Süddeutsche Zeitung - 20.02.2020

(Sean Pound) #1
von christian wernicke

Düsseldorf/Kelkheim – Das Volk ruft
nach ihm. Ja, es schreit sogar. „Armin!“, ru-
fen seine Fans vom Parkett des Aachener
Festsaals, „Armin, du musst es machen!“
Der Mann, der auf der Bühne diese Stim-
mung angezettelt hat, lächelt zufrieden.
Dies ist der ganz und gar geplante Höhe-
punkt von Armin Laschets handgeschrie-
bener Büttenrede als „Ritter wider den tie-
rischen Ernst“. Seine jecke Frage, wer denn
nun „Deutschlands next Mutti“ werden sol-
le, steht im Skript. Und Laschet wusste ge-
nau, wie sie daheim reagieren würden auf
seine scheinbar so ratlose Frage, wer in
aller Welt den Kanzlerjob denn nur über-
nehmen solle. Drei, vier Sekunden genießt
er den Jubel, die Huldigungen. Dann blickt
er auf den Teleprompter an der Saalwand,
winkt und liest ab: „Nein, nein, nein, nicht
ich. Quatsch!“

Aus dem Aachener Karnevalsspaß vor
zwölf Tagen ist längst Ernst geworden. Bit-
terer Ernst. 36 Stunden danach kündigte
CDU-Chefin AKK ihren Verzicht auf Partei-
führung und Kanzlerkandidatur an, seit-
her taumelt die Union in der Krise. Und
Armin Laschet steckt, als Partei- und Re-
gierungschef des bevölkerungsstärksten
Bundeslandes, mittendrin.
Laschet, zugleich CDU-Bundesvize, fällt
bei der Neuaufstellung seiner Partei eine
Schlüsselrolle zu. Nur welche – als Königs-
macher oder als Partei-Prinz mit eigenen
Ambitionen? Der oft unterschätzte, weil all-
zeit joviale Rheinländer ist neben dem kon-
servativen Friedrich Merz und dem Jung-
star Jens Spahn einer von drei Christdemo-
kraten aus Nordrhein-Westfalen, die sich
(bislang noch unerklärt) die beiden mächti-
gen Berliner Ämter zutrauen. Ein viertes
Landeskind, Laschets einstiger Weggefähr-
te und Ex-Freund Norbert Röttgen, hat
sich am Dienstag sogar offiziell beworben.
Das verändert die Lage erneut, und nicht
unbedingt zu Laschets Gunsten. „Er und
Laschet pflegen dasselbe liberale, moder-
ne Profil“, sagt ein Düsseldorfer Insider,
„nur kann Röttgen besser blenden.“
Noch zu Beginn der Woche sah es aus
Düsseldorfer Perspektive so aus, „dass al-
les auf Laschet zuläuft“. So sagte es da ein
gut informierter CDU-Politiker, der bisher
nicht zum engsten Fanklub des Landesva-
ters zählt. Laschet, der Netzwerker und
Strippenzieher, bastelte an einer „Team-
lösung“ für die künftige CDU-Spitze, die
der Partei und ihm selbst Kampfabstim-
mungen ersparen sollte. Diesen Weg nach
oben hat Röttgen, der „Team als ein ande-
res Wort für Hinterzimmer“ denunzierte,
nun versperrt. Er kandidiert gegen alle, ver-
langt sogar eine Mitgliederbefragung.
Laschet muss sich entscheiden: Zieht er
in den offenen Kampf um die Macht in der
Partei und Republik? Riskiert er, sich im
Falle einer Niederlage mit nicht mal 60 Jah-
ren auch in seinem geliebten Amt des NRW-
Ministerpräsident zu beschädigen?

