig mitgeteilt, um was es nun in
Wahrheit geht. stefan kornelius

HERAUSGEGEBEN VOM SÜDDEUTSCHEN VERLAG
VERTRETEN DURCH DEN HERAUSGEBERRAT
CHEFREDAKTEURE:
Kurt Kister, Wolfgang Krach
NACHRICHTENCHEFS:
Iris Mayer, Ulrich Schäfer
AUSSENPOLITIK:Stefan Kornelius
INNENPOLITIK:Detlef Esslinger (komm.)
SEITE DREI:Alexander Gorkow; Karin Steinberger
INVESTIGATIVE RECHERCHE:Bastian Obermayer,
Nicolas RichterKULTUR:Andrian Kreye, Sonja Zekri
WIRTSCHAFT: Dr. MarcBeise
SPORT: Klaus Hoeltzenbein WISSEN: Dr.Patrick Illinger
PANORAMA:Felicitas Kock, Michael Neudecker
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REISE, MOBILITÄT, SONDERTHEMEN:Peter Fahrenholz
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René Hofmann; Sebastian Beck, Ingrid Fuchs,
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von christiane schlötzer

D


er türkische Schriftsteller Ahmet
Altan war eine Woche in Freiheit,
dann kamen sie wieder und nah-
men ihn fest. Ein Istanbuler Gericht hatte
den wortmächtigen Poeten im November
2019 nach einem kafkaesken Prozess von
absurden Terrorvorwürfen freigespro-
chen, es nützte ihm nichts. Der Philan-
throp Osman Kavala, ein Mann, der ge-
wöhnlich eher zurückhaltend auftritt
und keine großen Reden schwingt, konn-
te sich nur sechs Stunden der Illusion hin-
geben, er habe seine Freiheit wieder,
nach zweieinhalb Jahren Untersuchungs-
haft in einer Einzelzelle in einem Hochsi-
cherheitsgefängnis. Dann zog der Istan-
buler Generalstaatsanwalt eine neue
Haftorder aus dem Ärmel.
Die türkische Justiz ist ein Scherben-
haufen. Ob Freispruch oder Haftbefehl,
mit Rechtsprechung hat dies alles nichts
mehr zu tun. Eher schon mit Rache. Und
dem Wahn, die Türkei sei von Feinden
umstellt und unterwandert, wobei schon
zum Feind ernannt wird, wer nur Präsi-
dent Recep Tayyip Erdoğans Allmacht kri-
tisiert. Besonders gefährlich an dieser
Feindsuche ist die in konservativen türki-
schen Kreisen mittlerweile weit verbreite-
te Legende, die Gegner der Türkei stün-
den irgendwo im Westen, und einem Mä-
zen wie Kavala, der mit westlichen Kultur-
institutionen kooperiert, sei schon des-
halb nicht zu trauen. Dahinter steckt ein
altes türkisches Trauma, nun neu belebt,
im Dienste der aktuellen Macht. Solche
Konspirationen vergiften das gesell-
schaftliche Klima. Und diejenigen, die
das immer gleiche Spiel nicht mitmachen
wollen und für eine pluralistische Türkei
eintreten, werden eingeschüchtert.
Dazu sollte der Prozess gegen Kavala
und seine Mitstreiter dienen, er sollte die-
jenigen mundtot machen, die partout
nicht den Mund halten wollen. In diesem

Sinne war der Freispruch ein Unfall, ein
nicht vorgesehenes Ereignis.
Wenn Kavala jetzt von einem Staatsan-
walt vorgeworfen wird, er habe mit dem
Putschversuch vom 15. Juli 2016 zu tun ge-
habt, ist das genauso absurd wie die gera-
de in den Papierkorb der Justizgeschich-
te versenkte Anklage, er sei der Finanzier
der Gezi-Proteste von 2013 gewesen. Soll-
te es zu einem neuen Prozess kommen,
könnte dieser zu einer politischen Wasser-
scheide für die Türkei werden. Denn
schon jetzt macht der Fall Kavala die Brü-
che im System einer absoluten, aber ver-
unsicherten Macht sichtbar.

