Süddeutsche Zeitung - 20.02.2020

(Sean Pound) #1
von anna hoben

E


s sind nur 25 Quadratmeter, aber für
Harald Gruber bedeuten diese 25
Quadratmeter die Welt. Er kann nun
endlich wieder in Ruhe schlafen. Er kann
in den Keller gehen, Wäsche waschen und
sie danach in den Trockner geben. Er kann
sich abends auf seinen zwei Herdplatten et-
was kochen. Wenn er Lust hat – sonst eben
nicht. Vor allem kann er, wenn er unter-
wegs war, zurückkommen und die Tür sei-
nes neuen Zuhauses hinter sich zuziehen.
Das alles ist Luxus für ihn. Dreieinhalb Jah-
re war Harald Gruber wohnungslos,
schlief mal bei seiner Mutter, mal bei sei-
ner Freundin und mal draußen an der Isar.
Seit einem Monat hat er wieder eine Woh-
nung. „Ich bin total happy“, sagt Gruber.


Dass es so gekommen ist, hat mit dem
Adventskalender für gute Werke derSüd-
deutschen Zeitungzu tun. Vor allem aber
hat es mit Silvia Oberman zu tun. Die Un-
ternehmerin, die in München eine Praxis
für Permanent Make-up und medizini-
sche Kosmetik betreibt, las im Dezember
den Artikel über Harald Gruber und das,
was ihm zugestoßen ist. Wie er durch ei-
nen rücksichtslosen Investor – denselben,
der später durch den skrupellosen Abriss
des denkmalgeschützten Giesinger Uhr-
macherhäusl schlagartig bekannt wurde –
sein Imbissrestaurant verlor und sehr viel
Geld, das er hineingesteckt hatte. Wie er
daraufhin seine Miete nicht mehr bezah-
len konnte und seine Wohnung verlor. Wie
er seitdem versucht, wieder auf die Beine
zu kommen. Und wie schwer das ist.
„Ich habe das gelesen“, sagt Silvia Ober-
man, „und mein erster Gedanke war, du
hast doch eine Wohnung.“ Ein kleines
Apartment in Obergiesing, das sie einst ge-
kauft und möbliert hatte, als ihr Mann
schwer krank war. Der polnische Pfleger
sollte darin wohnen. Dann starb ihr Mann,
nur ein halbes Jahr später. Sieben Jahre ist
das her. Seitdem hatte Silvia Oberman das
Apartment an Firmen vermietet, die darin
Mitarbeiter unterbrachten, wenn sie eine
Zeit lang in München waren. Nun stand es
leer. Du hast doch eine Wohnung, dachte
sie also, im nächsten Moment zweifelte sie
schon wieder an ihrer Idee. Aber der Ge-
danke ließ sie nicht los. Sie nahm den Arti-
kel mit ins Büro, eine Woche lang lag er auf
ihrem Schreibtisch. Sie schrieb eine Mail
an dieSüddeutsche Zeitung, und dann ging
alles ganz schnell. Die beiden trafen sich
zur Besichtigung in der Wohnung, sie fan-
den einander sofort sympathisch. Mittler-
weile grüßen sie sich per Umarmung.
Was die Wohnung angeht – Harald Gru-
ber hätte jede genommen. Als er das zu ihr
sagte, sei ihr zum ersten Mal die Tragweite
seiner Situation bewusst geworden, sagt
Silvia Oberman. Wie muss sich jemand füh-
len, für den es erst einmal nur darum geht,
ein Dach über dem Kopf zu haben? Wie ist
das, wenn man dringend eine Sozialwoh-
nung sucht, aber man ist nur einer von
13 000 Haushalten, deren Anträge mit
höchster Dringlichkeit im Wohnungsamt
liegen – während die Stadt gerade mal
3000 Wohnungen im Jahr vergeben kann?
Würde sie ihm helfen können, aus dem
Teufelskreis herauszukommen, der heißt:
keine Wohnung, kein Job? „Menschen in
seiner Situation wird zu wenig geholfen“,
sagt sie. Von da an war ihr klar: Sie macht
das jetzt einfach: „Ich bedanke mich damit
für mein eigenes Leben, das eigentlich gut
läuft.“ Auch die Ämter spielten mit; die
Miete, die sie nun bekommt, liegt deutlich
unter dem Preis, den sie früher von den Fir-
men bekommen hat.
Da war nur noch die Sache mit dem
Hund namens Ketchup. Der begleitet Ha-
rald Gruber seit vier Jahren, ist mittlerwei-
le ziemlich groß und ein Grund dafür, dass
er als Wohnungsloser nicht im Männer-
wohnheim nächtigen konnte. Ein Leben


