Süddeutsche Zeitung - 20.02.2020

(Sean Pound) #1
interview: tobias zick

SZ: Es gab spektakuläre Neuigkeiten: Die
Präsidenten von Kosovo und Serbien prä-
sentierten bei der Münchner Sicherheits-
konferenz ein neues Abkommen; es soll
neue Eisenbahn- und Autobahnverbin-
dungen zwischen den Ländern geben. Ein
Durchbruch zum dauerhaften Frieden?
Premier Albin Kurti: Was da unterzeichnet
wurde, ist eine Absichtserklärung, ohne
viele Details. Sicherlich brauchen wir mehr
Straßen und Eisenbahntrassen. Aber die
Verhandlungen wurden noch unter unse-
rer Vorgängerregierung geführt, wir waren
nicht beteiligt. Ich habe Vorbehalte, unter
anderem in der Frage, ob die Finanzierung
verfassungsgemäß wäre.

Sie haben das Abkommen, das Ihr Präsi-
dent gerade unterzeichnet hat, gar nicht
zu Gesicht bekommen?
Die finale Fassung habe ich nicht gesehen.
Weder der Minister für Infrastruktur noch
ich als Premierminister haben der Unter-
zeichnung zugestimmt.
War das also ein letztes Aufbäumen der al-
ten Eliten, gegen die Sie die Wahl gewon-
nen haben?
Es sitzen immer noch einige mächtige Leu-
te in wichtigen Positionen, aber wir kön-
nen nicht zurückschreiten in die Zeit vor
dem 6. Oktober, als die Menschen für den
Wandel gestimmt haben. Kosovo und sei-
ne Menschen haben gezeigt, dass die Oppo-
sition die Regierung ablösen kann. Anders
als in einigen Nachbarländern.

Freuen Sie sich, dass Richard Grenell, der
Sondergesandte des US-Präsidenten, in
Ihrer Region so engagiert ist? Er stand als
Schirmherr dabei, als die Präsidenten ihr
Eisenbahn-Abkommen präsentierten.
Er hat neue Energie in den Dialog zwischen
Kosovo und Serbien gebracht. Ich denke
nicht, dass er per se schlechte Absichten
hat. Aber jetzt, da es in Kosovo eine neue
Regierung gibt, können solche Verhandlun-
gen doch nicht zwischen den Präsidenten
geführt werden.Das müssen die gewählten
Regierungen machen.

Sie sind gewählt worden mit dem Verspre-
chen, Korruption und „feudale Struktu-
ren“ zu bekämpfen. Wie viel kann eine Re-
gierung wirklich ausrichten gegen eine
solch tief verwurzelte Kultur?
Korruption ist mehr ein System als eine
Kultur. Daher bin ich optimistisch. Bei ei-
ner Studie vor zwei Jahren gaben nur
10 Prozent der befragten Familien in Koso-
vo an, sie hätten schon mal Schmiergeld
für eine öffentliche Dienstleistung bezahlt.
In einem unserer Nachbarländer waren es
34 Prozent. Die Korruption konzentriert
sich bei uns an der Spitze des Staates. Wir
brauchen dringend ein Auswahlverfahren
für Richter, Staatsanwälte und hohe Poli-
zeibeamte. Wir brauchen mutige Staatsan-
wälte, die berühmter werden als ich. Der Er-
folg hängt davon ab, ob wir einen kosovari-
schen Eliott Ness haben werden.
Skeptiker sagen: Schöne Absichten – aber
die Flitterwochen der Regierung Kurti
werden schnell vorbei sein ...
Es ist so einfach, Pessimist zu sein. Über
uns haben sie erst gesagt: Unmöglich, dass
die gewinnen. Dann: Die werden es nie
schaffen, eine Regierung zu bilden. Jetzt sa-
gen sie: Ausgeschlossen, dass die erfolg-
reich regieren. Ich werfe solchen Leuten
Faulheit vor. Mut heißt, sich nicht diesem
bequemen Pessimismus hinzugeben.