Da meldet sich der frühere Staatspräsi-
dent Abdullah Gül, einst einer der engs-
ten Weggefährten Erdoğans, und zeigt
den Gezi-Demonstranten, die damals ei-
nen kleinen Park verteidigten, noch im
Nachhinein seinen Respekt – direkt nach
Kavalas erneuter Festnahme. Im Staats-
apparat, in der Justiz, in der Partei, in
Wirtschaftsverbänden, überall gibt es
Zweifler und Mahner, die sich eine Rück-
kehr der Türkei zu einem parlamentari-
schen System und einem funktionieren-
den Rechtsstaat wünschen. Aber nur we-
nige haben bislang den Mut gezeigt, auch
offen dafür einzutreten. Zu groß ist bei
vielen die Angst, es könnte ihnen ergehen
wie Kavala und anderen, die mit faden-
scheinigen Anklagen hinter Gefängnis-
mauern verschwinden.
Für Kavala und seine Familie ist das
Ganze ein menschliches Drama. In einem
Staat, in dem man nicht darauf vertrauen
kann, dass die Justiz zwischen Recht und
Unrecht zu unterscheiden weiß, ist der
Einzelne verloren. Aber den Schaden hat
das ganze Land.

von matthias kolb

W


enn die Staats- und Regierungs-
chefs der EU an diesem Donners-
tag nach Brüssel kommen, um
über den Haushalt für die Jahre zwischen
2021 und 2027 zu beraten, geht es um
mehr als Geld. Sie entscheiden über Zu-
kunft und Glaubwürdigkeit der EU. Die
Verhandlungen lassen sich nämlich nicht
reduzieren auf einen Konflikt zwischen
Nettozahlern wie Deutschland oder Däne-
mark („1,00 Prozent unserer Wirtschafts-
leistung sind genug“) und den Süd- und
Osteuropäern, die stark von Strukturhil-
fen profitieren und 1,11 Prozent fordern.
EU-Ratspräsident Charles Michel ist of-
fenbar bereit, auf das wirksamste Instru-
ment zum Schutz der Rechtsstaatlichkeit
in den EU-Staaten zu verzichten. 2018 hat-
te der damalige Haushaltskommissar
Günther Oettinger angeregt, die Auszah-
lung von Fördergeldern im neuen EU-Bud-
get an die Einhaltung rechtsstaatlicher
Prinzipien zu knüpfen. Die Hoffnung:
Wenn der Entzug von Milliarden droht,
werden die Regierungen einlenken – oder
die Wähler merken, welche Folgen ihr
Kurs hat.
Die EU-Kommission, unterstützt vom
Europaparlament, will so darauf reagie-
ren, dass Justizreformen in Malta, Rumä-
nien oder Bulgarien stocken, während Po-
len und Ungarn den Rechtsstaat abbauen.
Wie wirkungslos aktuelle Instrumente
wie das sogenannte Artikel-7-Verfahren
sind, demonstriert die nationalkonservati-
ve Regierung in Warschau: Sie will ein dra-
konisches Richterknebelungsgesetz
durchsetzen und Urteile des Europäi-
schen Gerichtshofs ignorieren.
Strafen muss Jarosław Kaczyński, Po-
lens mächtigster Politiker, bisher kaum
fürchten, da er mit Ungarns Premier Vik-
tor Orbán gegenseitigen Schutz verein-
bart hat. Orbán, der von einer „illiberalen
Demokratie“ schwärmt und in dessen Hei-

