Frankfurter Allgemeine Zeitung - 20.02.2020

(Darren Dugan) #1

SEITE 10·DONNERSTAG, 20.FEBRUAR2020·NR.43 Literatur FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG


D


as überleben sie nicht, jeden-
falls nicht beide, da istman
sichals Leser gleichsicher:
Schon aufdenerstenSeitendes
schmalenRomans „Ein Ehebruch“ deutet
Edoardo AlbinatiAbgründe und Ängste
vonClementina und Eraldo an, die jede
Unternehmung seiner beiden Hauptfigu-
renüberschatten in den zweiTagenauf ei-
ner spätsommerlichenUrlaubsinsel mit
viel Sexund wenig Schlaf.
Das Schwimmen im offenen Meer,bei
demeraufeinmal Angsthat,zuertrinken,
die Mahnung eines Tischnachbarnauf der
Restaurantterrasse, sichvorzusehen, die
draufgängerische Fahrtmitde mMotorrol-
ler auf dengewundenenKüstensträßchen,
dieRückfahrttrotzSturmwarnung:irgend-
wann, so ahnt man, müsstedas Unglück
seinen Lauf nehmen,müssteetwas passie-
ren, das sdie Affäreder beidenWochen-
endtouristenzumindestauffliegen lässt,
durch eineauchäußerlichsichtbareVerlet-
zung,womöglicheinen Todesfall. Stand
nicht ein Gewaltverbrechen imZentrum

vonAlbinatisRoman „Die katholische
Schule“, knapp 1300 Seitenstark, mit dem
der AutorimHerbst2018 fürFuroresorg-
te?In„EinEhebruch“gehörteszurdiskre-
tenKunstdes italienischen Autors,mit
der Er wartung einerKatastrophe zu spie-
len,wie es auchzurKunstgehört, dieKör-
per der beiden und alles,waspassiert,
nachdem sie einander wieder einmal die
KleidervomLeib gerissen haben, so unin-
spiriertzubehandeln, dassman es nur als
Desinteresse lesenkann: Darum scheint
es Albinati nicht zugehen.
Selbstwas die beiden miteinander erle-
ben, wo sie essen,wo sie entlangspazieren
oder wie sie einanderkennengelernt ha-
ben, erzählt Albinatifast pflichtschuldig,
wenn auchnicht unelegant:Ernutzt es als
Folie dessen,wasihn tatsächlichander
Konstellationzureizen scheint,imliterari-
schen Sinn zureizen scheint–der peni-
blenAusleuchtungundAusmalung desIn-
nenlebens seinerbeiden Figuren.
„Ichbin es ein bisschen leid, Gefühle zu
haben“, sagt Clem einmal am ersten
Abend, alsgerade ihr Mann, der sie auf ei-
nem Kongres swähnt, angerufen hat und
ihr imRestaurant überraschend dieTrä-
nen gekommen sind. Dabei hat sie sich
schon mit fünfzehnvordem Spiegel zuge-
flüstert,dasssie nie einemganz gehören
werde.Waswill siehier—mehr,alssie ver-
kraf tenkann? Der Grund,weshalb sie
sichinErriverliebenkönnte, wohl bereits
verliebt hat, istinAlbinatisKonstruktion
zugleichdas, wassie an ihm niegeliebt
hätte: seine Entschlusslosigkeit. Einen

ängstlichenDraufgängernenntihnderEr-
zähler an andererStelle, einenkopflosen
Logiker,„ein mit Beschränkungen, alber-
nen Verstocktheiten,Befürchtungen und
ZögerlichkeitenderartüberladenesIndivi-
duum, dassereine ihm offenbar innewoh-
nende übermenschliche Kraftaufbringen
musste, um sein neurotisches Schnecken-
haus zuverlassen“.Wieanziehend!Im-
merhin istes das, was„die gefährlichste
SeiteinClemsPersönlichkeitzumSchwin-
genbrachte: den brennendenWunsch,
sichzuverlieren“.Viel mehrvermag der
Erzähler über sie nicht zu sagen:Wenn es
um ihrenÜbermutgeht, ihren Hang zur
Dramatik,zur Au sschweifung, ihr kindli-
chesWesen,gehtesdarum,wasErriin sei-
nerGeliebtensieht.ÜberhauptkommtAl-
binati dem Mann näher als derFrau: Ihn
scheint er besser zuverstehen, ihnvermag
er psy chologischfeiner zu zeichnen.Und
dochbleibt das,wasErrivon Clem will,
wie auchdas, waserdafür anWider-
sprüchlichkeit, an Schmerzauszuhalten
bereit ist,vergleichsweise beschränkt.
Aufseine Artist „Ein Ehebruch“ eine
Komplementärgeschichte zu denen aus
MilanKunderas frühem Erzählungsband
„Das Buchder lächerlichen Liebe“: Hier
wie dortbringt der AutorseinFiguren-
paar in eine Grenzsituation, um diese
dann aus ihrer und aus seiner Sicht zu er-
gründen. In „FingierterAutos topp“ führt
KunderaeinspontanesSpielamerstenUr-
laubstag,sozutun,alshabesiesichalsUn-
bekannteinseinem Wagenmitnehmen
lassen, inKoketterie und Obszönität, in