ohne Ketchup ist für Gruber nicht mehr
vorstellbar, vor allem nicht seit ihrem ge-
meinsamen Abenteuer im Jahr 2017: Da-
mals suchte er, arbeitslos und wohnungs-
los, eine Herausforderung – in München
kam ihm alles so sinnlos vor. Er fuhr also
mit dem Fahrrad nach Sardinien, Ketchup
lief nebenher. Rucksack, Isomatte und ein
kleines Zelt, mehr Gepäck hatte er nicht da-
bei. Auch in der Ketchup-Sache sagte Sil-
via Oberman schnell: kein Problem. Sie
hat schließlich nichts gegen Hunde.

Der Mietvertrag ist zunächst auf ein
Jahr befristet, aber Harald Gruber soll blei-
ben können, „so lange es eben sein muss“,
sagt die Vermieterin, so lange er die Woh-
nung braucht. Sie sitzt nun dort auf dem
Sofa, Harald Gruber auf einem Hocker ge-
genüber, und sie sagt: „Ich freue mich,
dass er sich freut.“ Die Resonanz auf den
Adventskalender-Artikel über seine Ge-
schichte ist enorm gewesen. Es ist ihm
wichtig, dass sie alle genannt werden: der
Fußballverein ESV München, dessen A-Ju-
nioren er einst trainiert hat. Sie haben
Geld gesammelt und haben ihm Fotos ge-
schickt von ihrer Mannschaft: damals, als
Achtjährige, so wie er sie kannte, und heu-
te, als junge Erwachsene mit 18 Jahren.
„Wir würden uns sehr freuen, wenn du

mal bei einem unserer Spiele vorbeischau-
en würdest“, schrieben sie in ihrer Karte.
„Wir spielen alle zwei Wochen am Samstag
um 15.30 Uhr auf dem Kunstrasen.“ Ha-
rald Gruber ist ein Bär von Mann, er wirkt
nicht wie jemand, der sich leicht aus der
Fassung bringen lässt. Aber die Karte mit
all den Unterschriften seiner ehemaligen
Fußballjungs hat ihn überwältigt. „Als das

kam, hab’ ich geweint“, sagt er. Vor Rüh-
rung, aber auch, weil er daran dachte, wie
gut es ihm früher gegangen war: „Ich hatte
drei eigene Läden und 17 Mitarbeiter.“ In
dem Moment habe er gemerkt, wie tief das
Loch ist, in das er gefallen war. „Ich krieg’
Gänsehaut“, sagt Silvia Oberman, als er ihr
die Geschichte erzählt. Und dann waren da
noch die Nachbarn aus der Fraunhofer-

straße. Sie starteten eine Extra-Samm-
lung, das Resultat übergaben sie ihm per-
sönlich.
Er hat sich nun endlich neue Schuhe ge-
kauft und einen Kapuzenpulli. Außerdem
ein paar Utensilien für seine neue Küche.
Die große Hilfsbereitschaft hat zwiespälti-
ge Gefühle in ihm hervorgerufen. Sie habe
ihn ein wenig beschämt, sagt Gruber –
„ich habe ja nichts dafür getan, diese Woh-
nung zu kriegen“. Auf der anderen Seite
hat sie ihm neue Hoffnung gegeben und
Auftrieb. Das kann er dringend gebrau-
chen, denn mit 52, sagt er, werde sein
Leben nicht mehr so viele Chancen her-
geben. Früher habe er so gelebt: hinfallen,
aufstehen, Krone richten, weitermachen.
„Jetzt muss ich mich jeden Tag neu moti-
vieren.“
An die Zeit in der Fraunhoferstraße
wird Harald Gruber immer dann erinnert,
wenn er das Tattoo auf seiner Hand an-
schaut. Es zeigt das Logo seines ehemali-
gen Imbissrestaurants, des „Wicked Fla-
vor“. Es wird wohl seine letzte gastronomi-
sche Unternehmung gewesen sein. Mit sie-
ben oder acht Jahren war er mal aus der
Schule gekommen, hatte bei seiner Oma,
bei der er damals aufwuchs, Reis gekocht
und gesagt: „Ich will Koch werden.“ Irgend-
wie war von da an klar gewesen, dass es so
kommen würde. Er war den Berufswunsch
nicht mehr losgeworden, auch wenn er
heute sagt: „Eigentlich hätte ich gerne was
mit Autos gemacht.“ Kfz-Mechatroniker
zum Beispiel. Nach der Schule begann er