mat die Korruption blüht und Medien ge-
gängelt werden, fühlt sich so stark, dass er
von Europas Christdemokraten eine Rich-
tungsdebatte und einen strammen Rechts-
kurs fordert. Dabei ist die Mitgliedschaft
seiner Fidesz-Partei in der Europäischen
Volkspartei suspendiert.
Oettingers Idee, die Zahlung von För-
dergeld an Bedingungen zu knüpfen, hat
Ratspräsident Michel, der die Verhandlun-
gen leitet, zwar nicht verworfen, aber ihr
die Schärfe genommen. Bisher war vorge-
sehen, dass die EU-Kommission Verstöße
überwacht und „angemessene Maßnah-
men“ vorschlägt. Um Strafen abzuwen-
den, hätten die Sünder klare Mehrheiten
für sich organisieren müssen. Michel hat
das Prinzip umgekehrt: Nun müssten sich
zahlreiche Mitgliedstaaten frontal gegen
die schwarzen Schafe stellen, wozu oft der
Mut fehlt. Schließlich können Ungarn und
Polen per Veto vieles blockieren.

Es ist richtig, dass Bundesfinanzminis-
ter Olaf Scholz (SPD) von „Rückschritt“
spricht und Änderungen fordert. Wenn
die EU auf globaler Bühne die Einhaltung
von Regeln fordert, müssen ihre Mitglie-
der dies auch tun. Deutschland wird als
größte Volkswirtschaft deutlich mehr an
die EU zahlen müssen. Dies ist in Ord-
nung, da es mit seiner Exportwirtschaft
enorm vom EU-Binnenmarkt profitiert.
Für deutsche Firmen ist es essenziell, dass
Gerichte im EU-Ausland unabhängig
sind. Im Interesse der Bürger sollte Berlin
alles dafür tun, dass das Geld aus dem
Haushalt korrekt eingesetzt wird und
nicht versickert. Die Bundesregierung soll-
te bereit sein, mehr zu zahlen, wenn sie so
die Erosion der Rechtsstaatlichkeit stop-
pen kann. Es geht um den Kern der EU.

B


odo Ramelows Vorschlag hatte
Charme und war raffiniert. Char-
mant war die Idee des Linken-Politi-
kers zur Lösung der Thüringer Regie-
rungskrise, weil sie die Denkverbote der
politischen Lager für kurze Zeit aufgeho-
ben hätte – in einer Übergangszeit sollte
eine Regierung unter der Christdemokra-
tin Christine Lieberknecht schnelle Neu-
wahlen ermöglichen. Raffinesse steckte
in der Idee, weil die Linke von baldigen
Wahlen profitiert hätte. Aber die sind drin-
gend notwendig. So hätte dies ein guter
Weg sein können, wäre er nicht an der Poli-
tikunfähigkeit der CDU gescheitert.
Mit ihrem Verzicht hat Lieberknecht
der eigenen Landespartei gezeigt, wie un-


verantwortlich deren Taktieren war. Es
war der früheren Ministerpräsidentin of-
fenkundig zu dumm, wie ihre Christdemo-
kraten Zeit gewinnen wollten und Bedin-
gungen stellten, als hätten sie die Wahl ge-
wonnen – und nicht zum regierungslosen
Chaos einen großen Beitrag geleistet.
Das Fiasko ist aber nicht nur Folge ei-
nes Thüringer Versagens. Die Bundes-
CDU hat mit dem Bestehen auf rigorose
Abgrenzung zur Linken dazu beigetragen.
Zu Recht fordert nun nicht nur Lieber-
knecht, dass der Unvereinbarkeitsbe-
schluss der CDU fallen sollte. Die Partei
muss reden und Politik gestalten dürfen.
Es ist an der Zeit, dass die CDU im Jahr
2020 ankommt. jens schneider