ein Befremden, das die Liebe der beiden
vielleicht für immer beschädigt.
Bei Albinati sind sichdie Figurenvon
vornhereinfremd,undsiehabenAngstda-
vor, die gemeinsame Beziehungkönnte
sichweiterentwickeln. So fremd istihm
Clem, lässt AlbinatiErrieinmal denken,
„wie ein in denFelsen gehauener Götze“.
IhreBeziehung hat ausdrücklichkeinen
Sinn, darinliegt für dasPaar ihr eLeichtig-
keit, ihrgroßer Reiz. Jedeversucht eVer-
bindung derbeiden miteinander,jedes tie-
fere Kennenlernen undVerständnis be-
schwerte sie bloß—und is tzugleic heine
Versuchung, mit der beide in ihrem Ent-
schluss, diese Affärenicht ihrFamilienle-
ben gefährdenzu lassen, auf ihreWeise zu
kämpfenhaben.
Genaudarin liegt jenereizvolle Span-
nung in Edoardo AlbinatisRoman „Ein
Ehebruch“: Clementinaund Eraldobe-
gegneneinandertunlichstauf der Ober-
fläche.Undder Autor beschäftig tsich
aufkunstvolle Weise mit dieserOberflä-
chesooberflächlic hwie nur irgend mög-
lich. FRIDTJOF KÜCHEMANN

Ein S chatz is tgehobe nworden, derlange
in de rNew York Public Libraryverschlos-
senwar:StefanGeorges Briefe an seinen
Geliebten undFreundErnst Morwitz. Zu-
sammen mit Briefen, die Morwitzvon
1905 bis1933anden Dichtergeschrieben
hatund die imStefa nGeorgeArchivseit
langem zugänglichwaren ,sind nunbeide
BriefcorporaineinemstattlichenBandver-
eint,heraus gegeben vonUte Oe lmann und
Carola Groppe.
SiehabeninderZeit,dieseitder„Entde-
ckung“derGeorge-Brief eimJahr2012ver-
gangen ist, mit der Editioneine großarti ge
Leistung erbracht.EineFülle neuer Er-
kenntnisse wird erschlossen über diePer-
son Georges, seinen Kreisund dieRolle,
die Er nstMorwitz daringespielt hat.Weit
umfassender alsinBriefwechseln Georges
mitanderen, ihmeben falls Nahestehen-
den,wirdhierdieEntstehungundEntwick-
lung des Kreiseszum „S taat“, al swelcher
er vomDichter selbstund dessen Jüngern
überhöht wurde,erkennbar.Insofer nkann
man vondiesem BandzuRecht als einem
„Staatsbuc h“ desGeorge-Kreises spre-
chen.
Es umfasst 320 Briefe,Postkar tenund
Notize nGeorgessowie 225 Briefeund an-
dere Schriftstücke, darunter auch zahlrei-
cheGedichte,vonErnstMorwitz.Ausman-
chen Textzusammenhängender Briefeist
zu schließen, dass es so wohl vonGeorge
wievon Morwitz nochmehrSchreiben ge-
geben haben muss,die nicht überliefert
sind.DieBriefeGeorges haben ihre beson-
dere Geschichte:Morwitzsah sic hals Jude
1938 zur Emigration in dieVereinigten
Staaten gezwungen.SeinenBriefschatzhat-
te er vorder Ausreise seinemZöglin gund
Freund, dem SchwedenSven-ErikBergh
(1912 bis 2008), anvertraut,dem er das
Konvolut perDiplomatenpostvon Be rlin
nach Stockholm übersendenließ. Vondort
erhiel tMorwit zinseinem ExilortDur-
ham, NorthCarolina,die Briefeunver-