Ihre Wähler sind vor allem junge Leute.
Viele von denen aber wandern aus, weil
sie in Kosovo keine Perspektiven sehen.
Wie wollen Sie Ihre Wähler überzeugen,
zu bleiben?
Die Leute sind sehr frustriert, weil korrup-
te Politiker die reichsten Leute im Land ge-
worden sind. Die Wahl vom 6. Oktober war
ein Votum der Empörung – aber auch der
Hoffnung. Unsere Regierung wird die Jus-
tiz stärken, um Korruption zu bekämpfen,
wir werden Talente fördern, und den Ar-
beitsmarkt mit hochwertiger Bildung ver-
zahnen. Sicher werden weiterhin junge
Leute das Land verlassen. Aber wir werden
hart dafür arbeiten, dass auch welche zu-
rückkommen.

Was für Jobs wollen Sie konkret schaffen?
Mehr als 20 000 junge Frauen und Männer
haben Universitätsdiplome, aber keinen
Arbeitsplatz. Viele Kellner haben Abschlüs-
se in Soziologie oder Internationalen Bezie-
hungen. Wir brauchen ein duales Ausbil-
dungssystem wie in Deutschland, der
Schweiz oder in Österreich. Ich sehe große
Chancen nicht nur im IT-Sektor, sondern
auch im Energiesektor und in der Land-
wirtschaft. Die Hälfte unseres Landes wird
nicht bewirtschaftet. Auch wollen wir aus-
ländische Investitionen gewinnen, etwa
aus unserer Diaspora.

Länder wie Deutschland werben Fachkräf-
te vom Balkan ab. Wie wollen Sie diesen
„Brain Drain“ aufhalten?
Wir brauchen einen Mini-Marshallplan
für die westlichen Balkanländer. Wir brau-
chen gute Schulen, Krankenhäuser, eine
gute Kopplung von Bildung und Arbeits-
markt, um uns gegen die neue Auswande-
rungswelle zu wappnen, die größer ist als
während der serbischen Besatzung.

Solange Serbien Ihre Unabhängigkeit tor-
pediert, bleibt die Voraussetzung für ei-
nen Wirtschaftsaufschwung schwierig.
Es gab eine Umfrage unter Unternehmern
in Kosovo. Auf die Frage, was die größten
Hemmnisse für ihre Geschäfte sind, nann-
te die Mehrheit drei Hauptgründe: die
schwache Binnennachfrage aufgrund der
Armut. Die Schwierigkeit, an günstige Kre-
dite zu kommen. Drittens, die Korruption.
Sicher führt auch die fehlende Einigung
mit Serbien zu Zurückhaltung bei Investo-
ren – aber die anderen drei Gründe sind
entscheidender. Mit einer Entwicklungs-

bank, durch entschlossenen Kampf gegen
Armut und Korruption können wir unsere
wirtschaftliche Lage verbessern.
Wenn das Serbien auch so sehen würde ...
Ich bin nicht gegen einen Dialog mit Serbi-
en, aber er muss mit klaren Grundsätzen
geführt werden, die für beide Seiten ver-
bindlich sind. Serbien muss sich mit der
Realität abfinden: dass Kosovo ein unab-
hängiges Land ist. Und dass wir nicht in die
Zeiten von Milošević zurückkönnen. Je
eher sie das akzeptieren, desto besser für
beide Seiten.

Die Pläne für einen Gebietstausch entlang
der Grenze zwischen Kosovo und Serbien,
gegen die Sie sich vehement engagiert ha-
ben – sind die ein für allemal vom Tisch?
Das Projekt ist gescheitert, aber die Idee ist
nicht tot. Wir müssen auf der Hut sein. Der-
artige Landtausch-Lösungen würden die
Büchse der Pandora öffnen.

Sie zeigen sich zuversichtlich, dass Koso-
vo und die anderen Westbalkan-Staaten

bis 2030 Mitglied in der Europäischen Uni-
on sind. Welche Flagge wird dann 2030
über den Regierungsgebäuden in Pristina
wehen?
Ich denke, wir werden die europäische
Flagge sehen – und viel wichtiger: Wir wer-
den Leute sehen, die Arbeit haben, in Wohl-
stand leben und sich frei auf dem europäi-
schen Kontinent bewegen.