Z


u den wichtigsten Themen der Bre-
xit-Kampagne zählte die Einwande-
rung. „Die Kontrolle zurückgewin-
nen“, so lautete der Sieger-Slogan – und
das sollte besonders für die Grenzen gel-
ten. Die Brexiteers verkauften ihren
Landsleuten die Lüge, es müsse jetzt
schnell gehen, denn mit dem EU-Beitritt
der Türkei stünden demnächst auch noch
76 Millionen Türken vor der Tür. Dass die
Türkei weit davon entfernt ist, EU-Mit-
glied zu werden – wen scherte das schon.
Nun, vier Jahre später, hat die Brexit-
Hardlinerin und Innenministerin Priti Pa-
tel das neue Einwanderungsgesetz vorge-
stellt, und all jene, die sich die Kontrolle zu-
rückwünschen, jubeln. Das Modell lehnt


sich an Australien an; Ungelernte, Hilfs-
kräfte, Menschen ohne ausreichende Eng-
lischkenntnisse haben praktisch keine
Chance mehr. Die bunt gemischte Einwan-
derungsgesellschaft ist am Ende, open Bri-
tain schließt die Türen.
Das ist der Trend der Zeit. Nationalstaa-
ten streben nach Homogenität, schotten
sich ab. Mit der Ideologie einer neuen Be-
völkerungspolitik geht Fremdenfeindlich-
keit einher. Das passt nicht zu Großbritan-
nien. Und es passt nicht zu einer Wirt-
schaft im internationalen Wettbewerb,
die auf Hilfskräfte in Industrie, Gesund-
heit, Service dringend angewiesen ist. Die
Gegenbewegung wird kommen – wenn es
zu spät ist. cathrin kahlweit

I


n Washington gibt es inzwischen eine
lange Liste von Menschen, die dach-
ten, sie könnten auf den Trump-Zug
aufspringen, mitfahren und ihn sogar len-
ken. Ebenso lang ist die Liste jener, die er-
fahren mussten, wie naiv und falsch diese
Vorstellung ist. Sie fielen runter oder wur-
den geschubst und fanden sich mit gebro-
chenen Knochen und zertrümmerter Re-
putation neben den Gleisen wieder. Der
Trump-Zug dampfte weiter.
Dieses Schicksal droht nun auch Wil-
liam Barr. Der Justizminister hat seinem
Präsidenten sehr effektiv den Russland-
Ermittler Robert Mueller vom Hals gehal-
ten. Trump dankt es ihm, indem er sich
per Twitter in laufende Strafverfahren ein-


mischt, Staatsanwälte und Richterinnen
beschimpft und sich zum „obersten Geset-
zeshüter des Landes“ erklärt.
Natürlich ist er das nicht. Der Präsident
hat das Recht, verurteilte Straftäter zu be-
gnadigen, so wie Trump das diese Woche
getan hat. Aber er darf nicht Strafprozesse
von der Seitenlinie kommentieren, Emp-
fehlungen für Urteile abgeben oder Noten
an das juristische Personal verteilen. Die
USA sind nicht das persönliche Sultanat
von Donald Trump, sondern ein Rechts-
staat, in dem Gewaltenteilung gilt. Trump
selbst wird das nie verstehen. Aber Wil-
liam Barr weiß es. Wenn er seinen Ruf ret-
ten will, sollte er schleunigst vom Trump-
Zug abspringen. hubert wetzel

E


s ist in Union und SPD zuletzt
ein wenig aus der Mode gekom-
men, die große Koalition als gro-
ßes Übel zu betrachten. Statt
mit der eigenen Regierung zu
fremdeln, sind selbst die Sozialdemokra-
ten dazu übergegangen, doch irgendwie
alles ganz passabel zu finden. Mit beson-
derem Stolz erfüllt die Koalition der neu-
este Spiegelstrich in ihrer Liste vollende-
ter Taten: die Grundrente, die das Kabi-
nett am Mittwoch beschlossen hat.
Eine schöne Sitzung sei das gewesen,
sagte CSU-Innenminister Horst Seehofer
und nannte die Grundrente den Baustein,
der dem Sozialsystem noch gefehlt habe.
CDU-Gesundheitsminister Jens Spahn
zählte die prominenten Unterstützer der
Grundrente in seiner Partei auf, und SPD-
Sozialminister Hubertus Heil sprach von
der wohl größten Sozialreform der Legis-
laturperiode.