seh rt zurüc k. Er vermacht esie de mKura-
torfür griechische undrömischeKunstam
NewYorkerMetropolitan Museum, Diet-
rich vonBothmer (1918 bis2009),der ihm
seit dendreißiger Jahrenverbundenwar.
DieserübergabdieBriefederNewYorkPu-
blic Librarymit einer mancheGeorge-For-
sche rbeunruhigenden Sperrfrist,die zum
Glück im J ahr 2012aufgehobenworden
ist.
Einzi gartig an diesemNachlass istdas
vonMorwit zverfasste „Briefbuch“ imFo-
lioformat, in demerdie BriefeGeorges auf
derrechte nSeiteabgeschrieben,aufderlin-
kenSeitekommentiert underläutert,oft
auch zu datierenversucht hat.Zusätzlich
findensichdortkulturelleundsozial eIn-
formationen undGeschichten, Gedanken
über dieWelt, Philosophieund Li teratur
wie auchEinzelheiten zu Georges Lebens-
stil un dKlatschaus seinemUmkreis. Man-
cheKommentare undDatierungshinweise

sindsehr nützlich,mancheBemerkungen
führenjedoc hindie Ir re odersind schlicht
falsch. Wohl deshalbscheinen dieHeraus-
geberinnen dasBriefbuc hnur mit Zurück-
haltun gausgewertetzuhaben, manchmal
zu Unrechtdort, wo sie Morwitz’ Ausfüh-
rungen besservertraut un ddamit Fehler
bei de rDatierung derBriefeoderbei der
Identi fizierung vonPersonenvermieden
hätten. Jedenfallssinddie vierhundert eng
beschriebenen Seitendes Briefbuchs eine
Fundgrube fü rkünftigekritische Morwitz-
Biographen oder Arbeiter und Ar-
beiterinnen auf derDauerbaustelle der
George-Forschung.
Erns tMorwit zwurde am 13.September
1887inDanzi gals Sohn jüdischer El tern
geboren.DerVaterwarMakler vonGrund-
stücks-und Geldgeschäften. De rjunge
MorwitzbesuchteeinaltsprachlichesGym-
nasium inDanzig.Nachdem Toddes Va-
ters im Jahr 1902bezogerinCharlotten-

burg bei Berlin da shumanistischeKaise-
rin-Augusta-Gymnasium, an demer
dasAbitu rbestand. Erstudier te Jura in
Freiburg,Berlin und Heidelberg.Nachden
juristischenExaminawurdeerimJuli
in Heidelberg promoviert.ImErstenWelt-
kriegdienteeralsfreiwilligerKrankenpfle-
gerander Front in Flandern.Nach 1918
machteeramobersten preußischen Ge-
richtKarriere. Seine Stellung als Kammer-
gerichtsrat verlorer1935aufGrundderan-
tisemitischenBestimmungen des„Reichs-
bürgergesetzes“ .Kurzvor de mNovember-
pogrom1938gelang ihm dieAusr eisein
die VereinigtenStaaten .Dortwar Mo rwitz
von1939anzunächstanderDukeUniversi-
ty in Durham,North Carolina,seit 1942
dann als Sprachlehrer an der University of
NorthCarolina in Chapel Hilltätig. 1947
wurde er amerikanische rStaatsbür ger. Die
BundesrepublikDeutschlandernannt eihn
im Zuge der„Wiedergutmachung“ 1952
rückwirkendzumJahr1940zumSenatsprä-
siden tendes Kammergerichts.Dadur ch
materiel labgesi chert,konnte er 195 6seine
Lehr tätigkeitaufgeben, 1957 nachNew
York ziehe nund vondaannicht nurregel-
mäßigind en Sommermonaten Europa be-
suchen,sonde rn auch sein ebedeutenden
Kommentarezum Werk Stefan Georges
verfasse nund veröffentlichen.Morwitz
starb1971 im schweizerischen Muralto, im
selbe nKrankenhauswie seinFreundund
geliebter MeisterGeorge.
DieBeziehungunddamitderBriefwech-
selzwischen beidenbegann 1905,als der
sechzehnjährigeGymnasiastdem sieben-
unddreißigjährigenDichtereineigenesGe-
dicht zu rBeguta chtung schickte, begleitet
voneinem Brief,der so begann:„Herr!Ich
ehre Sie, ic hehreIhreWerke,ich ehr’die
Dichter, die auchSie verehren .Sie sind
meinVorbild ,Sie und MeisterVerhae-
ren. ...“ George antwortete„in freundli-
cher geneigtheit“ mit der Bitte um weitere
Lyrikproben.Dre iMonate später–Geor ge
redete Morwitzinzwischen mit „lieber