Viele Parteifreunde trauen das „unsrem
Armin“ nicht zu. Laschet, studierter Jurist
und gelernter Journalist, gilt ihnen als „zu
nett“, als Zauderer. Der gläubige Katholik
musste Demut lernen, erst im jeweils zwei-
ten Anlauf wurde er Partei- und Fraktions-
chef in NRW. Der Sieg bei der Landtags-
wahl im Mai 2017 gegen ausgelaugte Sozial-
demokraten hat ihn selbst überrascht. Nur
kalkuliert der Mann sein Risiko präzise. La-
schet, der Fußballfan, wettet zwar lau und
setzt nur auf Unentschieden – aber er kann
vorrechnen, wie er so unterm Strich Gewin-
ne einstreicht.
Eher bescheidene Erwartungen eröff-
nen allerdings die Chance, sein Publikum
zu überraschen. So geschehen im hessi-
schen Kelkheim im Frankfurter Speckgür-
tel, wo die lokalen Christdemokraten all-
jährlich einen CDU-Prominenten zum „Va-
lentinstreffen“ auftreten lässt. 400 meist
ältere Parteisemester sind gekommen, die
Blaskapelle spielt. Den Gastredner vom
Rhein erwartet kein Heimspiel, als er vori-
gen Freitag die Stadthalle betritt: Der Bei-
fall ist freundlich, aber befragte Besucher
hegen eher Hoffnungen, „dass jetzt der
Merz rankommt“. Damit sich endlich was
ändere, „der Laschet ist ja eher bei Merkel,
oder?“ Dann verhaspelt sich der örtliche
Parteichef und begrüßt herzlich „den Mi-
nisterpräsidenten Lasch ... äh“.

Laschet ficht das nicht an. Er gibt sich
als loyaler Diener der Partei, zu Personal-
fragen und eigenem Ehrgeiz wolle er
„nicht mal eine Andeutung machen“. Und
doch zeichnet er mit zartem Strich von sich
selbst das Bild eines Aspiranten, der genau
jene Eigenschaften mitbringe, die Partei
und Land jetzt bräuchten.
Der Noch-nicht-Kandidat spricht frei,
wandert rechts wie links hin und her auf
der Bühne und präsentiert sich als Mann
des Ausgleichs. Er preist „Maß und Mitte“,
sein Regierungsmotto in NRW, als Rezept
für Europa, für Berlin, für die Partei. Ein-
dringlich warnt er vor „Brüchen“, die Zei-
ten seien ernst, siehe Thüringen, siehe
AfD, siehe Mordanschläge von Rechtsextre-
men: „Was wäre, wenn wir demnächst fünf
oder sechs Millionen Arbeitslose haben –
wie wäre dann die Stimmung im Land?“
Erster Beifall wallt auf.
Überhaupt, die wirtschaftliche Lage. La-
schet, daheim als fast präsidentieller Lan-
desvater bekannt, spricht lang über die
Grundlagen des Wohlstands. Vom Grund-
gesetz, vom Sozialstaat, von der Mitbestim-
mung. Nur sei heute eben „die Front nicht
mehr Kapital gegen Arbeit“, belehrt er,
„sondern: Wie schaffen wir es, Umwelt-
und Klimaschutz mit dem Ziel zu vereinba-
ren, Industrieland zu sein?“ Im Parkett ni-
cken ergraute Köpfe, während Laschet sei-

ne Arbeit in NRW als Modell empfiehlt.
Auch da regiere ein Team, und der Konflikt
um die Braunkohle, den Hambacher Forst
oder auch um den Radschnellweg im Ruhr-
gebiet, „bei dem die Grünen jetzt lernen,
dass es immer Leute gibt, die dagegen
sind“ – all das habe er durchgestanden
„mit Maß und Mitte, und das ist, was wir
auch in Berlin wieder brauchen“. Der Bei-
fall im Saal schwillt an. Das alles klingt
noch vage. Aber Laschet könnte, wenn ihn
jetzt der Konkurrent Röttgen aus der De-
ckung zwingt, dieses Thema zu einem prä-
zisen „Projekt“, zur (auch persönlichen) Zu-
kunftsmission entwickeln.
Gegen Ende seiner Rede erntet Laschet,
selbsterklärter Ausgleicher und Teamspie-
ler, Ovationen. Auf Nachfrage offenbart er
Finesse: „Wer ist eigentlich unser Haupt-
wettbewerber? Wenn das die Grünen
sind ...“ Pause, dann weiter: Man lebe
längst in Zeiten, da es „in einer bürgerli-
chen Stadt wie dieser mal theoretisch ei-
nen grünen Bürgermeister geben könnte“.
Der Saal johlt, Laschet grinst, er hat sich ja
informiert: In Kelkheim regieren die Grü-
nen seit 2016. Allzu grüne Zustände in Ber-
lin zu verhindern, auch dafür empfiehlt
sich der Gast. Nur offenbaren mag er sich
nicht. „Ich habe ja nichts gesagt“, bemerkt
er und grinst. Nur weiß er: Die Zeit, da ihn
das weiterbringt, läuft ab.  Seite 4