die Kochlehre, war nach einem Jahr nah
am Aufgeben, blieb aber dabei. Er arbeite-
te im Restaurant im Olympiaturm und im
Biermuseum, und nach der Lehre ging er
eine Zeit lang zur Bundeswehr. Später ar-
beitete er in verschiedenen Küchen, oft sie-
ben Tage in der Woche, zwölf Stunden am
Tag. Immer in hohen Positionen, als Sous-
chef oder Küchenchef, zuletzt im Bachmai-
er oder im Andechser. „Da gehen an einem
Samstag schon mal 1600 Essen raus.“ Da-
zwischen die Arbeit als Koch auf dem Okto-
berfest und Zeiten der Selbstständigkeit,
immer neue Ideen, neue Experimente.

Heute macht ihm Kochen immer noch
Spaß, „es entspannt mich“. In einer großen
Küche zu arbeiten, kann er sich aber nicht
mehr vorstellen – höchstens in der Organi-
sation. Er hat jetzt eine neue Geschäfts-
idee: Gastronomie-Beratung im Internet,
daran tüftelt er gerade. Er hat wieder die
Ruhe dazu, weil er ein Zuhause ein. Jeden
Tag geht er mit seinem Hund Ketchup
raus, eine Runde um den Ostfriedhof lau-
fen, oft auch mehr, neun oder zehn Kilome-
ter. Er kommt dann zurück, in seine eigene
Wohnung, und macht die Tür zu. „Das ist
einfach endcool.“ Harald Gruber hat eine
harte Zeit hinter sich. „Aber 2020“, sagt er,
„da hab’ ich ein gutes Gefühl.“

Nach der Berichterstattung über einen obdachlosen Mann meldeten sich viele Men-
schen in der Redaktion, die helfen wollten. FOTO: ALESSANDRA SCHELLNEGGER / BEARBEITUNG: SZ

Er hat jetzt eine
neue Geschäftsidee:
Gastronomieberatung

Ein Dach, ein Bett – und endlich Zuversicht


Wegen eines rücksichtslosen Investors verlor Harald Gruber erst seine wirtschaftliche Existenz, dann seine Wohnung.
Dreieinhalb Jahre war der gelernte Koch obdachlos. Nach einem SZ-Artikel war die Resonanz groß. Jetzt hat er wieder eine Bleibe

Silvia Oberman hat das Schicksal von Harald Gruber so bewegt, dass sie ihm nun ein kleines Apartment vermietet. FOTO: FLORIAN PELJAK

WAS WURDE AUS...


Als sich junge Fußballer, die er
früher mal trainierte, bei ihm
meldeten, musste er weinen

... dem Mann, der erst seinen
Imbiss aufgeben musste und
dann aus der Wohnung flog

R6 – (^) LEUTE Donnerstag, 20. Februar 2020, Nr. 42DEFGH
Das große Geschäft
mit deinen Daten
Die SZ-Journalisten Hannes Munzinger, Felix Ebert und Vanessa Wormer recherchieren regelmäßig über Missbrauch
von Daten, die wir bei der Nutzung digitaler Dienste hinterlassen. Sie berichten über das große Geschäft, das Unter-
nehmen unter Stichworten wir Targeting, Profiling und Tracking dank unserer täglichen Nutzung von Smartphones und
Tablets mit unseren Daten machen. Sie sprechen darüber, wie wir uns vor dem Schlimmsten schützen können.
Dienstag, 3. März 2020 | 19.00 Uhr | Eintritt frei (eine Anmeldung ist nicht erforderlich)
Münchner Stadtbibliothek Am Gasteig, Rosenheimer Str. 5, München
Weitere Informationen auf:
sz-veranstaltungen.de
Ein Angebot der Süddeutsche Zeitung GmbH · Hultschiner Str. 8 · 81677 München
In Kooperation mit:
WERKSTAT T
GESPRÄCH

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