Dichter“ an undMorwit zGeorgemit
„mein Meister“ –wurde derSchüler von
George indas AtelierMelchiorLechtersbe-
stellt,auf He rkunftund Charaktergeprüft
–und fü rgut befunden.Esentsteht,zu-
nächst brieflich, einezunehmende Ver-
trautheit,aus de nfolgenden Begegnungen
eine stürmis cheLiebe, die sich in späteren
Jahren zur unerschütterlichen Freund-
schaf twandelt.ImKreisgalterals„dergro-
ße Ernst“ oder„Groß-Inquisitor“, Letzte-
reswegen seinesUrteilsvermögens in Be-
zugaufMenschenunddichterischeProduk-
tionen.
Natürli ch stehtdie Liebes- undFreund-
scha ftsbeziehungvonGeorge zu Mo rwitz
im Vordergrund dieses Briefwechsels. Des-
sen Bedeutung liegtaberauchdarin ,dass
hier fürGeorgewichti ge Beziehungen zu
anderenPersonendes Kreisesschärferge-
zeichnetwerde n. VonMitteder zwanziger
Jahre an, al sMorwit zaus de mZentrum
desKreisesmehrundmehrandenRandge-
drängt wird, bekommen dieBriefezuneh-
mendgeschäftlichen Charakter.George
nimmt immeröfterdie jur istischen Kennt-
nisse undlebenspraktischen Fähigkeiten
seinesFreunde sinAnspruch.Soerledigt
diese rweitgehend dieSteuerangele genhei-
tendes Dichters. Morwitz berät ihn auch
mit großerGeduld in den zähenVerhand-
lungen mit demVerleger GeorgBondi
(186 5bis 1935), demGeorgemisstraut.
Die Briefe derdreißiger Jahredrehensich
vorallemumdieEr richtungeinerStiftung,
indi eGeorgedieRechte an seinenWerken
undamNachla ss einbringen will.Auch
hierbeistehtMo rwitzihmjuristisch zurSei-
te,zusammenmit dem späterenErbenRo-
bertBoehringer.
Als Besonderheit derhier veröffentli ch-
tenBriefeGeorgesheben dieHerausgebe-
rinnen denUnterschiedzuden bekannten,
knappen,forma lstrengen Briefenetwa in
den Korrespondenzenmit Friedrich Gun-
dolf, Friedric hWolters oderKarlund Han-
na Wolfskeh lhervor. Siediagno stizieren

einefür GeorgeungewöhnlicheEmotiona-
lisie rung, Poetisierungund Verinnerli-
chungder Briefsprache, die sichauchin
der Form undimSchriftduktu swiderspie-
geln.
In jün gererZeitist auffragwürdig eWei-
sevondenneubekanntgewordenenSexual-
praktiken undVergewaltigungenimKreis
des Amsterda merCastrumPere griniauf
die R olle des„pädagogischenEros“ im
Geor ge-Krei srückgeschlossen worden.
Der„Gründungsmythos“ des CastrumPe-
regrini wardie Fiktion, eineauthentische
Nachfolgegemeinschaftdes George-Krei-
ses zu sein.VordiesemHinter grundsind
die breitenAusführungender Herausgebe-
rinnen zu Freunds chaft, Liebe, Eros,Pädo-
philie,Pädagogik undzuvermuteter,aber
nicht belegbarer sexualisierterGewaltim
Geor ge-Krei szusehen. Ob diesekritische
tour d’horizon durchdie Problemfelder
Entsc heidendes, Neues und überVermu-
tungenHinausgehendeszumThemaSexua-
lität imGeorge-Kreishergibt undmanches
GemunkelindieserHinsichtzumVerstum-
menbringen wird,musssichzeigen.
DasBuchistdasResultatmühevollerAr-
beit, die die beidenHerausgeberinnen mit
Bravourgeleis tethaben ,trotz einiger sinn-
ents tellenderFehler .Dassder Verlag ei-
nem derartwichti genBucheinen so schä-
biggedruc kte nBildteil beigibt, istunver-
zeihli ch.Esänder tabernichts an derBe-
wunderung, die dieses Buchverdient, und
ande mVergnü gen, dasseinStudiumberei-
tet. ECKHARTGRÜNEWALD