Berlin –Rund 1,3 Millionen Menschen
mit kleinen Renten sollen vom kommen-
den Jahr an Aufschläge auf ihre Bezüge
erhalten. Nach monatelangem Streit
brachte die Bundesregierung dafür am
Mittwoch die geplante Grundrente auf
den Weg. Das Bundeskabinett be-
schloss den entsprechenden Gesetzent-
wurf von Arbeitsminister Hubertus Heil
(SPD). Profitieren sollen all jene mit
mindestens 33 Jahren Beitragsleistun-
gen für Beschäftigung, Erziehung oder
Pflege. Im Startjahr 2021 soll die Grund-
rente die Steuerzahler 1,3 Milliarden
Euro kosten. Bereits im vergangenen
Frühjahr hatte Heil Pläne für die Grund-
rente vorgelegt. Für die Union waren
diese aber zu weitgehend. Über Monate
stritten und verhandelten die Koalitions-
partner über die Pläne. dpa  Seite 4


Karlsruhe– Das Bundesverfassungsge-
richt will seine Anfangsjahre in der
jungen Bundesrepublik auf mögliche
personelle Verquickungen mit der Zeit
des Nationalsozialismus durchleuchten
lassen. Das hätten die 16 Richter der
beiden Senate im Plenum beschlossen,
sagte Präsident Andreas Voßkuhle am
Dienstagabend beim Jahrespresseemp-
fang des Gerichts in Karlsruhe. Bei
zwei, drei Personen seien Verflechtun-
gen bereits bekannt. Es sei sinnvoll,
sich das in einem strukturierten Pro-
zess genauer anzuschauen. Eine beson-
ders problematische Figur ist Willi Gei-
ger, der im Nationalsozialismus an ei-
nem Sondergericht mehrere Todesurtei-
le erwirkte. Von 1951 bis 1977 war er
Verfassungsrichter. Das Bundesjustiz-
ministerium hatte sein NS-Erbe bis
2016 aufarbeiten lassen („Die Akte Ro-
senburg“). Dabei war herausgekom-
men, dass in der Nachkriegszeit mehr
als die Hälfte der Führungskräfte ehe-
malige NSDAP-Mitglieder waren. Jeder
Fünfte war SA-Mann. dpa


Berlin –Ein aus Hessen nach Berlin
gewechselter Polizist steht unter Rechts-
extremismus-Verdacht. Der Mann soll
Mitglied in einer der Chatgruppen gewe-
sen sein, in der unter anderem auch
hessische Polizisten Sprüche und Bilder
mit rechtsextremistischem Hinter-
grund ausgetauscht hatten. Das teilten
die Berliner Polizei und die Staatsan-
waltschaft Frankfurt mit. Gegen zahlrei-
che Mitglieder dieser Chatgruppen wird
seit Längerem in Hessen ermittelt. Be-
reits am 7. Februar durchsuchte die
Berliner Polizei die Wohnung und den
Arbeitsplatz ihres Kollegen und be-
schlagnahmte Beweise. Bei den Vorwür-
fen geht es offiziell um den Verdacht
der Volksverhetzung und des Verwen-
dens von Kennzeichen verfassungswid-
riger Organisationen. Die Teilnehmer
der Chatgruppe sollen unter anderem
auch „Gewaltdarstellungen und rechts-
extreme Inhalte ausgetauscht“ haben.
Die Berliner Polizei betonte, der Wech-
sel des Polizisten nach Berlin sei erfolgt,
bevor der Chat in der WhatsApp-Grup-
pe bekannt geworden sei. dpa


Zauderer unter Zeitdruck


Nach dem Rückzug von Annegret Kramp-Karrenbauer sah es so aus, als sei Armin Laschet der Favorit für den
CDU-Vorsitz. Doch viele Parteifreunde halten ihn für zu nett, und er selbst vermeidet es, aus der Deckung zu kommen