Und neben der blauen EU-Flagge mit den
gelben Sternen: Wird da die heutige Flag-
ge des Kosovo wehen, oder die albanische
mit dem Doppelkopf-Adler in Schwarz-
Rot? Sie haben immer wieder mit der Idee
eines Vereinigten Albanien sympathi-
siert, etwa auf Basis eines Referendums in
beiden Ländern. Würde man damit nicht
auch eine Büchse der Pandora öffnen?
Die Menschen wählen zu lassen ist etwas
anderes, als sich aufzuführen wie Generäle
im Ersten Weltkrieg, die sich über ihre
Landkarten beugen. Alles sollte auf friedli-
che, demokratische und transparente Wei-
se geschehen. Dann ist es in Ordnung.

Warschau –Der ungarische Ministerpräsi-
dent Viktor Orbán hat mit einem Brand-
brief Spekulationen über einen Austritt
der in Ungarn regierenden Fidesz-Partei
aus der Europäischen Volkspartei (EVP) im
Europäischen Parlament neue Nahrung ge-
geben. In einem „Memorandum über den
Zustand der EVP“ fordert Orbán einen
Rechtsruck der Partei. Die EVP solle neben
traditionell konservativen Parteien auch
„rechts und national orientierte Parteien
einschließen“ und Koalitionen mit rechten
Parteien schließen.
Orbán empfiehlt außerdem Allianzen
außerhalb der Europäischen Union, etwa
„mit den Türken, den Russen und selbst
den Chinesen“. Zudem seien US-amerikani-
sche Parteien, besonders die Republika-
ner, „unsere natürlichen Alliierten“. Orbán
fordert zudem wegen der angeblichen Auf-
gabe traditioneller konservativer Werte ei-
ne „interne Debatte über die künftige Mis-
sion der EVP“.

Zuletzt wurde in der EVP, welche die
größte Fraktion im Europäischen Parla-
ment stellt, allerdings eher über den Sta-
tus von Fidesz debattiert: Die von Orbán ge-
führte Partei hat in Ungarn Kritikern und
der EU-Kommission zufolge den Rechts-
staat und die Demokratie seit Jahren syste-
matisch demontiert. Im März vergange-
nen Jahres wurde die Mitgliedschaft von Fi-
desz in der EVP suspendiert: Die zwölf Fi-
desz-Abgeordneten im Europäischen Par-
lament gehören zwar weiterhin zur EVP-
Fraktion, doch sie dürfen ebenso wenig
wie Orbán selbst an EVP-Sitzungen teilneh-
men oder für Parteiämter kandidieren.
Die EVP beauftragte 2019 den Belgier
und ersten EU-Ratspräsidenten Herman
Van Rompuy, Österreichs früheren Bundes-
kanzler Wolfgang Schüssel und Hans-Gert
Pöttering, zuletzt Vorsitzender der Konrad-
Adenauer-Stiftung, über das weitere Ver-
halten von Fidesz zu berichten. Fortschrit-
te hatten sie im Januar nicht zu vermelden:
Im Gegenteil regiert Fidesz unter Orbán zu-
nehmend autoritär und trieb zuletzt die
vom US-Milliardär George Soros gegründe-
te Central European University aus dem
Land.
EVP-Abgeordnete wie der Finne Petri
Sarvamaa fordern den Ausschluss von Fi-
desz. „Fidesz ist eine korrupte, nationalisti-
sche, populistische Partei unter Kontrolle
eines Muskelmanns“, der mit EU-Geld sein