Minsk zu Beginn des 21. Jahrhunderts.
Zwei Menschen begegnen sichauf dem
Haus flureinesMietshauses:derdreißig-
jährig eAlexander,der gerade neu ein-
zieht, und seine Nach barinTatjana,
über neunzig Jahre alt undvonden An-
fängen der Alzheimer-Krankheit er-
fasst. Der jungeMann wehrtsichzu-
nächs tgegen dieAufdringlichkeit sei-
ner Mitmieterin, aber dann wirder
dochindie persönliche und politische
GeschichtederSowjetunionim20. Jahr-
hunderthineingezogen.
„Man darfkein neues Leben anfan-
genund dabei das altevergessen“ heißt
es programmatischimRoman.Der
weißrussischeAutorSasha Fili penko,
geboren 1984 in Minsk,schreibt auf
Russischundlebt heutemitseinerFami-
lieinSanktPetersburg.DieLiteraturno-
belpreisträgerin Swetlana Alexije-
witschzollt ihm gewichtiges Lob:
„Wenn Sie wissenwollen, wasdas mo-
derne, jungeRussland denkt, lesen Sie
Filipenko.“Vier Romane desAutors
sind bisher erschienen, nun istder er ste
aus dem Jahr 2017vonRuth Altenhofer
ineindringlicherundklarerSprache ins
Deutsche übertragenworden.
DiealteDame Tatjana erzähltdem
jungen Alexander ihreLebensgeschich-
te,die sic hwie eine Blaupauseauf die
Geschichteder Verfolgten im sowjeti-
schenRus slandliest. Worandie Men-
schenrechtsorganisation ‚Memorial‘ seit
über dreißig Jahren arbeitet, dieUnter-
drückungsgeschichte desLandes nicht
in Vergessenheitgeraten zu lassen und
eine Erinnerungskultur zu pflegen, das
istauchdas Thema dieses ungewöhnli-
chen Dialogs oder bessergesagt Mono-
logs einer Gezeichneten, die denJungen
erzählenwill,welche Stemp eldas Leben
ihrer Generation aufgedrückthat. Aus-
gangspunkt isteine Geschichte, auf die
der Autordurch Zufall durch einen Ar-
chivaraufmerksamgemachtwurde:Brie-
fe des GenferRoten Kreuzeswährend
desZweitenWeltkriegsandieSowjetuni-
on, in denen das Menschenrechtskomi-
teeversucht, Gefangenenlistenmit Mos-
kauauszutauschen, um dieSchicksale
der Kriegsgefangenen zu erleichtern.
Moskau antwortetnicht, verweiger tjede
Auskunf t. Au ßenministerMolotowist
zu keinerleiKompromis soder Erleichte-
rung der Häftlingsbedingungen bereit.
Diese Dokumentefindetder Autor
nicht in Moskau,wo solchePapiereseit
WladimirPutinlängstwiederunter Ver-
schlus ssind, sonderninGenf, wo das
damaligeRoteKreuz vonjeder Korre-
spondenz eine ArtProtokoll der Mos-
kauer Reaktionen auf jedes nachMos-
kaugeschickteDokument angelegt hat.
Dieses Material warder Ausgangs-
punkt fürFilipe nkos Roman über den
Umgang mitderVergangenheitunddas
Nach denken,warumsoviele Schicksa-
le zer stört worden sind.
DieRomanfigurTatjanawirdwäh-
renddesKriegesSekretärinbeimAußen-
ministerium und bearbeitet in dieser
Funktiondie Genfer Gefangenenlisten.
Aufeiner dieser Listenaus Rumänien
steht auchder Name ihres Mannes.Da
in der Sowjetunion alle russischen
Kriegsgefangenen alsVerrätergelten,
löscht sieden Namen ihres Gatten und