Unbestritten hat diese Regierung seit
ihrem Amtsantritt auch sinnvolle, ja not-
wendige Dinge beschlossen. Die Grund-
rente aber gehört nicht dazu. Dem Sozial-
system fehlt zwar tatsächlich ein Bau-
stein, damit diejenigen, die lange gearbei-
tet haben, es im Alter besser haben als
jene, die das nicht getan haben. Diese
Grundrente aber ist bloß der nächste
Mosaikstein, der das rentenpolitische Ge-
samtkunstwerk der jüngeren Vergangen-
heit als endgültig misslungen entlarvt.
Die Grundrente ist unsystematisch
und letztlich ungerecht: Sie ist kein Mittel
gegen Altersarmut, denn arm im Alter
sind vor allem jene, die gerade nicht auf
die notwendigen 33 Beitragsjahre kom-
men. Sie unterscheidet nicht, ob eine nied-
rige Rente auf niedrigen Löhnen oder Teil-
zeit beruht. Sie belohnt das Modell der nur
mitverdienenden Ehefrau. Die Verwal-
tungskosten sind hoch, und trotzdem ist
unklar, ob die geplante Einkommens-
prüfung funktionieren wird. Rentner, die
unterschiedlich viel eingezahlt haben,
können künftig trotzdem auf annähernd
gleich hohe Renten kommen – andere, die
gleich viel eingezahlt haben, dagegen auf
unterschiedliche. Und während den einen
dank Grundrente der Gang zum Amt samt
Bedürftigkeitsprüfung erspart bleibt,
müssen die anderen, trotz gleicher „Le-
bensleistung“, weiter dorthin – weil sie
vielleicht das Pech haben, in einer teuren
Stadt zu wohnen, sodass sie sich mit der
Grundsicherung besserstellen.
Wer das jedoch vorzubringen wagt,
wird von den Grundrentenbefürwortern


schnell der Missgunst verdächtigt. Noch
am Mittwoch sagte Heil, Einwände nähme
man ernst, „aber nicht jeden Kram, den
Leute sagen“, nur weil sie es den Rentnern
nicht gönnten. Diese Haltung negiert,
dass auch Wissenschaftler das Konzept ab-
lehnen und dass selbst die Rentenversi-
cherung beim Ministerium einen für sie
ungewöhnlichen Totalverriss eingereicht
hat. Heil ist im großen Stil vom Koalitions-
vertrag abgewichen, und die Union war
am Anfang zu verblüfft, am Ende zu mü-
de, um sein Konzept noch grundsätzlich
infrage zu stellen. Die von ihr durchgesetz-
ten Korrekturen konnten die Konstrukti-
onsfehler nicht heilen.
Vermutlich könnte man die Fans der
großen Koalition in Union und SPD nachts
um vier Uhr wecken, sie würden ohne
Texthänger alle verabschiedeten Projekte
der vergangenen zwei Jahre aufsagen. Die
schiere Menge gilt ihnen als Nachweis für
die eigene Entschlossenheit. Doch in
Wahrheit ist es bloß das Geld, das die Re-
gierung zusammenhält, nicht etwa eine
gemeinsame, mutige Zukunftsidee. In der
Rentenpolitik zeigt sich das besonders
deutlich, hier ist es besonders fatal.
Denn die wirklichen Probleme durch
die Alterung der Gesellschaft kommen
erst noch. Antworten darauf hat die Regie-
rung bislang keine, die soll die Renten-
kommission liefern. Nur: Die rentenpoliti-
schen Pflöcke haben Union und SPD
längst eingerammt, während die Kommis-
sion noch streitet, was notwendig wäre für
eine zukunftsfeste Alterssicherung – und
welche dieser Notwendigkeiten man
überhaupt laut aussprechen will, weil sie
im Zweifel, Stichwort höheres Renten-
alter, unbeliebt und politisch nicht oppor-
tun sind.
Mütterrente, Grundrente, Rente mit
63, Haltelinien: Möglich wurde all das nur
durch den sagenhaften Geldsegen, der
seit Jahren auf den Bund niedergeht.
Doch für die heute Jungen bedeuten diese
rentenpolitischen Entscheidungen enor-
me Lasten, dennoch werden sie als genera-
tionengerechte Politik verklärt. Dabei gä-
be es so viel zu tun: Wie lange hält die Ge-
sellschaft das Auseinanderdriften von
Renten und Pensionen noch aus? Wo ist
sie, die günstige, renditestarke Alternati-
ve zur Riester-Tristesse? Könnte man das
Arbeiten nicht viel weiträumiger über die
persönliche Lebenszeit hinweg verteilen?
Warum werden Minijobs subventioniert,
obwohl sie in die Altersarmut führen? War-
um belohnt das Finanzamt die Allein-
verdienerehe?
Wer die Rentenpolitik der Regierung
ablehnt und dieser stattdessen solche Fra-
gen stellt, dem wirft sie gerne vor, die Ge-
nerationen gegeneinander auszuspielen.
In Wahrheit aber ist sie die Spielerin.