„zunehmend autoritäres Regime“ festige.
„Wir müssen schnell handeln, um sie aus-
zuschließen“, plädierte Sarvamaa im Info-
dienstPolitico.Auch Van Rompuy soll dem
neuen EVP-Vorsitzenden Donald Tusk ge-
raten haben, Fidesz auszuschließen.
Doch dafür gibt es innerhalb der EVP bis-
her keine Mehrheit. Französische, spani-
sche, italienische und auch etliche deut-
sche Christdemokraten sollen dagegen
sein – nicht aus Sympathie mit Orbán, son-
dern weil sie eine Schwächung der EVP
durch konkurrierende Gruppen im Euro-
päischen Parlament befürchten. So gab
Tusk am 3. Februar lediglich bekannt, die
Mitgliedschaft von Fidesz bleibe auf unab-
sehbare Zeit suspendiert.
Bereits bevor die Suspendierung verlän-
gert wurde, hatte Orbáns Vertraute, Fidesz-
Vizepräsidentin Katalin Novák, angekün-
digt, die ungarische Partei werde dies
nicht akzeptieren. Orbán selbst drohte
schon Mitte Januar damit, Fidesz werde
von sich aus austreten, weil die Mehrheit
der EVP Fidesz „verraten“ habe. Damals
hatten im Europäischen Parlament auch
die meisten EVP-Abgeordneten für eine Re-
solution gestimmt, die laufende Rechts-
staatsverfahren der EU-Kommission ge-
gen Ungarn und Polen unterstützt.
Orbáns Brandbrief stärkt nun die An-
nahme, dass er einen Austritt von Fidesz
aus der EVP vorbereiten könnte. In dem
„Memorandum“ schimpft Orbán, die EVP
applaudiere heute Fidel Castro und Karl
Marx und bekämpfe weder „die linkslibe-
ralen intellektuellen Kräfte und die Medi-
en, die sie beeinflussen und kontrollieren“
noch „die Sozialisten, die radikalen anar-
chistischen Kommunisten an die Regie-
rung helfen“. Zudem habe die EVP das tra-
ditionelle Familienmodell aufgegeben und
sei „in die Arme der Gender-Ideologie“ ge-
fallen.
Diese Philippika könnte auch von Po-
lens faktischem Regierungschef Jarosław
Kaczyński stammen. Tatsächlich ist der
Chef der nationalpopulistischen Regie-
rungspartei „Recht und Gerechtigkeit“
(PiS) Orbáns Verbündeter. Dessen autoritä-
res Regieren hat Kaczyński ausdrücklich
als Vorbild für Warschau bezeichnet.
Kaczyński und Orbán treffen sich seit 2016
regelmäßig, das letzte Mal am 7. Januar,
um „gemeinsame Handlungen unserer
Parteien in der europäischen Politik“ zu be-
sprechen. Kaczyńskis Vertrauter Ryszard
Legutko führt im Europäischen Parlament
die Europäische Konservative und Refor-
mergruppe (ECR) – eine mögliche neue Hei-
mat für Ministerpräsident Orbán und die
Fidesz. florian hassel  Seite 4

München– Vier Radiosender haben den
Prozess am Obersten Gericht von Malawi
live gesendet, mehrere Monate, an Ver-
handlungstagen stundenlang am Stück. In
Bussen des öffentlichen Nahverkehrs for-
derten Menschen die Fahrer auf, so berich-
ten es lokale Medien, das Radio anzuschal-
ten, wenn wieder Prozesstag war. Kurz vor
dem Urteilsspruch Anfang Februar wurde
ein Bankier verhaftet, weil er versucht ha-
ben soll, fünf Richter am Obersten Gericht
zu bestechen. Am Tag der Urteilsverkün-
dung blieben dann Schulen und Geschäfte
geschlossen. Die Besitzer befürchteten
Ausschreitungen, falls das Gericht zuguns-
ten der amtierenden Regierung von Präsi-
dent Peter Mutharika entscheiden sollte.
Die Juristen allerdings ließen sich nicht
kaufen und kamen einstimmig zu einem
nicht nur für Malawi historischen Urteil:
Wegen „systematischer und schwerer“ Un-
regelmäßigkeiten ist die Präsidentschafts-
wahl von 2019 ungültig. Wahlbögen waren
damals dilettantisch mit Tipp-Ex manipu-
liert worden. Die weiße Korrekturflüssig-
keit war in den 1950er Jahren erfunden
worden, um mit der Schreibmaschine ge-
tippte Fehler zu übertünchen.