wiederholt denNamen des Gefangenen,
der davorauf der Liste steht.Tatjana
weiß wohl, welche Konsequenzen diese
FälschungzurFolgehabenwird; siewar-
tetdarauf ,dasssie festgenommen wird,
es passiertnichts. Erst nachEnde des
Kriegs wirdsie inhaftiertund musszehn
JahreimLager einsitzen. Das Denken
an ihr eTochter ,der sie entrissen wurde,
als diese neun Jahrealt war, hält sie am
Leben.Als Tatjana schließlichentlassen
wirdund sic hauf die Suche nachihrer
Tochtermacht,erfährtsie,dassbereits
1946, einJahr nachihrer Inhaftierung,
die Tochter im Lagerverhunger tist.
Die Geschichtekennt keine Gnade.
Bei ihrenRecherchen er fährtsie auch,
warumund wie ihr Mann alsgefange-
ner Soldatvonden Sowjets ums Leben
gebracht wurde.Aufder Suchenach
ihmkommtTatjana zweimaldurch eine
Kleinstadt in derNähe vonPerm, auf
dem Marktplatzsteht eineramponierte
Stalinstatue mit einem proportional
viel zu kleinenKopf –eine bittereSati-
re auf dengroßen Diktator.Ein Einhei-
mischererklärt, sie hättenkeinen ande-
renErsatzkopf bekommen, also muss-
tensie mit der Miniaturvorlieb neh-
men. Beim nächstenMal trägt dieSta-
tue einen viel zugroßen Kopf, jetzt ist
Stalin aufgeblasen wie eh und je.
Geschicktverknüpftder Autordie
fiktiveGeschichtemit den Originaldo-
kumenten undtransponiertdasGesche-
hen in die Gegenwart.ZweiMenschen
kommen sichüber dieVergangenheit
näher;siewerdenimmervertrautermit-
einander.Die Schicksale so vieler Hin-

gerichteterund in denTodGetriebener
verknüpftdas Leben der unterschiedli-
chen Generationen.
Das rote Kreuz symbolisiertTatjanas
Geschichtemehrfach.Zuerst taucht es
auf, ins Holz des nachbarlichenTürrah-
mens gekratzt .Die alt eDame erklärt,
das habe sie angebracht, damitsie nicht
vergesse, wo sie wohne. Danntaucht in
ihrem Lebensbericht das GenferRote
Kreuz auf, das sie auf dieFährte ihres
verschollenen Mannes bringt.Wie ein
Menetekelsteht mitten auf einemFeld
im Niemandsland ein Kreuz, wind-
schief aus verrostete nRohrengebas-
telt, derWind pfeiftdurch das Gestän-
ge:„Das Kreuz sangvonVergangenheit
und Zukunft, vonTod undVerzweif-
lung, vonErinnerung und Versöh-
nung.“ EineWegmarke durch die wil-
den Pfade einer Existenz in der Dikta-
tur.Ein Jahr nachTatjanasTodlässt
AlexandereinenrotenGranitsteinferti-
genundbittetdenBildhauerumfolgen-
de Inschrift: „Geht mir bittenicht auf
den Geist“–das warenTatjanas letzte
Wortevor ihremTod, ein lakonischer,
bitter-ironischer Abschied. Siewollte
kein Mitleid. LERKEVONSAALFELD

Edoardo Albinati:
„Ein Ehebruch“.Roman.
Ausdem Italienischenvon
Verena vonKoskull.
BerlinVerlag,
Berlin/München 2019.
128 S.,geb., 20,– €

UteOelmann, Carola
Groppe (Hrsg.): „Stefan
George –Ernst Morwitz“.
Briefwechsel (1905–1933).
Walter de Gruyter,
Berlin 2019.
628 S.,Abb., geb., 99,95 €.

SashaFilipenko: „Rote
Kreuze“.Roman.
Ausdem Russischenvon
Ruth Altenhofer.
DiogenesVerlag,
Züric h2020.
288 S.,geb., 22,– €.

Über dem Mittelmeerkann selbstdas Abendlicht nochetwas Unheilvolles haben: DasPaar imRestaurant schaut lieber in dieKarte. Foto: Huber Images

Herr! IchehreSie, ic hehreIhreWerke


DerDichter schreibt an den Meister:ZumerstenMal is tder erhaltene BriefwechselvonStefanGeorge und ErnstMorwitzvollständig nachzulesen


ErnstMorwitz StefanGeorge Fotos Stefan George Stiftung,Stuttgart

VomWunsch, sichzuverlieren


In se inem Roman„Ein


Eheb ruch“ergründet


Edoar do Albinatidie


Spann ung zwis chen


Intimi tätund Fremdheit.


Gnadenlose Geschichte


Sasha FilipenkosRoman „RoteKreuze“

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