Seit der Ex-Bürgermeister
der US-Stadt South Bend die
große politische Bühne betre-
ten hat und Kandidat der De-
mokraten bei der Präsident-
schaftswahl werden will, stellt er die Welt
vor Rätsel: Pete Buttigieg – wie spricht
man das eigentlich aus? Und überhaupt:
Wo kommt der Name her? Für jene US-
Wähler, die schon den Namen des bislang
letzten demokratischen Präsidenten zu
exotisch fanden, wäre eine Nominierung
Buttigiegs ein weiterer Schlag. Während
Barack Hussein Obama ziemlich nahöst-
lich klang, stammte der Name aber aus
Kenia. Buttigieg hingegen lässt sich di-
rekt auf arabische Wurzeln zurückfüh-
ren – auf die Wörter Abu Dadschadsch,
was übersetzt „Vater des Huhns“ bedeu-
tet. Die Vorfahren des Kandidaten stamm-
ten aus Malta, wo die Menschen zwar la-
teinische Buchstaben verwenden, mit ih-
nen aber einen arabischen Dialekt schrei-
ben. Malti, wie die Amtssprache der Insel
heißt, hat einige englische und italieni-
sche Elemente, im Wesentlichen geht es
aber auf die Zeit nach dem Jahr 870 zu-
rück, in dem Araber die Insel eroberten.
Buttigieg spricht übrigens ein wenig Ara-
bisch, zumindest gab er das bei einem
Aufnahmegespräch für eine Eliteeinheit
der US-Army an. Der Armee-Anwerber,
so die Legende, hörte nicht genau hin –
und trug beim Vater des Huhns „Aerobic“
in den Bewerbungsbogen ein. mob

4 HF2 (^) MEINUNG Donnerstag, 20. Februar 2020, Nr. 42DEFGH
FOTO: CHRISTOPH SOEDER/DPA
TÜRKEI
Die Richter und ihr Lenker
EUROPÄISCHE UNION
Vom Preis des Geldes
THÜRINGEN
Politikunfähige CDU
GROSSBRITANNIEN
Geschlossene Gesellschaft
DONALD TRUMP
Er wird es nie verstehen
sz-zeichnung: wolfgang horsch
RENTE
Zukunftsplan gesucht
von henrike roßbach
AKTUELLES LEXIKON
Malti
PROFIL
Norbert
Röttgen
Merkel-Kritiker,
der an die Spitze
der CDU will
Der Fall Kavala beweist am Ende
erneut: Die Justiz agiert am
Gängelband Präsident Erdoğans
Die EU sollte Mitgliedstaaten
nur fördern, wenn diese
die Grundordnung achten
Die neue Grundrente ist
nicht durchdacht. Und gerecht
ist sie auch nicht

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