Das Urteil sieht Neuwahlen innerhalb
von fünf Monaten sowie eine Verfassungs-
änderung vor, sodass nicht mehr die einfa-
che Mehrheit reicht, um Präsident zu wer-
den. Außerdem soll die Rolle der Wahlkom-
mission untersucht werden, an deren Spit-
ze die Juristin Jane Ansah steht. Im Pro-
zess war bekannt geworden, dass ihr, als
sie das Ergebnis verkündete, bestätigte Er-
gebnisse aus weniger als einem Drittel der
Wahllokale vorlagen. Sie sagte vor einem
parlamentarischen Ausschuss aus, sie se-
he nichts Falsches daran, dass ihre Kom-
mission die Wahlbögen akzeptiert hatte.
Schließlich seien die Ergebnisse nicht ver-
ändert, sondern nur „korrigiert“ worden.
Demonstranten fordern bereits ihren
Rücktritt, seit der Betrug bekannt gewor-
den war. Seit Tagen gehen Tausende des-
halb auf die Straße, doch Ansah, früher
selbst Richterin am Obersten Gerichtshof,
weigert sich, ihren Posten aufzugeben.
Es ist erst das zweite Mal in der Ge-
schichte des Kontinents, dass der Anfech-
tung einer Wahl stattgegeben wird. Das ers-
te Mal ist noch nicht lange her: Im Jahr
2017 erklärte der Oberste Gerichtshof von
Kenia den Sieg von Uhuru Kenyatta für un-

gültig. Er wurde zwar bei der nachgeholten
Abstimmung wiedergewählt, allerdings
war die Wahlbeteiligung dabei sehr gering.
Afrikaner auf dem ganzen Kontinent fei-
ern deshalb die Entscheidung des malawi-
schen Gerichts als mutig und das Urteil als
Sieg für die Demokratie. Oft stellen sich Ge-
richte eher hinter die mächtigen Staats-
oberhäupter, statt gegen sie. In der Demo-
kratischen Republik Kongo etwa bekräftig-
te das Verfassungsgericht im vergangenen
Jahr, dass Félix Tshisekedi die Präsident-
schaft gewonnen hatte – trotz etlicher Ge-
genbeweise.
In Malawi hingegen geht der Skandal
für den Präsidenten anders aus. Muthari-
ka war aus der „Tipp-Ex-Wahl“ als knap-
per Sieger hervorgegangen: Er gewann mit
38,6 Prozent der Stimmen, sein stärkster
Herausforderer Lazarus Chakwera lag mit
35,4 Stimmen dicht hinter ihm. Die Opposi-
tionsparteien behaupteten, Wahlurnen sei-
en bereits mit ausgefüllten Stimmzetteln
gefüllt gewesen. Chakwera weigerte sich,
Mutharikas Sieg zu akzeptieren und forder-
te seine Anhänger auf, am Tag der Amtsein-
führung auf die Straße zu gehen.
Der frühere Rechtsprofessor Mutharika
lebte mehr als 30 Jahre lang in den USA.
Von 2004 bis 2012 war sein älterer Bruder
Präsident, Bingu wa Mutharika. In dieser
Zeit begann Peter Mutharika seine Politi-
kerkarriere und bekleidete verschiedene
Ministerpositionen, seit 2014 ist er selbst
Staatsoberhaupt. Die Malawier protestier-
ten nicht erst seit der plump gefälschten
Wahl gegen ihn. Zwar sank die Inflationsra-

te während seiner Amtszeit, doch vielen
Malawiern fehlt es an Grundnahrungsmit-
teln und Stromausfälle sind die Regel.
Sogar sein eigener Vizepräsident warf
Mutharika 2018 Korruption vor, dabei war
er mit dem Ziel angetreten, die Vetternwirt-
schaft einzudämmen. Der Korruptionsin-
dex von Transparency International plat-
ziert das Land jedoch auf Rang 123 von 180
Staaten. Auf die Unabhängigkeit 1964 folg-
ten drei Jahrzehnte Einparteienherr-
schaft. 1993 wählten die Malawier zum ers-
ten Mal frei, doch die Vetternwirtschaft der
politischen und wirtschaftlichen Eliten ver-
hindert bis heute echten Fortschritt.
Zwar gilt das Urteil als Beweis für die Un-
abhängigkeit der Justiz und als Meilen-
stein im Demokratisierungsprozess, doch
der Betrugsskandal setzte dem Land in ei-
nem ohnehin harten Jahr zu. Erst wenige
Wochen vor der Wahl 2019 war der Tropen-
sturmIdaiauf die Küste Mosambiks getrof-
fen und hatte auch den angrenzenden Bin-
nenstaat Malawi verwüstet. Viele Kleinbau-
ern kostete der Zyklon die Ernte. Die frühe-
re britische Kolonie ist eines der ärmsten
Länder der Welt: Die Hälfte der 18 Millio-
nen Menschen lebt von weniger als 1,
Dollar am Tag.
Jane Ansah sagte, Neuwahlen seien des-
halb „zu kostspielig“. Mutharika nannte
das Gerichtsurteil einen „Justizirrtum“
und erklärte, es anfechten zu wollen. Doch
Dingiswayo Madise, Richter am Obersten
Gericht, lehnte den Antrag ab. „Demokra-
tie ist teuer. Bürgerrechte sind von größter
Bedeutung“, sagte er. anna reuß