INLAND


Berlin– Für den von Angehörigen militäri-
scher und polizeilicher Spezialeinheiten ge-
gründeten Verein Uniter interessiert sich
jetzt auch der Verfassungsschutz. Der Ver-
ein, der im Verdacht steht, ein Sammelbe-
cken für Rechtsextremisten zu sein, war
schon mehrfach Thema im geheim tagen-
den Parlamentarischen Kontrollgremium
des Bundestages.
DerSpiegelberichtete am Mittwoch, das
Bundesamt für Verfassungsschutz (Bf V)
habe den Verein nun zum „Prüffall“ er-
klärt. Über Prüffälle, bei denen der Einsatz
nachrichtendienstlicher Mittel nicht ge-
stattet ist, darf der Verfassungsschutz
nicht öffentlich berichten. Das hatte ein Ge-
richt zuletzt mit Blick auf die AfD-Beobach-
tung festgestellt. Das Bundesamt erklärte
auf Anfrage, Uniter sei derzeit kein Beob-
achtungsobjekt. In Erfüllung seines gesetz-
lichen Auftrags bewerte das BfV jedoch
„fortlaufend verschiedene Personenzu-
sammenschlüsse hinsichtlich des Vorlie-
gens von tatsächlichen Anhaltspunkten
für eine Bestrebung gegen die freiheitlich
demokratische Grundordnung“.
Uniter war im Zuge der Ermittlungen zu
Franco A. ins Visier der Behörden geraten,
ohne dass er selbst Mitglied war. Der Bun-
deswehroffizier hatte sich als syrischer
Flüchtling ausgegeben. Er steht im Ver-
dacht, aus einer rechtsextremen Gesin-
nung heraus Anschläge geplant zu haben.
André S., Spitzname „Hannibal“, ist ein Mit-
begründer von Uniter. Er war lange im
Kommando Spezialkräfte (KSK) eingesetzt
und wurde ab dem Sommer 2017 bis zu sei-
ner Versetzung zu einer anderen Einheit
als „Auskunftsperson“ vom Militärischen
Abschirmdienst (MAD) befragt. Im vergan-
genen September war er aus der Bundes-
wehr ausgeschieden.
Uniter wurde nach eigenen Angaben im
Jahr 2010 von Mitgliedern aus zwei Netz-
werken für Kommandoeinheiten der Bun-
deswehr und der Polizei sowie einer Grup-
pe aus dem europäischen Nato-Komman-
do Shape gegründet. Die Vereinsführung
weist Verbindungen in kriminell-extremis-
tische Strukturen und den Vorwurf einer
politischen Agenda zurück. Medien hatten
zuvor über Pläne für eine „Schattenar-
mee“ berichtet. Ermittler haben dafür bis-
lang keine Belege. dpa


Kiel/Berlin –Pflege im Heim wird immer
teurer. Die Eigenanteile, die Pflegebedürf-
tige und ihre Familien aus eigener Tasche
zahlen müssen, stiegen weiter auf nun
1940 Euro im Monat im bundesweiten
Schnitt – das sind 110 Euro mehr als An-
fang 2019, wie aus aktuellen Daten des Ver-
bands der Ersatzkassen (vdek) hervorgeht.
Es gibt nach wie vor große regionale Unter-
schiede: In Schleswig-Holstein liegt der Ei-
genanteil mit 1769 Euro zwar unter dem
Bundesdurchschnitt, die Steigerung im
Vergleich zu Beginn 2019 mit 185 Euro liegt
aber deutlich höher. Am teuersten bleiben
Heimplätze in Nordrhein-Westfalen mit
nun durchschnittlich 2357 Euro. Am nied-
rigsten sind die Zuzahlungen mit 1359 Eu-
ro in Sachsen-Anhalt.
Patientenschützer dringen auf baldige
Entlastungen. Auch Schleswig-Holsteins
Gesundheitsminister Heiner Garg (FDP)
sieht Handlungsbedarf. „Ich erwarte, dass
die Bundesregierung unsere Bundesratsin-
itiative für einen Zuschuss aus Steuermit-
teln zur Pflegefinanzierung aufgreift“, sag-
te Garg. Die Sicherstellung der pflegeri-
schen Versorgung sei eine gesamtgesell-
schaftliche Aufgabe. „Menschenwürdige
Pflege muss als Solidarleistung ermöglicht
werden.“ Garg hatte 2019 eine entsprechen-
de Bundesrats-Initiative eingebracht. Ne-
ben einem Steuerzuschuss sollten nach
den Vorstellungen des FDP-Politikers die
Kosten der medizinischen Behandlungs-
pflege für Bewohner in stationären Pflege-
einrichtungen aus der Krankenversiche-
rung finanziert werden.
In den Summen ist zum einen der Eigen-
anteil für die reine Pflege und Betreuung
enthalten. Für Heimbewohner kommen da-
neben noch Kosten für Unterkunft, Verpfle-
gung und auch für Investitionen in den Ein-
richtungen dazu. Der Eigenanteil allein für
die reine Pflege stieg im bundesweiten
Schnitt auf 731 Euro im Monat, nachdem
es zum 1. Januar 2019 noch 655 Euro gewe-
sen waren. Bundesweit am höchsten ist
der Eigenanteil für die reine Pflege weiter
in Baden-Württemberg: Er beträgt nun
durchschnittlich 1006 Euro. dpa