Istanbul– Die juristische Hängepartie für
Peter Steudtner geht weiter: Der Prozess
gegen den Berliner Menschenrechtsakti-
visten, der 2017 nach einem Vortrag beim
türkischen Ableger von Amnesty Internati-
onal festgenommen wurde, anschließend
113 Tage in Untersuchungshaft saß und
dann ausreisen konnte, ist am Mittwoch
vertagt worden. Die restliche Anhörung
und die Urteilsverkündung setzte das Ge-
richt für den 3. April an. Bundestagsvize-
präsidentin Claudia Roth (Grüne) forderte
Freisprüche und sagte, das sei „kein Almo-
sen, sondern rechtsstaatlich geboten“.
Mit dem Prozess gegen Steudtner sollen
auch die Fälle seiner zehn Mitangeklagten
zum Abschluss kommen. Zu ihnen zählen
mehrere Mitglieder von Amnesty Internati-
onal in der Türkei, wie etwa der Ehrenvor-
sitzende Taner Kılıç. Der Rechtsanwalt war
im Juni 2017 in seinem Haus in Izmir fest-
genommen worden. Die Staatsanwalt-
schaft beschuldigte ihn der Mitgliedschaft
in der islamischen Gülen-Bewegung, die
Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan bei
seinem politischen Aufstieg lange als Part-
ner betrachtete. Nach dem gescheiterten
Putschversuch von 2016 machte die Regie-
rung Gülen jedoch als Drahtzieher verant-
wortlich und ließ Zehntausende Menschen
mit Verbindungen zu seinem Netzwerk ver-
haften. Auch Kılıç kam wegen des Vor-
wurfs, Gülen-Unterstützer zu sein, in Un-
tersuchungshaft. Einen Monat später
nahm die Polizei die zehn anderen Ange-
klagten bei einem Seminar auf der Insel
Büyükada vor Istanbul fest. Die Behörden
warfen ihnen vor, an einem geheimen Tref-
fen teilzunehmen.
Den am Dienstag erfolgten Freispruch
für den Kulturmäzen Osman Kavala durch
ein Istanbuler Gericht hat Erdoğan am
Mittwoch unterdessen heftig kritisiert. Er
nannte das Urteil ein „Manöver“ und ver-
glich die regierungskritischen Gezi-Protes-
te von 2013, die Gegenstand des Prozesses
waren, mit Putschversuchen und Terrorak-
ten. Vor der AKP-Fraktion im Parlament
sprach Erdoğan zudem von einer „irregelei-
teten Jugend“, die damals protestiert habe.
Widerspruch kam von einem seiner ehe-
maligen politischen Weggefährten. Den
früheren Präsidenten Abdullah Gül zitier-
te die Webseite der ZeitungKararmit den
Worten, er habe schon zu Zeiten der Gezi-
Proteste gesagt: „Ich bin stolz auf sie“. Ein
Sprecher Erdoğans kommentierte, dies sei
Güls persönliche Meinung.


In der Nacht zum Mittwoch war Kavala
nach dem Freispruch überraschend erneut
festgenommen worden. Die staatliche
Nachrichtenagentur Anadolu meldete, der
63-Jährige sei aus dem Hochsicherheitsge-
fängnis von Silivri, etwa 70 Kilometer west-
lich von Istanbul, formal entlassen wor-
den, aber dann zur Polizeidirektion der Me-
tropole gebracht worden. Dort werde er
festgehalten. Am Mittwochabend wurde
Kavala einem Haftrichter vorgeführt und
kam daraufhin erneut in Haft.
Der Istanbuler Anwalt Murat Deha
Boduroğlu, der Kavala in der Haft immer
wieder besuchte, sagte, dessen Ehefrau sei
am Boden zerstört. Sie war am Dienstag im
Gericht und hatte auf seine formelle Entlas-
sung gewartet. Nach dem Freispruch hat-
ten Hunderte Zuschauer in dem riesigen
Gerichtssaal des Hochsicherheitsgefäng-
nisses gejubelt, geklatscht und sich gegen-
seitig umarmt. Auch vor dem Gebäude fei-
erten viele das unerwartete Urteil.
Kavala saß mehr als zwei Jahre in Silivri
in Untersuchungshaft. Er war zuletzt der
einzige Inhaftierte unter den 16 Angeklag-
ten in dem Prozess. Acht weitere Beschul-
digte wurden von dem Vorwurf freigespro-
chen, sie hätten mit den Protesten 2013 die
verfassungsmäßige Ordnung der Türkei
und die Regierung stürzen wollen. Der
Richter fand die Beweise für eine Verurtei-
lung der Angeklagten nicht ausreichend
und folgte der Verteidigung. Der Europäi-
sche Menschenrechtsgerichtshof hatte
das genauso gesehen und bereits im De-
zember Kavalas Freilassung verlangt.
Am späten Dienstagabend wurde dann
eine Mitteilung des Istanbuler General-
staatsanwalts veröffentlicht, mit einer neu-
nen Haftanordnung. Hierin wird nun Kava-
la für den Putschversuch vom 15. Juli 2016
mitverantwortlich gemacht. Die Men-
schenrechtskommissarin des Europara-
tes, Dunja Mijatovic, erklärte, diese neuen
Vorwürfen seien nicht glaubhaft, und sie
rief die Türkei auf, die Unabhängigkeit der
Justiz zu wahren. sz  Seite 4


Orbáns Brandbrief


Ungarns Premier für Rechtsruck der Europäischen Volkspartei


Malawis Tipp-Ex-Wahl wird korrigert


Erst zum zweiten Mal in der Geschichte Afrikas annulliert ein Gericht einen Urnengang


Albin Kurti, 44, Chef der
linksnationalen Partei
„Selbstbestimmung“, ist
seit Anfang Februar
Kosovos Ministerpräsi-
dent. Zum Kampf gegen
Korruption sagt er: „Wir
brauchen mutige Staats-
anwälte, die berühmter
werden als ich.“FOTO: AFP

Blau, Gelb und Sterne: Zum Unabhängigkeitstag am Montag wurde die Hauptstraße von Pristina mit den Landesflaggen ge-
schmückt. Einige ihrer Elemente erinnern an die EU, und dort will das Land ja auch hin. FOTO: VISAR KRYEZIU / AP

DEFGH Nr. 42, Donnerstag, 20. Februar 2020 (^) POLITIK HMG 7
„Wir brauchen einen
Mini-Marshallplan“
Kosovos neuer Premier Kurti will mit Investitionen
die Abwanderungswelle der jungen Generation bekämpfen
Als das Gericht seine historische Entscheidung bekannt gab und die Wahl annullier-
te, feierten die Anhänger der Opposition in den Straßen. FOTO: AMOS GUMULIRA/AFP
Orbán bereitet womöglich
mit seinem Brief den Austritt
von Fidesz aus der EVP vor
Der deutsche Menschenrechtsaktivist Pe-
ter Steudtner saß 113 Tage in türkischer
Untersuchungshaft. FOTO: M. KAPPELER/DPA
Die Wahlleiterin gab das Ergebnis
bereits bekannt, als erst ein Drittel
der Stimmen ausgezählt war
Prozess gegen
Steudtner vertagt
Urteil in Türkei am 3. April erwartet.
Erdoğan geißelt Justiz im Fall Kavala

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