Ermittlungen gegen Polizisten


Berlin– Wenn nicht alles täuscht, gehen
der CDU Deutschlands bald die weibli-
chen Führungskräfte aus. Gesucht wer-
den eine oder mehrere Nachfolgelösun-
gen für die Noch-Parteivorsitzende An-
negret Kramp-Karrenbauer sowie die
Noch-Kanzlerin Angela Merkel, und bis-
lang scheinen sich ausschließlich Män-
ner aus Nordrhein-Westfalen für diese
Jobs zu interessieren. Nämlich der Kan-
didat Norbert Röttgen sowie die Viel-
leicht- oder Höchstwahrscheinlich-Kan-
didaten Friedrich Merz, Armin Laschet
und Jens Spahn. Auch die verpasste
Chance der CDU in Thüringen, mithilfe
der Linkspartei zumindest für kurze Zeit
eine einzige Ministerpräsidentin in der
Republik zu stellen, wirft ein Schlaglicht
auf den strukturellen Männerüber-
schuss in der Noch-Volkspartei.
Es ist deshalb eine hübsche Volte,
dass Angela Merkel ihre handgestoppt
erste Pressefragerunde seit der Zuspit-
zung der Personaldebatte ausgerechnet
an der Seite von Sanna Marin absolvier-
te. Die 34 Jahre alte finnische Regie-
rungschefin leitet das mutmaßlich weib-
lichste Kabinett der Welt, alle fünf Regie-
rungsparteien werden von Frauen ange-
führt, vier davon sind erst Mitte Dreißig.
Und die CDU hat echt nur Männer aus
NRW im Zukunftsangebot? Muss
Deutschland mehr Finnland wagen?
Wenn man die Kanzlerin so neben der
31 Jahre jüngeren Marin stehen sieht,
denkt man unweigerlich an den eben-
falls in die Jahre gekommen Spitznamen
„Mutti“. Zum, nun ja, Generationswech-
sel an der Parteispitze sagt Merkel aber
nur, dass die dazu nichts sagt. Auch bei
der Kanzlerkandidatur werde sie sich
nicht einmischen: „Meine Erfahrung his-
torischer Art ist, dass die Vorgänger sich
aus so etwas heraushalten sollten. Und
das befolge ich.“ Das bedeute aber nicht,
dass sie sich mit möglichen Kandidaten
nicht unterhalte.
Auf die Frage, wen sie vor Augen ha-
be, wenn sie an ein mächtiges Amt den-
ke, hat Sanna Marin übrigens mal ge-
sagt: Angela Merkel.
boris herrmann

DEFGH Nr. 42, Donnerstag, 20. Februar 2020 (^) POLITIK HF3 5
Verfassungsschutz führt
Uniter als Prüffall
BVG prüft sich selbst
Finnlandisiert
Lehrreicher Besuch bei Merkel
Erfurt –Es ist Susanne Hennig-Wellsow,
Landes- und Fraktionschefin der Thürin-
ger Linken, die die Stimmung auf den
Punkt bringt. Mit dünnem Lächeln tritt sie
vor die Journalisten, von denen man nicht
weiß, ob sie wieder auf den Landtagsfluren
lungern oder immer noch. „Guten Morgen
in Thüringen, wieder ein neuer Tag in Ab-
surdistan.“ Die politischen Ereignisse im
Freistaat, sie wirken mitunter wie eine öf-
fentlich-rechtliche Krankenhaus-Serie,
nennen wir sie: „In aller Feindschaft.“ Die
ganze Zeit passiert krasses Zeug, eine über-
raschende Wendung folgt auf die nächste,
aber am Ende ist alles wieder so wie es am
Anfang war. Nur, dass sich anders als im
Fernsehen eben kein Gefühl der Behaglich-
keit einstellt, sondern eine schleichende
Frustration, die in Zigaretten und Sarkas-
mus ihr Ventil findet.
Etwa 36 Stunden hat sie sich gehalten,
die Idee Bodo Ramelows (Linke), seine Vor-
gängerin Christine Lieberknecht (CDU) zur
Übergangs-Regierungschefin zu machen,
gewählt von einem Landtag in Auflösung,
flankiert von drei rot-rot-grünen Minis-
tern. Immerhin einen halben Tag länger
als der FDP-Mann Thomas Kemmerich,
der Anfang Februar mit Stimmen der AfD
zum Ministerpräsidenten gewählt wurde.
Am Mittwochmorgen ist klar: Christine
Lieberknecht will nicht die Hauptdarstelle-
rin dieser neuen Erfurter Episode sein.
Auch weil ihre Partei Ramelows Vorstoß ab-
gelehnt und einen Gegenvorschlag unter-
breitet hat: Zwar begrüße man die Persona-
lie Lieberknecht, aber nur mit einer partei-
übergreifenden Expertenregierung. Neu-
wahlen erst später. Angesichts der für die
CDU desaströsen Umfragewerte wirkte
das wie ein Spiel auf Zeit. Bis kurz vor Mit-
ternacht hatten Vertreter der Fraktionen
am Dienstag die Szenarien diskutiert. Um
dann ohne Ergebnis vor die Tür zu treten.
Bis Freitag, hieß es, wolle man eine Lösung
finden. Auch dieser Zeitplan steht nun auf
der Kippe. Eigentlich ein ganzes Land.
Sie habe sich von Anfang an nur für die
Lösung von Ex-Ministerpräsident Bodo Ra-
melow bereit erklärt, sagte Lieberknecht
derThüringer Allgemeinen. „Ich bin raus
aus der Debatte.“ Der Widerspruch zwi-
schen Rot-Rot-Grün und ihrer Partei lasse
sich nicht auflösen. Einzige Lösung ist laut
Lieberknecht eine Koalition von Linke und
CDU. „Wer jetzt keine Neuwahlen will,
muss Bodo Ramelow mit verlässlicher
Mehrheit zurück ins Ministerpräsidenten-
amt verhelfen und dann am besten mit
ihm in eine Regierung gehen, ob das nun
Projektregierung oder anders heißt.“
Für ihre klare Haltung erntet Lieber-
knecht am Mittwoch fraktionsübergrei-
fend eine Mischung aus Bedauern und Re-
spekt. Linke, SPD und Grüne pflichten ihr
bei, dass es jetzt nur noch zwei Möglichkei-
ten gebe: sofortige Neuwahlen oder eine
rot-rot-grüne Minderheitsregierung, ge-
stützt durch die CDU.
„Der Vorschlag von Bodo Ramelow ist
von der CDU-Fraktion bis zur Unkenntlich-
keit gebogen worden“, sagt Matthias Hey,
Vorsitzender der SPD-Fraktion. Am Abend
zuvor hat er mit leerem Blick und einer Pa-
ckung Edel Nougat vor der Brust dem ratlo-
sen Statement seines Genossen Wolfgang
Tiefensee gelauscht. „Wir müssen jetzt ein-
fordern, dass die CDU etwas für das Land
tut und nicht nur für die eigene Partei“,
sagt Hey. Selbst bei einer „Regierung Ra-
melow“ seien die Mehrheitsverhältnisse
im Landtag noch dieselben. Es brauche da-
her eine Art Kooperationsvertrag, um fest-
zuschreiben, wie sich die CDU beispielswei-
se bei Anträgen der AfD verhalte. „Bei mei-
nen Fraktionären ist das Vertrauen nach-
haltig gestört. Ich sage aber auch: Als Block
von Demokraten können wir nicht nur auf
den 5. Februar rekurrieren. Wir müssen da-
für sorgen, dass die AfD uns nicht erneut
vorführen kann“, sagt Hey. Natürlich wer-
de man Bodo Ramelow nur aufstellen,
wenn die CDU eine Mehrheit im ersten
Wahlgang zusichere, sagt Susanne Hennig-
Wellsow und wird sich schon selbst vor-
kommen wie eine Schallplatte mit Sprung,
so oft hat sie diesen Satz in den vergange-
nen Tagen in Mikrofone sprechen müssen.
Dass Lieberknecht nun ihrer eigenen
Partei eine Abfuhr erteilt hat, lässt die
Christdemokraten einmal mehr wie glück-
lose Taktierer wirken. Allen voran Mike
Mohring, mit dem sich Lieberknecht 2009
ein Gefecht von Denver-Clan-mäßigem
Ausmaß um den Posten des scheidenden
CDU-Ministerpräsidenten Dieter Althaus
lieferte. Am Nachmittag tritt der CDU-Lan-
deschef aus der Fraktionssitzung seiner
Partei, zuversichtlicher, als es die Situation
gebietet: Eigentlich hatte die Fraktion ihm
heute die Vertrauensfrage stellen wollen,
aber dazu kommt es nicht. Mohring bleibt
Chef, bis am 2. März ein neuer Vorstand ge-
wählt wird. Er selbst hat versichert, nicht
mehr antreten zu wollen. Und doch wirkt
er nicht gerade wie jemand, der vor den
Trümmern seiner Karriere steht.
Er bedaure den Rückzug Lieberknechts,
sagt Mohring, verstehe aber ihre Gründe,
teile auch ihre Einschätzung der Lage. Der
CDU-Mann kritisiert den Beschluss der
Bundespartei, nicht mit der Linken und
der AfD zusammenzuarbeiten. Das Koope-
rationsverbot sei grundsätzlich richtig, je-
doch „nicht vereinbar mit der Lebensreali-
tät in Thüringen“. „Ich plädiere dafür, dass
man den Landesverbänden zutraut, den
Beschluss so auszulegen, dass politische
Handlungsfähigkeit besteht. Ein Partei-
tagsbeschluss kann nicht höher stehen als
das Wohl des Landes.“ Man könne sich
schließlich nicht von Neuwahl zu Neuwahl
hangeln, bis das Ergebnis stimme, so Moh-
ring. Auf die Frage, ob man wieder dort an-
gelangt sei, wo man nach der Landtags-
wahl Ende Oktober gewesen sei, nickt er:
„So ist es.“ Die CDU-Fraktion habe sich je-
doch auf einen Vorschlag verständigt, den
man nun mit in die Gespräche mit Rot-Rot-
Grün nehmen werde. Über Details habe
man Vertraulichkeit vereinbart. Wird die
CDU am Ende Ramelow stützen? Mohring
sagt dazu nichts. Das nennt man wohl ei-
nen Cliffhanger. ulrike nimz  Seite 4
Mohring kritisiert den Beschluss
der Bundespartei, nicht mit
Linken und AfD zu kooperieren
Sanna Marin am Mittwoch bei der Bun-
deskanzlerin. FOTO: DPA
Belastetes Verhältnis: CDU-Fraktionschef Mike Mohrung und Ministerpräsidentin
Christine Lieberknecht vor der Landtagssitzung im Herbst 2014. FOTO: IMAGO
Der gläubige Katholik musste
Demut lernen, erst im zweiten
Anlauf wurde er CDU-Chef in NRW
In Hessen gefeiert: NRW-Ministerpräsident Armin Laschet nimmt nach seiner Rede beim Valentinstreffen der CDU Kelk-
heim den Applaus in der Stadthalle entgegen. FOTO: ARNE DEDERT/DPA
110 Euro mehr
für die Pflege
Aktuelle Daten der Ersatzkassen
belegen Anstieg der Heimkosten
Grundrente beschlossen
„Ein neuer Tag in Absurdistan“
Der Verzicht von Christine Lieberknecht, die Übergangsregierung in Thüringen zu führen, bringt die CDU in die Bredouille

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